Marie

Selbsternannter Alles

Da könnte man mal einen Tag ausschlafen. Einen Tag seit langer Zeit. Marie hat sich um Helena gekĂĽmmert, Helena war in der Schule und um halb neun bimmelte es an der HaustĂĽr. Einmal, zweimal, dreimal. Helena ist krank und sie hat ihren HaustĂĽrschlĂĽssel vergessen? Nee, ein osteuropäischer Mensch stand vor der TĂĽr und bat um Spenden. War angetrunken und erklärte: „Ich bin selbsternannter internationaler Menschenrechtler und selbsternannter Alles. Sie mĂĽssen mir Geld geben.“ Dann allerdings gerieten seine Gedanken aus der Spur: „Was hast du gemacht, sitzen im Rollstuhl. Unfall gehabt?“ – „Hören Sie, ich möchte nicht, dass Sie hier klingeln.… Weiterlesen »Selbsternannter Alles

Arbeiten, saunieren, reiten

Oh, ich darf mal atmen. Zwischendurch. Nur ein wenig. Nur ganz flach. Durchatmen wĂĽrde ich ja gar nicht verlangen. Das wird sowieso ĂĽberbewertet. Zum ersten Mal seit vier Wochen habe ich mal zwei Tage am StĂĽck frei. In meiner Klinik steppt der Bär, die ohnehin schon dĂĽnne Personaldecke ist, als die erste Atemwegs-Infekt-Herbstwelle sie aufschĂĽttelte, zerbröselt. Wie ein alter, staubiger Lumpen, der fĂĽnfzig Jahre auf dem Dachboden in der Sonne lag. Eigentlich mache ich eine Facharzt-Ausbildung, eigentlich habe ich keine Erfahrung, aber wenn ein ebenso frischer Kollege und ich nicht mehrere 24-Stunden-Schichten hingelegt hätten, hätten sie den Laden wohl schlieĂźen… Weiterlesen »Arbeiten, saunieren, reiten

Gewissen

Helena ist wieder da. Angeblich gab es nicht genĂĽgend Personal, um ihre RĂĽckfahrt zu organisieren oder durchzufĂĽhren. Und das Handy hat man ihr am ersten Tag abgenommen, weil beim Probewohnen und in den ersten vier Wochen generell kein Handy erlaubt sei. Helena ist Marie und mir um den Hals gefallen, als sie wieder da war, konnte es nicht abwarten, endlich (verspätet) in die Schule zu kommen, und fand das Wochenende schrecklich. Die anderen Jugendlichen seien einzeln ganz okay gewesen, aber ein völlig kaltes, rechthaberisches Klima, in dem es nur darum geht, der Coolste zu sein, herrschte in der Gruppe vor.… Weiterlesen »Gewissen

Nicht so gut

Manchmal gibt es auch bei mir Wochen, in denen gar nichts Besonderes passiert. Oder passieren besondere Dinge, die ich inzwischen gar nicht mehr als ungewöhnlich wahrnehme? Ich weiĂź es nicht. Ich fĂĽhle mich gerade irgendwie insgesamt ĂĽberfordert, ich möchte sogar behaupten: Es läuft gerade nicht so gut. Die letzte Woche war so beschissen, dass ich froh bin, dass sie endlich vorbei ist. Voller Hoffnung, dass die nächste Woche besser wird. Etwas zumindest. Das Jugendamt hat sich kurzfristig ĂĽberlegt, dass es doch schön wäre, wenn Helena sich an diesem Wochenende eine Jugend-Wohneinrichtung anschaut und dort im Rahmen eines Probe-Wohnens eine Nacht… Weiterlesen »Nicht so gut

Räuber-Essen

„Ich kann nicht schwimmen lernen, ich bin behindert“, sagte Helena vor etwas mehr als einem Jahr. Man hatte ihr ernsthaft eingeredet, dass ihre Cerebralparese, die verhältnismäßig leicht ausgeprägt ist, der Grund dafĂĽr sein sollte. Vor einem Monat hat sie ihr Seepferdchen-Abzeichen gemacht, also einen Sprung ins Wasser und anschlieĂźend 25 Meter schwimmen sowie einen Gegenstand aus schultertiefem Wasser heraufholen. In der letzten Woche hat sie ihren Jugendschwimmschein in Bronze gemacht, also das, was frĂĽher der „Freischwimmer“ war. Ich gebe zu, wir haben fleiĂźig geĂĽbt. Vermutlich wesentlich mehr als man mit anderen Kindern ĂĽbt. Aber sie hat es souverän geschafft, und… Weiterlesen »Räuber-Essen

FĂĽnf Tage

Meine ersten fĂĽnf Arbeitstage sind vorbei. Am Wochenende, an meinen ersten beiden Tagen, könnte man meinen, es war der Wurm drin. Selbst einfachste Dinge wie Telefonieren waren ein Problem. Ich musste ein freies Bett organisieren und habe alle in Frage kommenden Stationen angerufen. Nein, nirgendwo sei ein Bett frei. Also blieb der junge Mann zunächst auf einer Privatstation, wohin er erstmal von der Notaufnahme verlegt wurde. Zwei Stunden später höre ich, dass Betten frei waren. Angeblich hätte ich die Frage falsch gestellt: Ich hätte fragen sollen, ob sie einen Patienten unterbringen können und nicht, ob ein Bett frei ist, weil… Weiterlesen »FĂĽnf Tage

Ein Glas und dies und das

Sie hat es geschnallt. Beim dritten Anlauf. Helena kann sich im Wasser vom RĂĽcken auf den Bauch drehen und wieder zurĂĽck, kann ohne Hilfe auf dem RĂĽcken schwimmen und gewinnt mehr und mehr Vertrauen in das nasse Element. Bisher war ich immer in greifbarer Nähe und sie mochte auch nicht, dass ich mich weiter als zwei Meter im Wasser von ihr entferne, aber sie macht groĂźe Fortschritte. Womit bereits jetzt widerlegt wäre, dass sie wegen ihrer Behinderung nicht schwimmen könne. Papperlapapp! Ein fĂĽr mich sehr krasses Erlebnis hatten wir Sonntag beim Abendessen. Ich habe eine Reispfanne (mit Paprika, Tomaten etc.)… Weiterlesen »Ein Glas und dies und das

Unterste Schublade

An Verbesserungen gewöhnt sich der Mensch sehr schnell. Auch Stinkesocken gewöhnen sich sehr schnell an Verbesserungen. Und nehmen sie irgendwann vielleicht sogar als selbstverständlich hin. Zum Beispiel, wenn man zum Autofahren nicht mehr mit einem SchlĂĽssel hantieren muss. Als Rollstuhlfahrerin bin ich mit beiden Händen stets beschäftigt, da ist es eine enorme Erleichterung, wenn ich keinen SchlĂĽssel in die Hand nehmen muss, um ins Auto einzusteigen. Auch wenn mein allererstes Auto nicht mal eine Funk-Fernbedienung hatte, sondern ich noch mit dem SchlĂĽssel im TĂĽrschloss herumfummeln musste und mich irgendwann gewundert habe, dass mein SchlĂĽssel auch beim Auto nebenan passt, möchte… Weiterlesen »Unterste Schublade

Artgerecht

So viel, wie Marie und ich derzeit mit Behörden zu tun haben, habe ich bereits das GefĂĽhl, ich rolle fast schon weltfrauisch auf den Ă„mtern ein und aus. Sofern ich denn hinein komme. Ich hatte in dieser Woche einen Termin auf dem fĂĽr meinen Wohnort zuständigen Jugendamt, das nicht einmal barrierefrei ist. DafĂĽr geht es drinnen aber alles auch etwas gemĂĽtlicher zu als in jenem fĂĽr Helenas bisherigen Wohnsitz zuständigen. An der Information saĂź eine ältere Dame, ich schätze zwei Jahre vor der Rente. Sie geriet in Aufregung, als ich vor ihrem Fenster freundlich winkte und ihr, nachdem sie nach… Weiterlesen »Artgerecht

Mehr als eine Nacht

Am Montag war ich mit Helena schwimmen. Im Schwimmbad. Wir hatten ein Becken fast ganz fĂĽr uns alleine, wir hatten eine Badaufsicht fast fĂĽr uns alleine und wir haben im flachen Wasser angefangen. In RĂĽckenlage. Es hat einige Zeit gedauert, bis sie sich soweit fallen lassen konnte, dass sie sich flach in RĂĽckenlage auf das Wasser gelegt und ihre Arme ausgebreitet hat. Der schwierigste Punkt war, dass sie merken musste, dass das Wasser sie trägt. Dazu taucht in RĂĽckenlage der Kopf fast komplett ein, am Ende sind die Ohren unter Wasser und nur die Augen, die Nase und der Mund… Weiterlesen »Mehr als eine Nacht