Chaos in der Nacht

 

Es ist gleich 15.00 Uhr und so langsam habe ich ausgeschlafen. War das eine Nacht! Eine weitere Nacht auf Hamburgs Straßen. Straßentraining im Rennrollstuhl. Selbstverständlich auf einer anderen Route, die ich allerdings nicht schön fand, da man zu sehr abgelenkt wurde. Die Elbchaussee, die wir beim letzten Mal entlang gefahren sind, war da schon entspannter.

Es begann auf einem Schulgelände in der Nähe des Tarzan-Musical-Theaters, ging dann über die Max-Brauer-Allee durch die völlig verwinkelten Straßen der Altonaer Altstadt, dann über die Schnackenburgallee, Elbgaustraße und Julius-Vosseler-Straße zum Hamburg Airport, einmal um den Stadtpark, durch die Ölcity zu einer Schule nach Wandsbek, insgesamt fast 27 km.

Da mein Rennrolli noch vom letzten Mal in einem Lagerraum einer Sporthalle stand, musste ich nicht abgeholt werden, sondern konnte mit einem Nachtbus zum Startpunkt fahren. Wenn das Training nicht dort endet, wo es beginnt, fährt man natürlich schlecht mit dem Auto, zumal ich auch noch nicht genau geklärt habe, welcher Sport denn offiziell zur „Therapie“ gehört. Denn ich darf mit dem Auto nur zur „Therapie“ fahren, aber nicht zum „Sport“. Und da das, was wir hier machen, eher Leistungssport als Therapiesport ist, bin ich da lieber vorsichtig. Die Mobilität, die ich durch das Auto bekomme, ist mir so heilig, dass ich nicht den leisesten Zweifel aufkommen lassen möchte, ob ich mich, was die Auflagen im Führerschein angeht, korrekt verhalte.

So erreichte ich also die Sporthalle und noch auf den letzten Metern fuhr Cathleen mit ihrer Mutter im Auto an mir vorbei. „Wir hätten dich doch mitnehmen können!“ Naja ging ja auch so – aber für das nächste Mal, wo wir etwas weiter entfernt beginnen, weiß ich es jetzt. Nach und nach trudelten alle Leute ein, unsere Rennrollstühle hatte man zum Teil schon am Nachmittag aus der anderen Halle hierher gebracht und in dieser Sporthalle eingeschlossen, die Tatjana nun endlich öffnete. Das übliche Klo-Ritual begann und bis dann der letzte endlich soweit war, war es schon kurz nach 3 Uhr.

Es war wesentlich kälter als beim letzten Mal. Ich hatte ein eng anliegendes Sport-Oberteil an und fühlte mich wie eine Wurst. Aber es wärmte etwas. Bis zur Schnackenburgallee, denn in Höhe der Shelltankstelle fing es plötzlich an zu regnen. Nein zu schütten. Es dauerte keine zwei Minuten und ich kam mir vor, als käme ich direkt aus dem Schwimmbad. Das Wasser von der Straße spritzte hoch, vorbei fahrende Autos sprühten Wasser über uns, kalte Rinnsale liefen unter meinem Helm im Nacken hinab und Cathleen, die hinter mir fuhr, rief: „Ach, ist das schön!“

Ein Stückchen vor der Autobahnbrücke bekamen wir den Funkspruch, auf den Radweg zu fahren, um unter der Brücke kurz halten zu können. „Zwei Minuten, während es so schüttet. Ich hoffe, es wird weniger“, sagte Tatjana, die völlig trocken aus ihrem Begleitbus stieg. „Nur nicht länger, sonst werdet ihr zu kalt.“ Ich nutzte den Stopp, um mich kurz aufzustützen und meine Sitzposition um 2,5 Millimeter zu verändern. Irgendwas fühlte sich unbequem an, obwohl ich in dem Bereich, der mir unbequem vorkam, eigentlich nichts merke. Dann meldete sich noch meine Blase. „Oh nee, nicht gerade jetzt“, dachte ich.

Simone nutzte den Stopp, um ihren Trinkhalm wieder richtig hinzudrehen. „Leute, das stinkt hier eklig“, sagte Yvonne. Ein paar Hundert Meter weiter war die Müllverbrennungsanlage. „Wollen wir nicht weiter? Ich glaube, es wird weniger. Außerdem werde ich gleich kalt.“ Gute Idee!!! Ich wollte so schnell wie möglich unter dieser hell erleuchteten Brücke raus. Die ersten setzten sich schon wieder in Bewegung.

Als wir alle wieder auf der Straße waren, merkte ich, wie schnell man auskühlt. Wir bekamen die Anweisung, erst langsam wieder das Tempo zu steigern. Als wir in den Rugenbarg abbogen, hatte der Regen etwas nachgelassen. Dafür war die Fahrbahn in einem unmöglichen Zustand. Die Spuren waren ausgefahren und in ihnen stand das Wasser, dort wo kein Wasser stand, war die Oberfläche so glatt wie Schmierseife. Kurz vor der Autobahnunterquerung passierte es: Yvonne musste schlagartig einem mehrere Zentimeter tiefen und mindestens esstellergroßen Krater ausweichen, geriet dadurch mit dem Vorderrad in das knöcheltiefe Wasser und begann zu schleudern. Cathleen und ich, die dahinter kamen, bremsten sofort mit den Hinterrädern, aber auf der glatten Straße war es wie eine Schlittenfahrt. Yvonne drehte sich wie ein Kreisel, klammerte sich am Rahmen fest.

Ich habe nicht gezählt, aber 15 Umdrehungen waren es locker. Dann stand sie endlich. Tatjana hatte direkt dahinter gelenkt, damit sie nicht noch unter ein Auto kommt. Es war zwar gerade keins unterwegs, aber den Zeitpunkt kann man sich ja nicht aussuchen. „Das ist so beschissen glatt hier, und dann noch solche Löcher in der Straße. Wäre ich da reingefahren, hätte ich mich nicht 100 Mal gedreht, sondern 200 Mal überschlagen.“ schimpfte Yvonne, setzte sich wieder richtig hin und zirkelte ihren Stuhl in die richtige Richtung. Die anderen beiden aus unserer Gruppe waren einige hundert Meter weiter am Straßenrand angehalten. Mein Herz raste vor Schreck. Und ich bepinkelte mich gerade.
Na lecker. Und auch nicht besser als unter der hell erleuchteten Autobahnbrücke.

Zum Glück war die komplette Aufmerksamkeit bei Yvonne. Tatjana war aus dem Auto ausgestiegen. Yvonne sagte aber, dass alles in Ordnung ist und wir weiterfahren können. An der Kreuzung Kieler Straße / Sportplatzring mussten wir bei Rot warten. Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen. Neben uns hielt ein aufgemotzter Dreier-BMW mit ein paar Halskettchen-Typen drinnen, die ihre bass-lastige Musik aufgedreht hatten. Ich bemühte mich, nicht hinzuschauen. Dann ging ein Fenster runter, die Musik wurde leise und ein Typ rief ausgerechnet mir zu: „Ey Bock auf ein Wettrennen?“

Ich rief zurück: „Na hast du denn auch getankt?“ und grinste ihn an. Er drehte sich zum Fahrer: „Digger haben wir getankt?“ Der Fahrer ließ den Motor aufheulen, kurz danach wurde grün und die Chaoten fuhren mit durchdrehenden Reifen los. Was für ein Gestank trotz der Nässe! An der Kreuzung Basselweg torkelte eine Gruppe Mädels auf der Straße herum und zwang uns, in die linke Spur auszuweichen. Auf Höhe des NDR kamen die Chaoten mit dem BMW nochmal von hinten und fuhren hupend an uns vorbei.

Unsere ersten Überholspielchen machten wir in der City Nord. Hier drehten wir noch einmal richtig auf und der jeweils Letzte musste immer die Gruppe überholen. So richtig Spaß, wie beim letzten Mal, machte es aber nicht. Es fing schon wieder zu regnen an. Ich kann nicht sagen, dass ich fror, aber so richtig warm war mir auch nicht. Außerdem pinkelte ich schon wieder. Auch wenn es widerlich ist, es lässt sich nicht ändern. Immerhin wurde ich nebenbei von oben geduscht.

Endlich erreichten wir unseren Zielpunkt. Der Vater von Simone stand mit seinem VW Bus auf dem Parkplatz und schlief. Tatjana schob uns einen steilen Berg hoch zu einem Hintereingang, der uns direkt zu den Duschen führte. Einen Duschrollstuhl für den Transfer gab es auch hier. Ich war die zweite. Yvonne saß schon nackt unter der Dusche und meinte: „Ich habe mich so auf eine heiße Dusche gefreut, aber das Wasser ist gerade mal lauwarm.“ Und es wurde auch nicht wärmer. Also haben wir alle lediglich den ganzen Dreck abgeduscht, uns einmal gewaschen, frische Sachen angezogen, Rennrollstühle eingeschlossen und ab nach Hause.

Als Tatjana mich zu Hause ablieferte, war es 10 nach 6. Ich freute mich auf eine heiße Badewanne. Meine Beine waren arschkalt, meine Füße Eisklötze. Ich kletterte vom Rollstuhl in die Badewanne. Jetzt bloß nicht ausrutschen um diese Zeit. Endlich war ich im Wasser. So eine angenehme Wärme! Eigentlich wollte ich mindestens eine halbe Stunde drinnen bleiben, eine ganze Stunde wäre sogar noch besser, aber eine Querschnittlähmung wäre keine Querschnittlähmung, wenn nicht der Darm von warmem Wasser angeregt werden würde. Ich will die Ekelgrenze nicht unnötig überschreiten, deshalb deute ich nur an, dass mich die üblichen Blubberblasen nicht aus dem Wasser getrieben hätten. Aber mit plötzlich auftauchenden U-Booten möchte ich mein Badewasser nun doch nicht teilen.

Es muss mich niemand fragen, ob das jetzt nicht ein wenig eklig ist. Ich ekel mich vor mir selbst. Ich finde mich, was diese Dinge angeht, absolut widerlich. Ich kann es aber nicht ändern, und es zu verheimlichen und zu verdrängen kann auch nicht richtig sein. Man sollte sich schon mit den Dingen beschäftigen, die einen belasten. Und vielleicht mit guten Freunden darüber reden können. Meine Psychologin würde jetzt vielleicht sagen: „Besser als beim Training.“ Womit sie eindeutig recht hätte. Vielleicht sagt sie es aber auch nicht, denn alleine der Gedanke daran, dass das passieren könnte, macht mir Angst.

Mal wieder völlig fertig, bin ich in mein Bett gefallen. Kurz bevor ich eingeschlafen bin, hatte ich noch einmal diese Strecke vor meinem inneren Auge:

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