Schlechte Welt

Ach, wie schlecht ist die Welt doch geworden. Sagt mein Nachbar, während er mit mir im Aufzug steht. In dem großen 30-Parteien-Mietshaus in meinem Studienort, in dem ich zurzeit wohne. Ich kenne seinen Namen nicht. Aber ich sehe, dass er Alkoholiker ist. Ich schätze sein Lebensalter auf 70 bis 75 Jahre, das Alter seiner Klamotten auf 30 bis 40 Jahre. Eine Strickjacke, deren Reißverschluss nur noch zu einem Drittel mit dem Rest der Jacke verbunden ist. Eine Jogginghose, dessen Polyester-Bestandteile sich zu einem Drittel bereits verflüchtigt haben.
Er weiß nicht, was ich studiere, und zeigt mir trotzdem seine Stauungsdermatitis. Möchte wissen, ob ich ihm dagegen Creme aus der Apotheke holen könne. „Irgendwas gegen juckende Haut.“

An ihm haftet ein Geruch, der einem die Luft zum Atmen nimmt. Er scheint es aber selbst nicht zu merken. Er habe Probleme mit seinem Radio. Früher habe es noch einen Hifi-Laden in der Nähe gegeben, inzwischen müsse man entweder online bestellen, womit er sich nicht auskenne, oder im Supermarkt einkaufen, womit er sich zwar auskenne, was ihn aber in den Wahnsinn treibe. Die dortigen Radios für 10 Euro hielten immer nur ein Jahr. Nun wäre es ja kein Ding, irgendwas für ihn in seinem Namen im Netz zu bestellen. Er müsste ja nur überweisen und die Ware annehmen. Aber daran scheitert es bereits: Zum Überweisen müsse er zur Bank, da er kein Onlinebanking habe und die Formulare nicht mehr klar sehen könne, und der Paketbote komme meistens um die Mittagszeit – und da liege er noch im Bett. Außerdem habe die Bankfiliale in der Nähe geschlossen und der Weg zur nächsten Filiale sei zu weit.

Und dann seufzt er nochmal, thematisiert erneut die schlechte Welt und seine Exfrau, die noch nach 20 Jahren Scheidung ständig neue Unterhaltsforderungen stelle. So viel Geld solle er zahlen, dass er sich nicht mal die Zähne sanieren lassen könne. Sagt er und lächelt mich an mit seinem Gebiss voller Baustellen. Und ich lächle zurück, wissend, dass alles andere sowieso nichts bringen würde. Und dann öffnet sich endlich die Aufzugstür.

Letzte Woche nun wird ein Mann in die chirurgische Aufnahme gebracht.
71 Jahre alt, habe selbst den Rettungsdienst gerufen, weil er über eine Telefonschnur gestolpert, auf dem Bauch gelandet und anschließend über 16 Stunden lang nicht wieder hochgekommen sei. Alles tue ihm weh, er sei
völlig erschöpft und zittrig. Eingekotet hatte er auch. Bierschiss. Auf den Kopf sei er nicht gefallen, sondern er habe das Gleichgewicht verloren, sich an der Türzarge abgestützt und sei dann langsam an ihr heruntergerutscht, weil ihn die Kräfte verlassen hätten. Direkt nach dem Stolpern. Oder so ähnlich.

Der Rettungsdienst habe die Polizei verständigt, um die Tür öffnen zu können. Die Wohnung sei völlig vermüllt gewesen, wohl keine verdorbenen Lebensmittel, dafür aber hunderte leere Wodkaflaschen und geschätzt zwei Containerladungen Verpackungsmüll, Altpapier und Lumpen. Als er mich sieht, sehe ich das Entsetzen in seinen Augen. Ich habe kein Problem damit, dass er nun weiß, wo ich arbeite. Aber ich glaube, er hat ein großes Problem damit, dass ich nun weiß, mit wem ich da unter einem Dach lebe. Obwohl ich das schon geahnt hatte. Sein Problem ist wohl, dass er sich seine Welt so baut wie es für ihn am günstigsten ist. Keine Verantwortung übernehmen, immer sind die anderen Schuld, immer gibt es eine Begründung, warum etwas nicht geht oder so übel sein muss. Und wenn die Begründung über 24 Ecken konstruiert und gesponnen werden muss. Diese Konfrontation hat ihm sichtbar die Sprache verschlagen.

Ich habe ihm gesagt, dass heute der Tag ist, an dem er entscheidet, dass es nicht so weitergeht wie bisher. Weil, wenn er es nicht entscheidet, hat die Polizei bereits den Sozialpsychiatrischen Dienst eingeschaltet. Ich könnte einen Vermerk machen, dass er seine Situation erkannt habe und sich freiwillig in Behandlung begebe. Wo man auch seine juckenden Beine in den Griff bekäme. Dagegen helfe nämlich keine Creme.
Wenn er noch ein wenig Stolz habe, dann würde er sich jetzt Hilfe holen und heute ein neues Leben anfangen. In dem er dann auch wieder ernst genommen wird. In dem er nicht nur alles versäuft und verschläft. Auch wenn er nicht mehr gut laufen könne, könne er doch nach wie vor gut mobil sein. Und er könne sich auch Hilfe holen für den Haushalt. Warmes Mittagessen, was auch immer.

„Meinen Sie wirklich, ich habe noch eine Chance?“, fragte er mich.

„Heute ja. Die letzte. Die letzte Chance, das noch selbst zu moderieren, bevor irgendeine Behörde sich in Ihr Leben einmischt. Es kann nur besser werden.“

Wohl habe ich mich dabei nicht gefühlt. Ich habe mich viel zu weit aus dem Fenster gelehnt. Am Ende gab es aber dennoch Lob von der Chefin.
Er ist jetzt seit fünf Tagen auf einer Entzugsstation. Ich wünsche ihm die Kraft, dass er das durchhält.

Und heute spricht mich doch glatt ein Nachbar an, im Haus werde gemunkelt, ich hätte die Behörden informiert, um meinen Nachbarn zwangsweise in die Psychiatrie einweisen zu lassen. Nur weil es im Treppenhaus riecht. Wie heißt es doch gleich unter Ärzten? Lasse reden?


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