Winterspuren

Endlich komme ich wieder alleine aus dem Haus. Weil die Gehwege und Nebenstraßen noch vereist sind (teilweise 10 bis 15 Zentimeter dick), kam ich nicht „zu Fuß“ vor die Tür. Zumindest nicht alleine. Ich hätte mit dem Auto zur Schule, zum Einkaufen, zur Therapie fahren können, denn am jeweiligen Ziel wäre mit Sicherheit irgendeine Stelle besser geräumt gewesen als vor unserer Haustür (wo wir zu allem Überfluss auch noch dafür selbst bezahlen) – wenn nicht das elektrische Rolltor zur Tiefgarage seit Wochen defekt wäre. Andere Mieter haben ihr Auto so lange nach draußen gestellt, nur zu den Parkplätzen wäre ich eben wegen der vereisten Wege auch nicht gelangt. Allenfalls mit fremder Hilfe.

Seit heute funktioniert das Rolltor wieder. Der Vermieter hat – und das gibt es wohl heutzutage eher selten – jeden Mieter schriftlich darauf aufmerksam gemacht, dass er wegen dieses Defektes die komplette Monatsmiete für den Stellplatz aus Kulanzgründen erlassen bekommt. Bei denjenigen, wo der Stellplatz zur Wohnung gehört, schreibt er dem Mietkonto einmalig 60 Euro gut. Er bittet um Entschuldigung. Das finde ich mal einen fairen Zug, auch wenn die Einschränkungen, die ich durch dieses Theater hatte, um ein vielfaches höher waren als diese 60 Euro. Aber das liegt ja zum größten Teil an meiner Behinderung, und die hat er
ja noch weniger zu verantworten als das defekte Rolltor.

So konnte ich heute gleich mit meinem Rollstuhl zum Sanitätshaus fahren, um dort die Winterspuren beseitigen zu lassen. Zwei neue Vorderräder, vier neue Kugellager, zwei neue Antriebsräder und ein neuer Kissenbezug plus Arbeitslohn und Steuer: Knapp 2.100 Euro. Der teuerste Punkt sind die Antriebsräder mit fast 500 Euro pro Stück. Insbesondere das Fahren durch / über das scharfkantige Eis auf den Gehwegen hat Felge und Greifreifen so in Mitleidenschaft gezogen, dass eine Reparatur nicht mehr möglich ist und beide Räder komplett ersetzt werden müssen. Das Salz hat nicht nur den Kugellagern (die rausgeschlagen und neu eingeklebt werden müssen), sondern auch den Steckachsen und den (ebenfalls geklebten) Aufnahmehülsen den Rest gegeben und sie in eine zusammenhängende Einheit verwandelt. Sogar an den Speichen hat sich Rost gebildet und teilweise tropfte aus den Lagern schon die fette braune Soße. Der Mitarbeiter des Sanitätshauses rief bei meinem Kostenträger (der Unfallkasse) an und wollte eine Reparaturfreigabe (die er ab 200 Euro immer braucht). Die Unfallkasse wollte erstmal einen Kostenvoranschlag und als der durchgefaxt war, kam prompt der Rückruf: Die Unfallkasse schickt einen Sachverständigen. Wenn ich warte oder wiederkomme, ist er in einer Stunde da.

Also habe ich mich entschieden zu warten. Das Sanitätshaus hat einen Aufenthaltsraum, wo ich Getränke und Fernsehen serviert bekam, nach 45 Minuten klopfte ein Typ wie ein Bär mit Vollbart an und meinte, er sei der Gutachter. Der Mitarbeiter vom Sanitätshaus kam dazu, mein Rollstuhl kam erneut auf die Werkbank. Er drehte einmal an den Antriebsrädern, schaute in irgendwelche Listen und rief vom Handy bei meiner Unfallkasse
an. Ergebnis des Gutachtens: Wirtschaftlicher Totalschaden. Der Stuhl ist gerade mal ein Jahr alt. Er sagte zu mir: „Sie dürfen mit Ihrem Rollstuhl doch nur aus der Wohnung raus, wenn es draußen trocken ist und kein Schnee liegt. Wussten Sie das nicht?“ Ich starrte ihn entsetzt an. Er zwinkerte mir zu. „War ein Scherz. Das ist bestimmt schon der vierzigste Stuhl, den ich diese Woche aus dem Verkehr ziehe. Und Ihrer sieht noch recht harmlos aus. Die Dinger sind einfach nicht für solches Wetter gebaut. Regen geht gerade noch, Schnee ist schon Mist und wenn dann noch Split und Salz gestreut werden, können Sie gleich schonmal 500 Euro Kosten einplanen. Wenn man sich dann noch über vereiste Fußwege und zentimeterdicke Eiskanten quälen muss, wie es in Hamburg diesen Winter überall Realität war, geben Sie jedem Stuhl den Rest. Dafür sind die nicht gebaut.“

„Und nun?“ fragte ich.

„Ganz einfach, Sie kriegen einen neuen Stuhl und der alte kommt in die Presse. Entweder nochmal den gleichen oder sonst lassen Sie sich mal zum Helium beraten. Den kann ich im Moment empfehlen. Ich schreibe eine entsprechende Empfehlung. Den Rest klären Sie hier mit dem Sanitätshaus. Ich muss weiter. Schönen Tag noch!“ Und tschüss.

Das kann doch wohl nicht wahr sein. Der Stuhl ist ein Jahr alt, hat rund 4.000 Euro gekostet und wird nach einem Jahr weggeschmissen. Kann man nicht erwarten, dass die Dinger etwas länger halten? Auch wenn der Winter schon extrem war – so richtig toll finde ich das nicht. Der, den er mir empfohlen hat, sieht natürlich toll aus, wie ich finde.

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