Viel Jan, viel Schnee

Schon seit einigen Wochen nervt mich ein unerträgliches Verhalten einiger Leute aus meiner Clique. Ich habe es bisher weder hier noch im persönlichen Kontakt thematisiert, da ich keinen Streit wollte. Ich war auch scheinbar die einzige, die das so richtig gestört hatte, zumindest hat niemand anderes aus meiner Clique etwas gesagt, und so hatte ich auch sehr große Angst, mit meiner Kritik zum Außenseiter gestempelt zu werden, vor allem, weil es solche „Ausgrenzungs-Ansätze“ meiner „Freunde“ schon einmal gab, als ich es wagte, mich über etwas zu beschweren über etwas ein bißchen zu nörgeln.

Dabei hatte das Wochenende so gut angefangen: Ich habe Jan endlich wieder gesehen. Wir haben uns zum Schwimmen getroffen, nur wir beide, in
einer genialen Therme mit angenehm heißen Pools in einem genialen Ambiente. Man konnte prima relaxen in einer Palmenlandschaft, an einer Wand wurde über die gesamte Breite und Höhe ein Videobild an die Wand geworfen, das perfekt an diese Landschaft angepasst war. Gut, der Spaß kostet einen dann auch mal eben 18 Euro, aber dafür ist es dann auch nicht so voll. Ab 21 Uhr wird auf Kuschelstimmung umgeschaltet, die Videowand bleibt dunkel, das Licht außerhalb des Beckens wird abgeschaltet und etliche Kerzen werden aufgestellt. Wir haben eng umschlungen neben einem Felsen am Beckenrand gehangen und ziemlich heftig gefummelt und geknutscht, natürlich trotzdem so, dass es für niemanden aufdringlich war. Wir waren auch nicht die einzigen, die die Stimmung sehr romantisch fanden.

Danach hat er bei mir geschlafen, es war total schön und kuschelig, wir haben den halben Samstag im Bett verbracht, dann ausgiebig gefrühstückt, zusammen über einige Internetclips gelacht, Fotos angesehen – bis wir dann irgendwann gefragt wurden, ob wir spontan mit auf die Geburtstagsfeier von Basti möchten. Basti ist der jüngere Bruder
von Nadine. Allerdings nicht von der Nadine, die ich vom Training kenne, sondern von einer Nadine, die sich kurzfristig unserer irgendwie immer größer werdenden Clique angeschlossen hat. Nadines Schwester soll in einem Pflegeheim sein und darüber soll irgendein Kontakt zustande gekommen sein. Niemand weiß es so genau. Inzwischen sind wir, glaube ich, fast 20 Leute.

Nun würden Jan und mich dieser Basti nicht so unbedingt interessieren, eben weil wir ihn bis dahin gar nicht kannten, aber wenn die ganze Clique dorthin fährt, könnte es ja recht nett und lustig werden. Jan hatte Lust, ich auch, so ließen wir uns überreden, den gemeinsamen Abend mit ganz vielen Leuten zu verbringen.

Der Abend war auch ganz lustig, wir haben uns nett unterhalten und einige Spiele gespielt, die in so großer Runde natürlich auch wesentlich
mehr Spaß machen als in kleiner Runde. Bis zu einem bestimmten Grad wäre ich auch bereit, stillschweigend hinzunehmen, dass sich ein Gastgeber oder einzelne Gäste nicht so recht in die Lage anderer Gäste (ob nun mit oder ohne Rollstuhl) hineinversetzen können und deshalb vielleicht das eine oder andere ungünstig bis unmöglich ist.

Damit meine ich zum Beispiel, dass ich es kommentarlos hinnehmen würde, wenn die Party oben stattfindet und es nur eine schmale, steile Treppe gibt, um dorthin zu kommen. Rutscht man halt auf dem Hosenboden rückwärts stufenweise nach oben und tut ein bißchen was für seine Arm- und Schultermuskulatur. Dass die Rollstühle nicht nach oben dürfen, weil
es oben weißen Teppichboden gibt, der dreckig werden könnte, kann man auch noch hinnehmen, dann sitzt man halt auf der Erde. Auf der Erde deshalb, weil es nur einen Schreibtischstuhl gab und ein Sofa, das aber bereits mit anderen Gästen belegt war. Solange ich mich an die Wand anlehnen kann, ist ja alles gut.

Zu essen gab es Lauchsuppe mit extra viel Lauch, Zwiebelbrot mit Kräuterdipp, Kartoffelsalat mit Zwiebeln, Zwiebeln, Zwiebeln, Zwiebeln und selbstgemachte Lasagne – mit nur ein paar Zwiebeln. Ich hätte mich jetzt an ein kleines Stück Lasagne gehalten, da man als Querschnitt solche Dinge wie Lauch und Zwiebeln (und alles was sonst noch extrem bläht) nicht verträgt. Er kam jedoch schon mit der Bemerkung ins Zimmer:
„Die ist teilweise ein bißchen schwarz geworden, ich wollte es aber extra lange drin lassen, denn das Hack ist aus dem Supermarkt und zum Wochenende … weiß man ja nicht so genau, wie oft das schon umetikettiert
worden ist. Ha ha ha.“ Das war mir nicht geheuer, also verzichtete ich und nuckelte an meiner Cola. Damit hatte ich eindeutig den ruhigeren Job, denn durch das Zimmer liefen permanent zwei nicht erzogene Katzen, die jeden, der auf der Erde saß, beklettern mussten, um an sein Essen zu
kommen und giftig fauchend reagierten, wenn man sie wegschob. Sofie bekam einen qualifizierten Tatzenhieb ab, als sie verhindern wollte, dass die Katze am Rücken eines Mädchen hochkletterte, das zu Bastis direktem Freundeskreis gehörte, noch etwas jünger war und wie am Spieß vor Angst schrie. Die Katze war regelrecht aggressiv, wollte zum Essen und fauchte, nur Sofie ließ sich nicht beeindrucken, packte das Viech gezielt im Nacken und warf es in Richtung Flur.

Jana futterte ein Stück Lasagne. Irgendwann kam dann der Punkt, wo die ersten Leute auf das Klo wollten. Es gab oben keins, und unten war es im Kelleraufgang. Das Haus ist über 80 Jahre alt und man hat, als die
Zeit vorbei war, in der man ein Scheißhaus im Garten hatte, nachträglich ein Indoor-Klo und einen Anbau realisiert. So ging, nachdem
man eine Estrichstufe hinter einer Holz-Kellertür überwunden hatte, seitlich links von einem Treppenpodest das einzige Bad des Hauses ab. Liam sagte gleich: „Da kommt ihr nicht rein. Auch nicht auf der Erde rutschend. Ich könnte jeden einzelnen tragen, aber das Klobecken steht völlig frei, man kann sich weder anlehnen noch festhalten.“ Wer baut solche Klos?! Und wieso sagt einem das niemand vorher?

„Ich habe gehört“, sagte Nadine, „dass sich die Rollstuhlfahrer sowieso kathetern müssen und habe auch nochmal eine Bekannte gefragt, und jetzt haben wir in einem Nebenraum eine Isomatte auf die Erde gelegt. Dann braucht ihr gar nicht nach unten jedes Mal. Die Beutel schmeißen wir dann weg, das machen wir für euch.“ Und das ist jetzt nicht mehr nett gemeint, sondern dreist. Nicht nur, so etwas vor allem Partygästen zu erwähnen. Sondern: Man weiß, dass die Gäste nicht auf die
Toilette kommen und weist sie nicht vorher darauf hin, sondern setzt einfach voraus, dass sie in eine Plastiktüte pissen? Ich katheter mich nicht und viele andere machen das nicht mit Beutel, sondern direkt ins Klo, haben also gar nicht das passende Equipment dabei. Nicht jeder kann
sich auf der Erde liegend kathetern oder frei sitzen. Es war also eine ziemliche Zumutung. Ich fuhr also meine Getränkezufuhr auf Null herunter
und hoffte, den Abend irgendwie zu überstehen und bald aufbrechen zu können.

Um kurz nach eins brachen Liam und Lina auf. Eigentlich wollten sie Sofie, Frank und mich mitnehmen. Jan wollte nach der Party zu sich nach Hause, weil er heute zu einer Familienfeier musste. Er wollte direkt zur
S-Bahn fahren, die zwei Kilometer schaffe er in 10 Minuten, kein Problem, alles okay. Nach der Familienfeier wollte er wieder zu mir kommen. Weil wir aber nicht Jana alleine nachts durch Hamburg fahren lassen wollten (Jan und Janas Wege hätten sich irgendwann getrennt), hatten wir später verabredet, dass Jan, Jana und ich mit der S-Bahn fahren. Nun fing Laura, auch seit neuestem in unserer Clique, zu diskutieren an, ob sie nicht im Auto mitfahren könnte. Sie wohne nur zwei S-Bahn-Stationen entfernt, aber sie fürchte sich alleine im Dunkeln. Auf diese Tour sprangen dann auch noch Melanie und Anna auf. Weder Laura, Melanie noch Anna sind Rollstuhlfahrer. Die drei fingen nun
so heftig an, sich über diesen einen frei gewordenen Platz zu streiten (und das noch bevor Liam oder Lina zustimmten, dass überhaupt jemand von
denen im Auto mitfahren darf), dass Sofie sagte: „Passt auf, bevor der Kindergarten hier überhand nimmt, fahrt alle drei mit dem Auto mit und wir beide fahren auch mit der S-Bahn, was meinst du, Frank?“

Spätestens jetzt hätte ich erwartet, dass die sagen: „Ach, vergiss es, Schnapsidee, wir
fahren S-Bahn.“ Stattdessen kam: „Eeeehrlich? Das würdet ihr für uns machen?“ Sofie guckte sparsam und sagte dann leise zu mir: „Bevor das hier noch eskaliert, lass uns zusammen S-Bahn fahren. Da haben wir unsere Ruhe.“ Liam sagte, ihm sei egal, wen er mitnehme, er habe drei Plätze frei und man solle sich einigen. Tatsächlich bestanden die drei Fußgänger auf die Mitnahme im Auto.

Die ganze Geschichte bekam dann noch den krönenden Abschluss, als wir
etwa 20 Minuten danach los wollten und feststellten, dass seit dem Abend mindestens zehn Zentimeter Neuschnee gefallen waren. Dazu wehte ein eisiger Wind. Nun sind wir nicht aus Zucker und bei der Überlegung, ob wir uns von einem Taxi zum Bahnhof bringen lassen, meinte Nadine, dass es zum Bahnhof zu Fuß rund 10 Minuten seien, permanent bergab ginge
und man mit dem Taxi einmal quer durch den Ort müsste, während man zu Fuß auf direktem Wege dorthin käme. Es sei den ganzen Tag geräumt worden, durch ein bißchen Schnee kämen wir locker hindurch.

Sofie, Frank, Jana, Jan und ich machten uns auf den Weg. Wir testeten
erstmal aus, wie gut wir voran kommen würden, zur Not würden wir uns noch über Handy ein Taxi rufen. Aber es funktionierte ganz gut. Es war zwar beschwerlich und nervig und teilweise brauchte man auch zwei, drei Anläufe, um einen Bordstein hochzukommen, und der Wind wehte teilweise eisig und brachte jede Menge losen Schnee mit sich, aber man kam vorwärts. Und es ging auch wirklich ständig leicht bergab. Die S-Bahnen fuhren im 30-Minuten-Takt und wir gingen davon aus, die knapp zwei Kilometer in 20 statt in 10 Minuten zurückgelegt zu haben.

Der gut beleuchtete und gepflasterte Weg ging auch durch eine Art Park, durch den keine Autos fahren dürfen. Da wir immer nur geradeaus fahren mussten und man durch das Schneetreiben kaum etwas sehen konnte, sahen wir auch nicht, was uns hinter einer lang gezogenen Rechtskurve erwartete: Wir mussten eine Holzbrücke überqueren und dahinter ging es wieder bergauf! Großartig. Noch bevor wir überhaupt dorthin kamen, klagte Jana, dass ihr schwindelig sei. Ihr Kreislauf mache ihr Probleme.
Frank hielt sie sofort an der Jacke fest, damit sie nicht plötzlich aus
dem Rollstuhl kippen würde. Denn dann würden wir vier sie nicht wieder alleine hineingesetzt bekommen. „Mir ist ganz schwindelig“, sagte sie. Frank kippte sie nach hinten und legte ihren Kopf auf seinen Schoß. Sofie griff sich die Hose am Schienbein und zog ihre Füße nach oben. Wir
warteten einen Moment.

„Besser?“ fragte Frank nach einer Minute. – „Ein bißchen“, sagte Jana. Und gleich danach: „Ich muss spucken.“ Oh nein. Sofie ließ los, Frank ließ ihren Rollstuhl wieder aufrecht kippen. Sofie fuhr neben sie,
drehte ihren Kopf auf die von ihr abgewandte Seite und hielt sie im Nacken und an der Stirn fest. Lecker. Lasagne, würde ich sagen. Ich weiß, warum ich das nicht gegessen habe. Jana würgte und spuckte. Sie fror. Irgendwie war mir nicht sehr wohl in der Situation, ich machte mir
Sorgen. Ich fragte Frank, ob wir jemanden auf der Party anrufen sollten, einen Fußgänger, der zumindest Jana bis zum Bahnhof schiebt, denn der Weg würde ab sofort bergauf gehen. Leider war niemand erreichbar, nirgendwo ging einer ans Handy. Zu laute Musik, keinen Bock –
ich weiß es nicht.

Frank gab Jana seine oberste Jacke. Er hatte mehrere Schichten übereinander. Wir fuhren langsam weiter. Die Brücke war gefroren und nicht gestreut, wir mussten uns am Geländer hochziehen. Und hinter der Brücke ging es bergauf. Sofie sagte: „Na super, soviel zum Thema ‚bergab‘.“ Jana kam gar nicht mehr weiter, Sofie und ich nur mit allergrößter Anstrengung zentimeterweise. Das Problem waren nicht die Antriebsräder, die hatten genug Grip. Das Problem waren die Vorderräder,
die im losen Schnee versanken und ihn vor sich her schoben. Man musste auf den Hinterrädern leicht angekippt zentimeterweise vorwärts fahren. Jana ging es für diesen Balance-Akt nicht gut genug. Sie fror, sie wirkte teilnahmslos. Es war kurz davor, dass wir einen Rettungswagen gerufen hätten. Doch gehören Kreislaufprobleme zum Querschnitt und wenn ich jedes Mal, wenn jemand „Kreislauf“ hätte, wie Horst Schlämmer sagen würde, den Rettungsdienst anrufen würde, könnte ich eine eigene Rettungswache aufmachen. Außerdem wollte Jana es partout nicht, sie hätte das im Griff, es sei nur die blöde Situation hier mit der Steigung.

Also fuhren wir zu viert um sie herum und bewegten immer abwechselnd uns zehn Zentimeter vor und zogen dann Jana in der Mitte mit ihrer Hilfe
wieder zehn Zentimeter vor. Keine Menschenseele unterwegs, Schneesturm –
und kein Bahnhof in Sichtweite. Jana kotzte noch zwei Mal in den nächsten 20 Minuten, dann ging es ihr allerdings wieder blendend. Sie wollte von sich aus trinken und alleine fahren und fing an, zu erzählen,
wie peinlich ihr das sei und dass sie froh sei, uns dabei zu haben und dass sie sich auf ihr Bett freue… Kurz vor dem Bahnhof überholte uns ein
Typ, der auch zur S-Bahn wollte und Jana ein Stück schob. Als wir endlich in der Bahn saßen, schaute ich auf die Uhr und stellte fest, dass wir für die knapp zwei Kilometer fast 90 Minuten gebraucht hatten. Ohne Schnee wären es gerade mal 10 Minuten gewesen. Wir waren durch den Sturm komplett weiß und nass.

Jan stieg in der City aus, wir fuhren zu viert weiter. Nicht ganz. Zu
uns gesellte sich ein Typ, der sein Kleingeld rauskramte und uns für vier Euro Kokain abkaufen wollte. Der Typ ging uns immer weiter auf den Wecker und war selbst durch Ignorieren und Aus-dem-Fenster-schauen nicht
davon zu überzeugen, dass er besser weiter geht. Drei Stationen vor unserem Ziel stieg er endlich aus.

Wir brachten Jana noch eben nach Hause, auch wenn das für uns noch eine halbe Stunde Umweg bedeutete. Aber sicher ist sicher. Als ich endlich in der WG angekommen war, freute ich mich auf eine heiße Badewanne. Und mein Rollstuhl auf eine gründliche Reinigung. Meine Klamotten auf die Waschmaschine. Mein Sitzkissen auf eine Wäsche. Ich sah aus wie ein dreckiger Eisbär. War völlig durchnässt vom Schnee und vom Schneematsch an den Ärmeln, in der Nierengegend und auf den Hosenbeinen. Die Pampers war auch längst übergelaufen, wobei der Vorteil
war, dass man von außen nicht sehen konnte, was zur Schneenässe gehörte
und was nicht. Ich war froh, dass Jan nicht mehr dabei war und spontan mit mir in die Badewanne oder vielleicht sogar ins Bett wollte.

Ich suche für dieses Chaos nicht die Schuld bei meinen „Freunden“, sondern bei mir. Wie mir bereits einige Leute geraten haben, werde ich zu einigen Leuten, die mir zu egoistisch sind, mehr Distanz halten. Das wird schwierig, aber ich weiß inzwischen, dass Sofie und Frank ähnlich genervt waren von dem Abend – auch ohne sein heftiges Ende. Für das Wetter kann man niemanden verantwortlich machen. Aber ich habe als Lektion gelernt, dass man sich niemals ganz alleine auf eine Auskunft eines Dritten verlassen sollte. „Der Weg geht nur bergab.“ hat uns in enorme Schwierigkeiten gebracht.

Man darf natürlich nicht zu kleinlich sein. Gewisse Unwegsamkeiten dürfen einen nicht stören, man sollte seine Behinderung nicht als Maßstab aller Dinge sehen. Wie gesagt, dann rutsche ich eben mal auf dem
Hintern die Treppe hoch. Aber anhand solcher Dinge wie improvisierte Toiletten oder dem Kindergarten um drei Plätze im Auto werde ich künftig
meine Freunde aussuchen und auch aussieben. Auch auf die Gefahr hin, dass ich irgendwann drei Viertel meiner „Freunde“ nicht mehr treffe. Aber das letzte (mir hoffentlich verbleibende) Viertel macht mich dann hoffentlich glücklicher und frei von derart Nerven aufreibenden Dingen wie solche Nachtfahrten im Schnee.

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