Schwimmen einmal anders

Was bin ich froh, dass ich am Montagmorgen nicht zur ersten Stunde in die Schule muss. Nachdem gestern abend Sofie, Frank, Liam, Lina und ich Luisa für einen gemeinsamen Spieleabend besucht haben (Juliane, eine
weitere Freundin von Luisa, war auch noch da) und es etwas später wurde, war ich froh, heute morgen etwas länger schlafen zu können. Zusammen mit einem Block Freistunden ließ sich der Vormittag ganz gut ertragen.

Heute nachmittag wollte ich noch einmal schwimmen gehen, allerdings für mich alleine. Bis zur Schwimmhalle sind es etwa 1.500 Meter, die schaffe ich locker in fünf bis zehn Minuten. Je nach Ampelphasen – und zu Fuß natürlich. Am nervigsten finde ich dabei immer die Packerei und Schlepperei. Während ich überlegte, ob ich den ganzen Kram überhaupt in der kleinen Sporttasche mitbekommen würde, oder ob ich eine große nehmen muss (und wie kriege ich die dann mit?), warf ich die komplette Planung und alle fünfhundertundzwo Empfehlungen aus der Ergotherapie und der Reha über Bord und besann mich neu: Was brauchst du wirklich, Stinkesocke?

Übrig blieben: Ein großes Handtuch, eine Schwimmbrille, Duschgel, eine Bürste und meine Chipkarte für die Kasse sowie ein Euro für den Schrank. Fertig. Diesen ganzen Zirkus wie: Wasserdichtes zweites Sitzkissen, Handtuch für das Sitzkissen, Handtuch für die Rückenlehne, Handtuch zum Abtrocknen, Handtuch für die Füße, zweite Hose, Müllbeutel, Windeln, Analtampons, Katheter, Desinfektionsmittel, Einmalhandschuhe, Einmalwaschlappen und das Schaumstoffbrett für den Boden zum Ein- und Aussteigen aus dem Wasser schenkte ich mir. „Man muss sich nicht behinderter machen als man ist“ lautet der Standardspruch meiner Leute. Das sollte nun auch mal für mich gelten. Wenn man unerfahren und neu in der „Branche“ ist, sind diese kleinen Helferlein ja ganz nützlich, aber das muss auch unkomplizierter gehen, gerade wenn man den ganzen Kram herumschleppen muss.

Also: Zu Hause auf Klo gegangen, Analtampon eingeführt, Badeanzug angezogen, Jeans drüber, Fleeceshirt drüber, großes Handtuch zusammengerollt mit Duschgel, Bürste und Schwimmbrille drin, Chipkarte und einen Euro sowie den Haustürschlüssel und das Handy eingesteckt und los. Auf der Hinfahrt klappte alles prima, keine Schlange an der Kasse, schnell die Jeans und das Fleeceshirt in den Schrank, kurz unter die Dusche gesetzt, auf dem Rollstuhl das Sitzkissen umgedreht (von unten ist der Bezug nämlich rutschfest und wasserdicht), großes Handtuch auf das Sitzkissen und über die Rückenlehne gelegt, ab ins Wasser.

Dieses Mal waren nicht so viele Kaffeetanten unterwegs, dafür aber ein Typ, der sich mit mir die Bahn teilte und natürlich, da er mit Beinen schwamm, deutlich schneller war als ich. Er überholte mich jede dritte Bahn. Als wir zusammen am Ende ankamen, sprach er mich an: „Warte mal.“ Häh?! Was? Ich kenne den überhaupt nicht. „Du schwimmst ohne Beinschlag, dafür bist du ganz schön schnell. Darf ich dir einen Tipp geben?“ Ich zuckte mit den Schultern und nickte. „Wenn du die Hand in dem Moment, wo sie aus dem Wasser kommst, etwas aus dem Unterarm heraus drehst, kriegst du sie leichter aus dem Wasser. Das macht weniger Unruhe. Du machst so …“, führte er vor, „und sinnvoller ist es so.“ Okay?! Hat mir noch nie einer gesagt. Also versuchte ich es. Ich merkte jetzt nicht so den Unterschied, aber er fand, es würde deutlich besser aussehen. Mal Tatjana fragen, was sie davon hält.

„Ich habe dich noch nie hier gesehen. Schwimmst du öfter hier?“ fragte er beim nächsten Treffen, 10 Minuten später, weiter. Ich erklärte ihm, dass wir hier manchmal Schwimmtraining machen, das aber nur die Ausweichhalle ist. Und ich jetzt privat hier wäre. Was wollte der Typ eigentlich von mir? Der war mindestens 10 Jahre älter als ich. Aber er schien mich zumindest interessant zu finden.

Nach zwei Stunden, er trainierte immernoch, kletterte ich aus dem Wasser. Jetzt fror ich und vor allem der Weg zur Dusche war kalt. Was ich nicht bemerkt hatte, war, dass der Typ auf der anderen Seite des Beckens ebenfalls rausgeklettert war und mir plötzlich und „zufällig“ über den Weg lief. „Na, schon fertig?“ fragte er mich. Ich überlegte, ob es nervte oder ob ich ihn nett finden sollte. „Ja, du auch?“

„Ja, brauchst du Hilfe?“ Ich schüttelte den Kopf. ‚Wollte er mir beim Duschen helfen?‘ dachte ich und grinste in mich hinein. „Darf ich fragen, wie das passiert ist?“ fragte er.

„Verkehrsunfall“, beantwortete ich seine Frage. „Ich war Fußgängerin auf dem Weg zur Schule und eine Rentnerin hat mich plattgefahren.“ Er zeigte sich entsetzt. Und wollte wissen: „Hast du noch Schmerzen? Entschuldige, wenn ich zu aufdringlich bin, aber ich kann mich da überhaupt nicht hineinversetzen.“ – „Nein, Schmerzen habe ich nicht. Mir geht es ganz gut. Rollstuhlfahren ist halt etwas umständlicher als Laufen, manchmal etwas nervig, wenn Aufzüge nicht gehen oder so, aber man kommt zurecht. Und man hat immer seinen Sitzplatz dabei“, scherzte ich. Er lächelte unbeholfen.

Dann erzählte er mir, dass sein Vater einige Jahre vor seinem Tod im Rollstuhl gesessen hat, nachdem man ihm wegen Knochenkrebs ein Bein im Oberschenkel amputieren musste und er keine Kraft mehr hatte, um mit Hilfsmitteln zu laufen. Er habe sich jedoch völlig aufgegeben. „Krebs ist ja nochmal eine ganz andere Situation“, versuchte ich, etwas schlaues beizutragen. Er nickte. Irgendwann setzte er sich auf einen vor meinem Umkleideraum im Gang herumstehenden Duschrollstuhl und erzählte mir die halbe Leidensgeschichte von seinem verstorbenen Vater. Merkwürdigerweise werden einem, wenn man im Rollstuhl sitzt, sehr häufig solche Geschichten erzählt. Meine Freundinnen berichten davon auch in einer Tour. Allerdings hatte dieser Typ eine angenehme Art, zu erzählen, und er fragte auch viel und war sehr interessiert. Was mich ja sehr nervt, sind diese Leute, die alles verstehen können, aber dabei 1000 Mal erklären, wie Scheiße das Leben ist und das sowieso alles egal ist und sie auch schonmal 6 Wochen im Rollstuhl saßen. Aber er war anders.

Inzwischen war ich getrocknet und mir war nicht mehr kalt. Komischer Ort, um sich zu unterhalten. Noch dazu in Badesachen und in einem öden Gang. Ich hatte aber auch keine Lust, ihn noch auf einen Kaffee einzuladen, weil ich nicht abschätzen konnte, was er sich davon versprechen würde und was er noch so für Krisen durchlebt hat. Schließlich bin ich ja auch nicht sein Psychiater. Als ich mich von ihm verabschiedet hatte und endlich zum Duschen rollte, bereute ich das allerdings. Vielleicht hätte ich ihn doch einladen sollen. Dann fiel mir
jedoch ein, dass ich ja nur das nötigste zum Schwimmen mitgenommen hatte, also nicht nur kein Geld für den Kaffee dabei hatte, sondern außerdem auch nur ein Fleeceshirt und vor allem keine Pampers. Also hatte das wohl alles so seinen Sinn, dachte ich mir. Vielleicht treffe ich den Typen ja nochmal wieder irgendwann. Als ich aus meiner Umkleide rauskam, war er jedenfalls schon über alle Berge.

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