Der Chef hat entschieden

Simone war diejenige, die auf diese eher abgefahrene Idee kam und mich heute ansprach, ob ich nicht am Wochenende mitkommen möchte ins Trainingslager nach München. „Ja ne, is klar…“, war meine spontane Antwort. Ich bin stationär im Krankenhaus und soll in ein Triathlon-Trainingslager mitfahren, noch dazu einmal quer durch Deutschland. Dass das nicht funktionieren kann, weiß sogar eine naive Stinkesocke.

„Och frag doch bitte, du bekommst bestimmt ein Wochenende Ausgang! Da
sind erwachsene Trainer dabei und da kann doch überhaupt nichts passieren. Ich komm auch mit und frage.“ Ich antwortete, dass es ein Unterschied ist, ob man nach monatelanger Krankenhausbehandlung für eine
Nacht nach Hause darf (was ich noch nicht mal in Anspruch genommen habe), oder ob man für drei Tage „Urlaub“ in Bayern macht.

Simone ließ nicht locker. „Komm, wir fragen die Stationsärztin. Fragen kostet nichts!“ Mir war das nicht recht, denn ich hatte die Befürchtung, die Leute halten mich für völlig abgedreht und viel zu naiv
für eine WG. „Du fragst. Ich frage nicht“, erwiderte ich entschlossen. Daran war nichts zu rütteln. Das versuchte aber Simone auch nicht, die war nämlich schon unterwegs. Ich kam kaum hinterher.

Sie klopfte an die offene Glastür und fragte: „Entschuldigung, darf ich mal was fragen? Ich fahre am Wochenende in ein Trainingslager für Schwimmen, Schnellfahren und Handbike, und da ist noch ein Platz frei, und ich wollte mal fragen, ob Jule da vielleicht mit darf.“ – „Und warum
fragt mich Jule nicht selbst?“ – „Weil sie Schiss hat, dass sie ausgelacht wird. Man fährt ja nicht jeden Tag vom Krankenhaus ins Trainingslager.“ Die Stationsärztin verzog keine Miene. „Ich darf nur für eine Nacht beurlauben. Wie lange geht das Trainingslager?“ – „Drei Tage, ein Wochenende.“ – „Das muss der Chef entscheiden. Fahrt hin und holt euch einen Termin.“

Simone düste vorweg. Bevor ich die Diskussion beginnen konnte, ob man
den Chefarzt einer Klinik mit solchem unwichtigen Zeug belästigen muss,
klopfte sie schon an die Tür zum Vorzimmer. Die Sekretärin sagte: „Der ist gerade unterwegs, aber er kommt gleich wieder. Fahrt doch schonmal rein.“ Und dann standen wir im Zimmer vom Chefarzt. Ledersessel, edler Schreibtisch, prall gefüllte Bücherregale, ein Blumenstrauß, eine große Schale mit Obst auf einem runden Tisch, … ich fühlte mich sau-unwohl. Das alles hatte eine sehr unheimliche Athmosphäre. Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken, bei dem Gedanken daran, den Chefarzt eines der besten Querschnittzentren weltweit um drei Tage Urlaub für ein Trainingslager zu bitten, von dem ich noch nicht einmal wusste, ob ich das überhaupt wollte.

Es gab keine Zeit mehr zu überlegen. Er kam rein. Ich kannte ihn bisher nur aus der Chef-Visite, die einmal wöchentlich stattfindet, da fragt er immer nur, ob alles gut ist, wünscht mir alles Gute und ist wieder weg. Ein paar Mal habe ich ihn über die Gänge toben sehen. Nun drückte er uns die Hand, fragte, was ihm die Ehre verschaffe. Ich dachte, Simone redet, Simone dachte, ich rede, rumgedruckse, peinlich… „Kein Grund für euren Besuch? Wolltet ihr nur mal mein Zimmer sehen? Oder habt ihr was angestellt?“

Dann fingen wir beide gleichzeitig an, hörten nach einer Silbe wieder
auf. Ich hasse sowas. Dann versuchte ich es nochmal: „Simone möchte gerne, dass ich mit ihr auf ein Trainingslager fahre.“ So ein Scheiß-Satz!!! Die Gegenfrage des Chefarztes war klar: „Und was möchten Sie?“ Ich überlegte einen Moment, dann stammelte ich mir zurecht: „Naja,
ich, ich weiß nicht, ich habe mir bislang, ich, Simone ist bisher die einzige, die glaubt, dass das funktioniert.“ Er fragte, wo das sei, wie lange, wer das leite, ob ich Lust dazu hätte. „Naja die Lust wäre schon riesig.“ Er griff zum Telefon. „Machen Sie mir mal bitte eine Verbindung
zum Kostenträger von der Patientin hier.“

Er nutzte die Wartezeit, um mich auszufragen, wie es denn weitergeht mit mir. Ich erzählte ihm vom Schulplatz, von der WG, … dann klingelte das Telefon. „Ja, es geht um eine Beurlaubung von mehr als einer Nacht. Integration in eine Sportgruppe, die machen da so eine Wochenendveranstaltung und Sie wissen ja, Sport ist wichtig, und die Patientin ist motiviert und wir würden das befürworten. Ja, Antrag kommt
dann. Ich danke Ihnen.“ Das waren keine 30 Sekunden. Als er aufgelegt hatte, sagte er: „Unter einer Bedingung: Ich möchte vorher mit dem Trainer sprechen und Sie überfordern sich da nicht. Wenn Ihnen was zu viel wird oder Sie mehr als ein paar Blasen an den Fingern bekommen, dann verbringen Sie den Rest auf der Bank! Das müssen Sie mir versprechen!“

Ich versprach. Bedankte mich höflich. Und verschwand. Ich hätte nie gedacht, dass daraus etwas wird. Ich war völlig verwirrt. Glücklich, aber verwirrt.

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