Die erste Nacht mit Jan

Gestern war das letzte Schwimmtraining vor den Weihnachtstagen. Das
ist auch kein großes Kunststück, wenn der 23.12. auf einen Mittwoch fällt. Ein Kunststück war hingegen, eine geeignete Schwimmhalle zu finden, da etliche Hamburger Bäder am Tag vor Heilig Abend bereits vorzeitig schlossen oder den üblichen Vereinsbetrieb außerhalb der regulären Öffnungszeiten bereits eingestellt hatten.

Die einzige Möglichkeit bot das Festland in der Holstenstraße, was aber unser Verein wegen der teuren Eintrittspreise nicht so gerne sieht.
Hier kostet das Schwimmtraining pro Person 2,46 Euro nur für Eintritt. In unseren „üblichen“ Trainingsbädern zahlen wir 1,48 Euro für jeden. Bei zehn Leuten sind das mal eben 10 Euro mehr, da kommen im Jahr mal schnell 500 Euro zusammen. Aber manchmal geht es eben nicht anders, wenn
kein „billiges“ Bad mehr geöffnet hat – und im Festland gibt es den schönen Warmwasserpool!.

Dem Rat von Sofie folgend (siehe ihren Kommentar hier),
habe ich Jan vorher schon per SMS eingeladen, nach dem Training noch mit zu mir zu kommen. Und er hat zugesagt! Das fand ich so genial. Auf der einen Seite. Auf der anderen Seite war mir klar, dass sich das Zeitfenster für das gefürchtete Gespräch über meine Inkontinenz damit langsam schloss. Ich hoffte inständig, dass das nicht unser erster und letzter Abend werden würde oder dass sich gleich am Anfang unüberwindbare Hindernisse in unsere Beziehung drängen würden.

Es kam aber -wie immer- ganz anders. Simone, Yvonne, Cathleen, Nadine, Kristina, Merle, Jan, Kevin, Marco, Rolf, ich und Trainerin Tatjana hatten allesamt einen Tag vor Heilig Abend nichts besseres zu tun, als ein wenig Platz für den Weihnachtsspeck zu generieren und warteten auf den Einlass. Beim Festland, erbaut in 2009, gibt es leider nur eine Umkleidekabine für Rollstuhlfahrer. Daneben einen rollstuhlgerechten Raum mit Dusche (samt Klappsitz), Waschbecken und WC.
Beide Räume gehen von einem Flur ab, der durch eine Tür vom Hauptgang abgetrennt ist. Meistens teilen sich die Frauen auf die beiden Räume auf, während die Jungs sich in dem Flur umziehen. Die „normalen“ Umkleiden, Duschen und Toiletten sind nicht rollstuhlgerecht.

Cathleen, Simone und ich quetschten uns in den Duschraum. Wie schon öfter (siehe auch hier),
war mal wieder die Toilette defekt. Es ist doch sagenhaft, dass sie einer Gruppe Rollstuhlfahrer an der Kasse den Eintritt abnehmen und mit keinem Sterbenswörtchen erwähnen, dass das einzige rollstuhlgerechte WC außer Betrieb ist! Wir haben uns darüber nun schon mindestens drei Mal beschwert. Entsprechend konnten wir drei nur duschen. Aber ich hatte eine entsprechende Steilvorlage für mein Problem.

„Jungs, Klogang fällt aus, Toilette ist mal wieder kaputt“, sagte ich, als ich die Tür zum Flur öffnete. „Nadine hat bestimmt Katheter mit
Beutel mit, aber das nützt euch ja nicht viel.“ scherzte ich weiter. Nadine erzählt das jedem, das ist kein großes Geheimnis. Zur Aufklärung für meine nicht fachkundigen Leser: Kathetern müssen alle, deren Blase durch Medikamente oder durch die Schädigung im Rückenmark etc. gelähmt ist und sich daher nicht selbständig oder nicht vollständig entleert. Kathetert wird immer nur kurz, das heißt, das Ding wird sofort nach Gebrauch wieder entfernt und weggeworfen. Die einfache Variante besteht nur aus einem sterilen und in Kochsalzlösung getränkten Plastikschlauch,
den man auf dem Klo sitzend durch die Harnröhre schiebt (nein, das tut nicht weh), die kompliziertere Variante ist für alle Leute, die das auf dem Klo nicht hinkriegen (weil sie nicht frei sitzen können, weil sie das nicht sehen etc.), die hat dann am Ende einen Beutel mit Rücklaufventil, in dem der Urin aufgefangen wird. Frauen können Männerkatheter verwenden, aber nicht umgekehrt, da Männer die deutlich längere Harnröhre haben (20 cm zu 3 cm bei Frauen) und Frauenkatheter in
der Regel zu kurz sind. Lediglich der Durchmesser sollte in etwa stimmen.

Allgemeines Gemecker folgte, auch die Tür zum Umkleideraum ging auf und Yvonne beschwerte sich, ich behielt aber Jan im Auge und den schien das überhaupt nicht zu stören. Auf dem Weg zum Schwimmbecken, der sich durch einen endlosen Flur zieht, nahm ich mein Schicksal in die Hand und
sprach ihn an (frei nach dem Motto: Wer fragt, der führt): „Musst du
eigentlich kathetern?“ Er schüttelte den Kopf. „Nee, zum Glück nicht. Ich habe das so unter Kontrolle. Außerdem war ich zu Hause erst.“ Oh nee. Knirsch. Damit stiegen die Chancen, dass er keine Antenne für solche Probleme haben könnte. „Und Du?“

Ich biss mir fast auf die Lippe. Dann druckste ich herum: „Ich muss auch nicht kathetern, ich bekomme sie auch so komplett leer.“ – „Aber ohne Pressen hoffentlich?“ fragte er besorgt. Zur Aufklärung: Bei neurologischen Erkrankungen oder Schäden am Rückenmark ist es nicht gut,
wenn die Blase mit übermäßigem Druck entleert wird, da dadurch Urin aus
der Blase in die Nieren zurückgepresst werden kann. Spätestens bei einem Harnwegsinfekt bedeutet das automatisch auch einen Infekt der Nieren.

„Ja, ohne Pressen“, sagte ich. Argh, das lief in die falsche Richtung. Ich fügte schnell hinzu: „Ich muss eher aufpassen, dass es sich nur dann entleert, wenn ich das auch wirklich will.“ So, nun war es
raus. Er guckte mich an: „Achso, verstehe.“ Dann trennten sich unsere Wege kurz. Wir mussten durch je einen Vorraum, von dem aus die nicht-rollstuhlgerechten Duschen abzweigten. Die Vorräume waren bereits nach Geschlechtern getrennt. Auf der anderen Seite trafen wir uns wieder. Die zehn Sekunden Trennung waren ganz gut, ich überlegte mir, nicht weiter auf das Thema einzugehen, sondern seine Reaktionen zu beobachten. Er sprach das Thema auch nicht mehr an, sondern wir begannen
mit dem Schwimmtraining.

„Wenden am Bahnende“ stand auf dem Plan, so ein Blödsinn, wenn wir für Triathlon trainieren. In Seen und Flüssen wird in der Regel nicht gewendet und wenn doch, dann meistens an einer Boje und nicht mit einer Rolle wie am Beckenrand. Aber es gibt natürlich auch Wettkämpfe, bei denen ein festes Schwimmbecken herhalten muss. Also übten wir alle die Wende am Beckenrand. Am ätzendsten fand ich dabei das Wasser in meinem Ohr.

Am Ende verschwanden Jan und ich noch wieder in dem heißen Pool, den wir, da es schon kurz vor 21 Uhr war und dieser Pool zusammen mit dem Kinderbereich um 21 Uhr schließt, für uns alleine hatten. Eng umschlungen knutschten wir und drückten uns fest gegeneinander. Er hielt
mich mit beiden Händen am Po fest, ich hatte meine Arme um seine Schultern gelegt. Ich hätte noch endlos so weitermachen können, aber die
Schwimmmeisterin warf uns raus. Die anderen waren schon fertig mit Umziehen, Cathleen fragte vorsichtig, ob sie mit uns zurückfahren dürfte. „Na klar.“

Ich wusste nicht, ob wir uns zusammen im gleichen Raum umziehen sollten. Ich war recht froh, dass er mir die Entscheidung abnahm und sagte: „Du darfst zuerst duschen, wenn du möchtest.“ Vielleicht wollte er mir damit auch die Frage entlocken, ob wir nicht zusammen duschen wollen – aber das können wir ja auch nächstes Mal noch machen. Ich duschte mich, dann ließ ich ihn mit seinen kompletten Klamotten in den Duschraum, während ich mich mit Cathleen in die Umkleide begab. Cathleen
schaute mir zu. Ich bat sie, da sie ja diesen Blog auch kennt, Sofie anzusprechen, dass wir bereits drüber gesprochen hätten. Nicht, dass sie
noch ein Gespräch darüber anfängt…

Sofie kam zu Hause auch gleich auf mich zu und bat, mich kurz unter vier Augen sprechen zu dürfen. Ich war erstaunt. „Jan kennt deinen Blog ja noch nicht, oder? Da musst du drigend aufräumen. Ich kenne dein Passwort nicht, sonst hätte ich das schon getan. Da haben rund ein Dutzend Leute rumgeschmiert.“ Ich nutzte die Chance, ihr gleich mitzuteilen, dass ich ihm das gesagt hätte. „Und?“ wollte sie wissen.

„Keine Reaktion bisher“, antwortete ich.

Da man nach dem Schwimmen hungrig ist, machten wir uns auf die Schnelle eine Pizza selbst. Den Teig hatte ich vorher schon vorbereitet,
nur noch belegen und ab in den Ofen. Dann holte ich eine normale Unterhose aus meinem Zimmer, verschwand im Bad, schmiss die Pampers weg,
duschte mich untenrum kurz ab, zog mich an und nahm meine Beute mit in mein Zimmer. Wir wollten Fotos gucken auf dem Laptop.

„Wollen wir uns aufs Bett setzen?“ fragte ich. Er nickte. „Schön breit, das Bett.“ Grins. „Willst du hier schlafen?“ nutzte ich meine Chance, ihn entscheiden zu lassen. Seine spontane Antwort: „Darf ich denn?“ – Was hat er vor?! „Kommt drauf an, ob du lieb bist“, gab ich zurück. Aus dem ‚Fotos gucken‘ wurde nicht viel, es war mehr Geknutsche und Gefummel. Als er mir unter das T-Shirt gehen wollte, hielt ich ganz still, machte die Augen zu und genoss. Er traute sich aber nicht weiter als bis kurz über den Bauchnabel. Ich bekam eine Gänsehaut, so schön war
das.

Gegen Mitternacht wollten wir ins Bett gehen. Er verschwand im Bad, ich kümmerte mich schnell um meinen Blog und löschte alles, was irgendwie Mist war oder sich auf den Mist bezog. (Ist ja immer schlecht,
wenn solche Bezug nehmenden Beiträge alleine da stehen, auch wenn der Beitrag sonst in Ordnung ist.)

Er war nicht darauf vorbereitet, bei mir zu schlafen (ist das nun ein
gutes, ein schlechtes oder ein beabsichtigtes Zeichen?) und hatte ein T-Shirt und eine Shorts an. Ich machte es ihm nach und wir beide verschwanden im Bett. Ich hoffte, meine Blase würde sich in dieser Nacht
benehmen. Wenn Simone oder Cathleen bei mir im Bett schläft, hatten wir
bisher immer eine Pampers an, schließlich muss man den anderen nicht ungefragt an einem Bad teilnehmen lassen. Bei Jan wollte ich es erstmal so versuchen und ihn vielleicht später noch darauf ansprechen.

Ich legte mich auf die eine Seite, deckte mich zu. Jan krabbelte hinterher, kroch unter seine Decke. Es dauerte keine zehn Sekunden, bis eine Hand unter meine Bettdecke kam. Er streichelte mir den Bauch unter meinem T-Shirt. Seine Hand war warm und weich. Ich rutschte etwas dichter an ihn heran. Er zog mich fest an sich und umklammerte mit seinen Armen meinen Körper. Wir lagen nun Bauch an Bauch. Und knutschten
uns die Lippen wund. So fühlte es sich zumindest irgendwann an, als die
Uhr auf drei zuging.

„Wollen wir schlafen?“ fragte er irgendwann. Ich nickte. „Willst du auf mir liegen?“ fragte er mich. „Und auf meinem Bauch einschlafen?“ Verlockende Idee.

„Dann geh ich aber vorher nochmal auf Klo. Sicher ist sicher“, antwortete ich. Er nahm das so hin. Als ich wiederkam, krabbelte ich zu ihm unter die Bettdecke, legte mich auf ihn, mein Ohr auf seine Brust. Ich konnte seinen Herzschlag hören. Es war weich und warm. Ich spürte aber noch was anderes spannendes an meinem Bauch. Wir beide schliefen friedlich ein. Nach rund einer Stunde war mein Arm taub, deshalb legte ich mich neben ihn, aber trotzdem so, dass ich ihn berührte, und legte einen Arm über ihn.

Heute morgen um 10 wachte ich auf. Mein erster Griff versicherte: Es war alles trocken. Allerdings habe ich morgens nach dem Aufwachen nie viel Zeit bis zum Klo. Und ich sollte dabei auch besser nicht über ihn rübersteigen. Ich bat ihn, mich einmal schnell durchzulassen. Es kam kein „Och, ist doch gerade so schön“, kein „Keine Panik“ oder ähnliche Diskussionsstarts, sondern er setzte sich hin, ließ mich mit einem Küsschen auf den Mund durchkrabbeln, zack, saß ich in meinem Stuhl. Dabei pupste ich natürlich laut. Ich hoffte, dass er das nicht gehört hatte, aber er grinste gleich und sagte: „Puuuuups!“ Und ließ sich wieder auf sein Kopfkissen fallen.

„Entschuldigung.“ sagte ich. „Ich habe das leider nicht so unter Kontrolle.“ Er sagte gar nichts. Ich musste erstmal ins Bad. Als ich wiederkam, lag er auf dem Bett, hatte die Bettdecke zurückgeschlagen und
das T-Shirt ausgezogen. Was für eine Einladung. Ich krabbelte wieder ins Bett, knutschte ihm die Brust und legte mich wieder so hin wie wir gestern abend eingeschlafen sind. Ich wollte das unbedingt nochmal klären. „Das passiert mir leider öfter mal.“ sagte ich. – „Was?“ fragte er. – „Na, Puuuuups!“

„Ich stell mir das lustig vor beim Bewerbungsgespräch“, witzelte er. „Oder bei einem Vortrag vor der Klasse.“ – „Mir reicht schon, wenn das in der ersten Nacht mit dem Freund passiert“, antwortete ich.

„Du hast heute nacht auch schon zwei Mal gepupst“, sagte er. Ich hob meinen Kopf und blickte ihn entsetzt an. „Wie peinlich!“ – „Bei dem einen Mal hast du dazu noch mit dem Mund geschmatzt – als würdest du gerade Gummibärchen essen. Daraus habe ich geschlossen, dass es dir gut geht.“ Boa, war der gemein. Ich legte mich wieder auf seine Brust. Ich merkte, wie ich rot anlief und mein ganzes Gesicht glühte. Er streichelte mir über die Haare. „Darf ich dich Pupsi nennen?“

Ey hallo? „Ich finde das nicht witzig, dass du dich darüber lustig machst.“ fauchte ich ihn an. Er antwortete: „Ich mache mich nicht lustig, ich nehme das mit Humor. Solltest du auch tun. Du sagst ja selbst, du kannst es nicht ändern.“ Schon. Richtig. Aber trotzdem möchte
ich nicht mit einem solchen Kosenamen aufgezogen werden. Ich überlegte einen Moment, entschied mich dann aber für Diplomatie: „Ich finde das trotzdem nicht gut. Stell dir vor, ich hätte ins Bett gepisst. Dann würdest du mich jetzt ‚Pissi‘ nennen, oder was? Das verletzt mich.“

Dann kam die unglaubliche Antwort: „Nö, dann hätte ich zurückgepisst“, sagte er und lachte dabei, als wenn er den Witz des Tages erzählt hätte. Hatte er vielleicht auch, ich weiß es nicht. Ich fand das alles überhaupt nicht witzig, denn ich habe mir tagelang einen Kopf gemacht, damit genau so eine Situation nicht eintritt. Er nahm mich
und meine Probleme nicht ernst, sondern machte sich darüber lustig. Ganz toller Freund.

„Ich geh mal Frühstück machen“, sagte ich. „Ich weiß nicht, ob du duschen möchtest in der Zwischenzeit, ich muss heute vormittag noch einige Dinge erledigen.“ – „Och Pupsi“, sagte er, „nun hab dich nicht so. Wir hatten so einen tollen Abend und so eine schöne Nacht und nun regst du dich über einen Pups auf.“ – „Ich rege mich nicht über den Pups
auf, sondern über deine beschissene Reaktion. Du machst dich über mich lustig, und darauf habe ich keinen Bock.“

„Das ist nunmal so bei den Rollstuhlfahrern“, sagte er. „Wenn du aus dem Stuhl kippst, lachen auch alle. Es sei denn, dir passiert was ernstes. Dann helfen dir alle und zwar ohne dass du überhaupt einmal darum bitten musst. Du kannst dir aussuchen, ob du deine Behinderung akzeptierst und über sie und vor allem über dich lachen kannst, oder ob du sie ernst nimmst und sie dein Leben bestimmen lässt. Du kannst es doch nicht ändern. Du pupst sowieso, ob du willst oder nicht. Also sei einfach du selbst, und wenn dir danach ist und die Situation komisch ist, dann lache drüber, sonst ignoriere es einfach, und sollten Leute dabei sein, die das nicht wissen, dann entschuldige dich, um dein Gesicht zu wahren.“

Ich schluckte. Der Monolog ging weiter. „Bei deiner Behinderung sind peinliche Sachen vorprogrammiert. Einmal liegst du auf der Straße, der Rollstuhl auf dir drauf, einmal hältst du die Bahn auf, weil sich eine Rampe verkeilt hat oder sich plötzlich nicht mehr einfahren lässt, einmal müssen dich ein halbes Dutzend Leute eine Treppe hochtragen, einmal brauchst du fünf Anläufe, um dich aus einem Schwimmbecken rauszuheben, einmal kommst du als einzige nicht durch eine schmale Tür oder durch die schmale Kasse im Supermarkt, einmal siehst du als einzige
nichts, einmal stolpern Leute in der überfüllten U-Bahn über dich, einmal pupst du laut und alle kriegen es mit und einmal pinkelst du dir vor allen Leuten in die Hosen. Alle Leute gaffen, Kinder suchen die Hand
ihrer Mutter und fragen, warum die Frau oder der Mann das tut oder warum das so ist und du würdest am liebsten sehen, wenn alle weitergehen
oder zumindest nicht blöde gaffen oder gar noch Fragen stellen würden. Oder noch besser: Dich einfach in Luft auflösen. Das geht aber nicht. Das wurde nicht erfunden. Man kann also sich nur der Situation stellen. Das gelingt am einfachsten, wenn jemand aus der Szene oder auch gute Freunde dabei sind und man gemeinsam darüber lachen kann. Das gelingt aber auch, wenn man über sich selbst und seine Behinderung lachen kann. Kann man das nicht, geht man irgendwann seelisch kaputt und entwickelt sich zu einem alten, jähzornigen Greis, der aufs Amt stürmt und alle runterputzt, weil ihm 10 Prozentpunkte für eine Voll-Invalidität fehlen.
Oder weil die Rollstuhlrampe vor dem Gebäude um 0.8 Zentimeter zu schmal ist – einen Zollstock haben solche Leute immer dabei.“

Ich schluckte nochmal. „Trotzdem möchte ich nicht ‚Pupsi‘ genannt werden. Ich finde es ja sehr gut, wenn dich das nicht stört. Aber man muss es nicht auch noch betonen.“ – „Da hast du vielleicht recht. Vielleicht habe ich etwas überzogen reagiert, als du dich dafür entschuldigt hast und ich merkte, dass dir das ziemlich peinlich ist. Aber trotzdem möchte ich, dass du darüber einmal nachdenkst.“

Das werde ich mit Sicherheit tun. Aber erstmal werden wir jetzt Heilig Abend feiern. Er mit seiner Familie, ich mit einigen Leuten aus der WG. Wir wollen auch noch in die Kirche. Ich freue mich auf einen schönen Abend.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert