Dicker als dick

Ich hatte es ja schon befürchtet. Das dicke Brett ist richtig dick. Nachdem ich ja schon mit dem Direktor von Helenas Schule gesprochen hatte, war ich einigermaßen zuversichtlich, dass in naher Zukunft keine Missgeschicke mehr passieren.

Anfang Januar bekamen wir erstmal einen Verwarnungsgeld-Bescheid des Landkreises ins Haus: 35 Euro werden fällig, weil wir trotz des abgelehnten Freistellungsantrags Helena einen Tag eher in die Weihnachtsferien nahmen. Wir haben mit ihr ja einen Schwänz-Deal, bei dem sie ohne Rückfrage von mir eine Entschuldigung bekommt, damit sie keine unentschuldigten Fehlzeiten hat. Marie und ich halten das im Rahmen ihrer schwierigen Vorgeschichte für angezeigt – im Ergebnis schwänzt sie nicht mehr. Bis jetzt.

Merkwürdig war ja die Formulierung „trotz des abgelehnten Freistellungsantrags“, da weder Marie noch ich einen solchen gestellt hatten und auch keine Ablehnung bekommen haben.

Also habe ich mir Helena vorgeknöpft und sie gefragt, ob sie am letzten Schultag vor den Ferien in der Schule war. Sie nickte und verstand sofort, dass ich nicht ohne Grund fragen würde. Ich bohrte nach: „Du möchtest also keine von deinen Entschuldigungen haben? Der Deal gilt: Ich frage nicht weiter.“ – Sie antwortete: „Nein! Ich war da.
Ich habe doch sogar noch diese alberne Weihnachtsmütze beim Wichteln bekommen. Das weiß ich genau.“

Ich sagte: „Gut, ich vertraue dir da, und ich weiß, dass du mich nicht anlügst. Also schreibe ich der Behörde, die uns eine Strafe aufbrummt, weil du am letzten Tag nicht da gewesen sein sollst, dass sie sich irren und ich die 35 Euro nicht zahle. Oder meinst du, ich sollte sie einfach zahlen und dann wäre Ruhe?“ – Das sollte eine Brücke sein. Stattdessen fing Helena zu weinen an. Setzte sich zu mir auf den Schoß, lehnte sich an meine Schulter. „Ich hab nichts gemacht, okay? Ich bin in der Schule gewesen. Wirklich.“ – „Ja, Helena, dann haben die sich vertan. Ich schicke denen ne Mail, damit das nochmal überprüft wird.“

Seitdem haben wir nichts mehr von denen gehört oder gelesen. Ich bin gespannt. Und Helena fragt. Fast jeden Tag.

Gestern gab es Zeugnisse. Zeugnisse sind für Helena sowieso schon eine sehr große Sache, da das Stück Papier in Helenas früherer Pflegefamilie regelmäßig und systematisch dafür genutzt wurde, Helena als wertlos, dumm und behindert darzustellen und sie auszugrenzen. Dieses Verhalten hatten sich dann irgendwann wohl auch die in der Familie wohnenden leiblichen Kinder angewöhnt. Also ganz schlimm.

Am Abend vor dem Zeugnistag verschwand sie schon früh in ihrem Zimmer, wünschte uns auch schon früh eine gute Nacht. Nervös. Die meisten Noten sind besprochen, so dass es eigentlich keine Überraschungen mehr geben dürfte. Außer in Englisch, wo es große Probleme mit der Lehrkraft und ihrem Verständnis von Chancengleichheit bei körperlichen Einschränkungen gibt. Und genau das machte Helena Angst. Inzwischen brauche ich nur noch wenige Minuten bis sie sagt, was ihr auf der Seele liegt. „Helena, wir brauchen das gar nicht zu vertiefen. Du bist super gut in der Schule, besser als ich es in deinem Alter war. Und sollte es ernsthafte Probleme mit irgendeiner Note geben, weil sie ungerecht ist, dann können Eltern, auch Pflegeeltern, ein Zeugnis auch anfechten. Also nicht einverstanden sein und mit dem Direktor sprechen. Und alle Noten, die gerecht sind, sind in Ordnung. Auch wenn es eine 5 oder eine 6 ist. Das ist eine Moment-Aufnahme, wie ein Lehrer deine Leistungen einschätzt. Und Marie und ich haben dich mit einem Zeugnis voller Fünfer genauso lieb wie mit einem Zeugnis voller Dreier. Und Susi und Otto auch.“

Schon am Mittag des Zeugnistags bekamen Marie und ich eine Nachricht von ihr: „Mein Zeugnis ist super schlimm. Sowas hatte ich noch nie! Ich fühle mich wie ein Stück Dreck.“ – Marie und ich hatten uns die Arbeitszeiten schon extra so eingeteilt, dass den ganzen Tag jemand zu Hause ist. Falls sie früher kommt, falls sie abhaut … hat sie zwar alles noch nicht gemacht, aber wir machen uns ja unsere Sorgen. Ist einfach so. Als sie durch die Tür kam und mich in der Küche sah, breitete ich die Arme aus. Sie blieb wie angewurzelt stehen und hatte einen eisigen Blick im Gesicht. Guckte mich aus dem Augenwinkel an, sagte nichts. Fast schon beängstigend. Ich sagte: „Hey, du hast den Schultag hinter dir. Du bist wieder zu Hause. Lass dich in den Arm nehmen.“

Helena setzte sich auf meinen Schoß. Eiskalt war sie am ganzen Körper. Sie roch säuerlich, und einige Sekunden später erzählte sie mir, warum: „Jule, ich habe gespuckt. Auf dem Weg nach Hause. Das kam ganz plötzlich, ich habe mich gerade noch zur Seite gelehnt und dann habe ich auf die Straße gekotzt. Neben einen Gully. Eine Frau ist mit ihrem Auto stehen geblieben und hat mir Taschentücher gegeben und eine Flasche Wasser, damit ich mir den Mund ausspülen kann. Mir war schon den ganzen Morgen schlecht.“ – „Wollen wir uns kurz dein Zeugnis angucken, damit du diese Last von der Seele hast?“ – Sie nickte und holte das Giftblatt aus ihrem Rucksack.

Religion 2, Deutsch 3, Geschichte 1, Erdkunde 3, Spanisch 1, Biologie 1, Physik 1, Mathe 3, Kunst 3, Musik 2 und Sport 2. Hammer. Ich hatte, glaube ich, niemals vier Einser im Zeugnis. Schon gar nicht in Klasse 8. Noch dazu in solchen anspruchsvollen Fächern. Noch dazu auf gymnasialem Anforderungsniveau. Tja, der Aufreger war dann die Fünf in Englisch. Genau. In dem Fach, in dem die Lehrkraft konsequent ihren Anspruch auf Nachteilsausgleich ignoriert. Da sie in den schriftlichen Arbeiten eine 3 und eine 4 hatte (beides ohne Nachteilsausgleich, also Zeitverlängerung geschrieben) und ihr allgemein eine rege Beteiligung, viel Fleiß und eine strukturierte Arbeitsweise bescheinigt wird, möchte ich jetzt schriftlich begründet haben, wie diese Note zustande gekommen ist. Wir werden also notfalls einen Anwalt einschalten und das Zeugnis rechtlich anfechten, wenn nicht im ersten Anlauf eine verständliche Erklärung präsentiert oder eine sofortige Änderung vorgenommen wird.

Bisher habe ich Menschen belächelt, die sowas tun, weil ich immer der Meinung war (und auch immernoch bin), dass jeder Mensch die Beurteilung seiner Leistung akzeptieren muss. Und das neben allen objektiven Kriterien auch immer eine subjektive Komponente vorhanden ist. Aber, und ich entschuldige mich schon vorab für meine Wortwahl, es kotzt mich an, wenn ein offensichtlich benachteiligtes Kind einen Nachteilsausgleich zugesprochen bekommt (darüber gibt es einen schriftlichen Bescheid), eine Lehrkraft aus ignoranter Bequemlichkeit die Vorgaben missachtet und offenbar keine Skrupel hat, das verzerrte Ergebnis dann auch noch durch die Zeugniskonferenz zu prügeln. Ich bin sehr auf die Erklärung des Direktors gespannt, der sich der Sache ja bereits vorher annehmen wollte und – so sieht es für mich im Moment aus – diese (mutmaßliche Fehl-) Beurteilung nicht gestoppt hat.


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