Natascha

Den Kommentaren auf meinen gestrigen Beitrag über den arschigen Nachbarn zufolge, haben die meisten Leser mich doch so verstanden, wie ich es sagen wollte. Dass ich nicht gegen alle Hartz-4-Empfänger wettere, sondern lediglich gegen einen ganz bestimmten. Und gegen den nicht, weil er Hartzie ist, sondern weil er ein Arsch ist. Aber das Thema ist aus meiner Sicht erstmal geklärt.

Und damit kann ich ja zum nächsten Schlag ausholen. Als Angehörige einer gesellschaftlichen Randgruppe habe ich mir ein neues Opfer aus einer anderen gesellschaftlichen Randgruppe ausgesucht, um auf ihm herumzuhacken. Gestern der Arbeitslose, heute jemand, der sich in seinem Körper unwohl fühlt. Man beachte meine Ironie.

Aus Sicht meines Vaters wurden Homo- und Bisexuelle als Kind mal zu heiß gebadet oder sind von der Wickelkommode gefallen. Ihn würde es schon zur Verzweifelung treiben, dass seine Tochter mit einer anderen Frau im Bett liegt und kuschelt. Bekleidet und ohne jeglichen sexuellen Hintergrund (so etwas soll es geben!) jemand anderen zu massieren oder zu kraulen, wenn man ihn lieb hat, gerne mag, wäre für meinen Vater absolut undenkbar. Dass die Tochter, die das macht, auch noch behindert ist und die Empfängerin dieser Zärtlichkeit möglicherweise auch noch, wäre möglicherweise das Tüpfelchen auf dem i, möglicherweise auch eine Entschuldigung – ich weiß es nicht, möchte nicht darüber nachdenken und werde es meinen Eltern auch niemals erzählen. Dem Rest meiner Familie auch nicht, denn dort wird man auch nicht anders denken. Ich bin aber auch sehr froh, sagen zu können, dass ich zumindest in dieser Hinsicht auf deren Meinung keinen Wert mehr lege.

Eine derartige Haltung gegen Homo- und Bisexualität erlebe ich leider viel zu häufig, vor allem bei älteren Menschen. Ich weiß, dass sich homosexuelle Menschen früher sogar fast automatisch strafbar gemacht haben. Unglaublich. Unverständlich. Nein, homosexuell bin ich nicht. Bisexuell vielleicht. Vielleicht ein bißchen, vielleicht auch mehr. Ich weiß es nicht. Es ist mir aber auch relativ schnuppe. Wenn mir also jemand erzählt, er sei homo- oder bisexuell, ist es in etwa so, als würde mir jemand erzählen, dass es draußen regnet. Habe ich trockenes Wetter erwartet, überrascht es mich. Aus der Fassung schlagen würde es mich allenfalls, wenn es saure Gurken oder krumme Nägel regnen würde.

Dass es Menschen gibt, die sich in ihrem Körper mit ihrem von der Natur vorgegebenen Geschlecht nicht wohl fühlen, ist mir auch bekannt. Ich bin ganz froh, ein Mädel zu sein. Im Stehen pinkeln könnte ich sowieso nicht, also ist alles okay. Dass sich manche Menschen Kleidung des anderen Geschlechts anziehen, finde ich sogar spannend. Einer von vielen Gründen, warum man mich jedes Jahr wieder auf dem Christopher-Street-Day findet. An einem See, an dem wir manchmal trainieren, läuft auch immer ein Typ in Ballett-Kleidern rum oder geht sogar damit schwimmen. Früher, vor meiner Behinderung, hätte ich geglotzt. Ungläubig, wie ein Straußenvogel, dem sie ein Ei aus dem Nest geklaut haben. Heute, wo ich Füße mit 8 Zehen und Hände mit 3 Fingern gesehen habe, mit Hautlappen geschlossene Rückendefekte, so groß wie ein Bierdeckel, oder eitrige Druckgeschwüre mit freier Aussicht bis zum Knochen, haut mich doch kein Typ im Tutu mehr aus dem Stuhl. Der entlockt mir vielleicht noch ein herzliches Schmunzeln.

Ich weiß allerdings, dass viele Menschen sich nicht hineinversetzen können, wie es in Menschen aussieht, die sich in ihrer Haut nicht wohlfühlen. Ich kann es auch nicht, um das diesmal gleich vorweg zu schieben. Aber ich kann vorbehaltlos akzeptieren, dass es einen enormen, vielleicht sogar schmerzhaften oder unerträglichen Druck geben kann. Dass man alles geben würde, um im „richtigen“ Körper sein zu dürfen. Hormonpräparate einführt, Operationen in Kauf nimmt, unheimlichen gesellschaftlichen Druck erfährt – ich beneide diese Menschen nicht. Ich sehe ein ernsthaftes Problem.

Ich merke schon, das Thema, auf das ich kommen möchte, ist so sonderbar, dass die Einleitung immer länger wird. Auf den Punkt: Es gibt auch Menschen, die sich in ihrem Körper nicht wohlfühlen, ohne dass es sich dabei um das von der Natur vergebene Geschlecht dreht. Sondern denen geht es um die Makellosigkeit, die Vollkommenheit, die Gesundheit, die sie nicht akzeptieren können. Die einen solchen Leidensdruck erzeugt, dass man, ähnlich wie derjenige, der lieber zum anderen Geschlecht gehören würde, gerne … ja … behindert wäre. Dass man alles geben würde, um ein Bein weniger zu haben, Querschnitt zu sein – für die meisten Menschen unvorstellbar, aber das gibt es. Und „Body Integrity Identiy Disorder (BIID)“ nennt man sowas.

Wenn nun, um an anderer Stelle wieder einzusteigen, mein Vater und viele andere Menschen auf dieser Welt Homosexualität schon nicht akzeptieren können, sich mit Leuten mit „falschem“ Geschlecht noch schwerer täten, muss man wohl diejenigen Leute einzeln suchen, die Verständnis dafür hätten, dass jemand gerne behindert wäre. Am allermeisten würde mich irritieren, dass ich (heute nicht mehr, vor einiger Zeit schon noch) sehr viel dafür gegeben hätte, meinen Unfall rückgängig zu machen, und dass es nun plötzlich jemanden gibt, der genau
entgegengesetzt denkt.

Insofern kann ich zumindest sehr gut nachvollziehen, dass derartig „gepolte“ Menschen in unserer Gesellschaft so gut wie keine Chance haben, irgendwie Fuß zu fassen. Sobald sie erzählen, wie sie ticken, werden sie ausgegrenzt. Also ertragen sie entweder den Leidensdruck, anders sein zu wollen, oder beginnen, die Gesellschaft mit dem zu füttern, was sie hören will, um diesen „anders gepolten“ Menschen zu akzeptieren. Und das kann nur sein: „Ich bin wirklich behindert.“

Und so ist kein Mensch mit Behinderung davor gefeit, irgendwann in seinem Leben mal mit jemandem konfrontiert zu werden, der auf den ersten Blick dieselbe Behinderung hat wie man selbst, auf den zweiten Blick einen aber um die damit erreichte Vollkommenheit beneidet – und einem das Blaue vom Himmel lügt. Und ja, es gibt einen aktuellen Anlass.

Natascha heißt sie, ist 32 Jahre alt und Rollstuhlfahrerin. Tauchte vor einiger Zeit bei unserem Training auf, erzählte uns von einem schlimmen Autounfall, wurde in unserer Trainings-Clique aufgenommen, rollte mit uns ins Kino, erfuhr sehr viele persönliche Dinge von jedem einzelnen – und hat uns von A bis Z belogen. Nix Querschnitt, nix Autounfall. Das war wie ein Schlag ins Gesicht.

Inzwischen hat sich bei uns das erste Gewitter gelegt. Inzwischen wissen wir, dass sich vor uns auch schon einige andere Vereine, die Medien und die Justiz mit ihr beschäftigt haben. Bisher hat sie jedes Mal, wenn sie „erwischt“ worden ist, sämtliche Kontakte abgebrochen, ist in die nächste Großstadt geflüchtet, um ein neues Leben zu beginnen. Und hat dort die nächsten Leute genarrt. Soll das endlos so weitergehen?

Unser Vereins-Chef, den ich bekanntlich sehr schätze, war absolut fassungslos. Seine Vertreterin, die ich ebenfalls sehr gerne mag und zu der ich auch persönlich eine sehr enge freundschaftliche Beziehung habe, war ebenfalls sehr mitgenommen und stand über Tage einen gehörigen Schritt neben sich. Weniger wegen der Tatsache, angelogen worden zu sein, sondern vielmehr als sie ihre wahre Geschichte gehört haben. Anders als bisherige Vereine, mit denen Natascha zu tun hatte, haben die beiden sich lange mit einzelnen, später dann auch bei einer Versammlung mit allen beraten und haben Natascha in einem Dreiergespräch, während sie sie wissen ließen, dass sie erneut aufgeflogen ist, ein zweites Mal die Hand gereicht.

Es sei, so unser Vereins-Chef, im Sinne der gesamten Szene, dass wir Natascha nicht erneut den Boden unter den Füßen wegziehen, sondern ihr Hilfe anbieten. Nur wir könnten es glaubwürdig tun. So ist er eben. Jemand, der täglich versucht, die Welt zu retten. Er hat ihr eine (meine!) Psychologin vermittelt, nach einer Wartezeit kann sie dort in eine Therapie einsteigen. Es gibt einen Professor in Lübeck, der sich intensiv mit dieser Krankheit beschäftigt. Inzwischen hat Natascha ihre Lebens- und Leidensgeschichte aufgeschrieben. Das war eine Bedingung für die Therapie. Die wirkliche.

Natascha bekommt von mir irgendwann ihre zweite Chance. Sie bekommt von allen aus unserem Verein ihre zweite Chance. „Alle oder keiner“ hieß es bei der entsprechenden Versammlung, bei der Natascha nicht dabei war. Und am Ende waren es alle, die bereit sind, ihr zu helfen. Wenngleich etliche nur sagten: „Ich werde sie ohne Vorbehalte dulden. Mehr bringe ich zum jetzigen Moment nicht zustande.“ Nachdem ich ihre Geschichte gelesen habe, bin ich ihr nicht mehr böse. Auch soll sie irgendwann eine zweite Chance von mir bekommen. Im Moment sind die Wunden einfach noch zu frisch.

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