Das Monster im Rollstuhl

Wie sie hierher gekommen war, wusste ich nicht. Wie ich hierhin gekommen war, wusste ich auch nicht. Das spielte auch keine Rolle. Wir waren zur selben Zeit am selben Ort und redeten miteinander. Sie hatte ihr Fahrrad gestoppt, ein einfaches Damenrad, war vom viel zu hoch eingestellten Sattel noch vorne abgestiegen, stand vor den Pedalen mit beiden Füßen auf dem Gehweg und hielt ihre Tretmühle mit beiden Händen am Lenker fest. Geschockt sah sie aus, den Tränen nahe. Als wäre sie gerade eben nochmal mit dem Leben davon gekommen. Tja, man sollte aufpassen, wenn man mit dem Fahrrad eine Straße überquert. So etwas kann
selbst an beampelten Überwegen böse enden. Vor allem der Kontakt zwischen Auto und Radfahrer bietet jede Menge gefährliches Potential. Dass sie mit dem Fahrrad gegen die Fahrtrichtung, also auf der linken Seite der Straße, unterwegs ist, fällt mir gar nicht auf. Ich bin viel zu sehr, und damit höchst angestrengt, damit beschäftigt, aufzupassen, dass ich mich nicht verplapper. Denn auch wenn sie es ahnte: Erzählen wollte ich es ihr nicht, dass ich ihr den Kamikaze-Fahrer, der sie vor inzwischen gut 10 Minuten beinahe mit dem Auto umgebügelt hatte, auf den
Hals gehetzt hatte. Es war vielleicht besser, wenn ich ein Alibi hatte.

Die Frau hatte Angst vor mir. Vor mir, dem Monster im Rollstuhl. Ich beruhigte sie: „Frau H., Sie müssen doch keine Angst vor mir haben. Ich tue Ihnen doch nichts. Habe ich Ihnen jemals irgendwas getan?“ Nein, hatte ich nicht. Das wusste sie. Das beruhigte sie. Aber sie war sich dennoch irgendwie sicher, dass ich für die inzwischen drei Attentate auf
sie verantwortlich bin. Nur der letzte, eindeutige Beweis fehlte. Es standen Zweifel im Raum, insbesondere durch mein jeweiliges Alibi. Und aus irgendeinem Grund lebte sie immernoch. Aber ich quälte sie. Und insgeheim freute mich das. Obwohl ich das, was ich getan hatte, schon einigermaßen heftig fand.

Sie stand mit ihrem Fahrrad auf dem Gehweg vor einem Einfamilienhaus,
dessen Vorgarten von einer hüfthohen Hecke umgeben war. Das Haus kannte
ich. In Sichtweite verlief die Straße unter einer Eisenbahnbrücke hindurch, und einige hundert Meter weiter würde man an diejenige Kreuzung gelangen, an der ich vor rund zwei Jahren meinen Unfall hatte. Vor diesem Haus war ich sicher: Hier haben wir uns damals, während meines Prozesses, mit dem Gericht zu einem Ortstermin getroffen. Erstmal
in sicherer Entfernung, so wollte es der vorsitzende Richter, der befürchtete, ich, die Geschädigte, könnte mit alledem überfordert sein. Eigentlich wollte er mich gar nicht dabei haben, aber ich bestand darauf. Aber sich in sicherer Entfernung zu treffen und dann gemeinsam zum Unfallort zu gehen, war doch ein guter Kompromiss.

Heute traf ich hier Frau H., die, mit ihrem Fahrrad unterwegs, gerade
einem Attentat entkommen war. Einem von mir geplanten Attentat. Inzwischen sagte sie wieder und wieder, dass sie sich nicht sicher sei, ob ich nicht die Drahtzieherin der Anschläge auf sie sei. Und dass das alles Wahnsinn sei. Als der Tanklaster explodierte, wurden über 500 Menschen getötet, einer schwer verletzt. Die Zahl „über 500“ hörte ich von ihr zum ersten Mal, bisher waren mir aus den Medien nur 23 Tote bekannt, und das waren schon viel zu viele unschuldige Opfer. Ich sagte es noch einmal: „Ich habe damit nichts zu tun.“ Frau H. wollte mir nicht
so richtig glauben, das erkannte ich an ihrem Gesichtsausdruck. Aber irgendwie schien sie sich auch unsicher, wie sie mit mir, dem Monster im
Rollstuhl, umgehen sollte.

So angestrengt ich auch darüber nachdachte, mir fiel nicht mehr ein, welches Attentat ich zuerst auf sie verübt hatte. Ich war mir aber sicher, dass dieses das dritte war. Auch war mir nicht klar, warum die Polizei mich angesichts der vielen Toten bei der Tankerexplosion noch nicht ermittelt und festgenommen hatte. Zumal ich vielleicht die einzige
wäre, die ein starkes Motiv (Rache) hätte, dieser Frau etwas anzutun. Vielleicht wartet man noch auf einen eindeutigen Beweis, erklärte ich mir plausibel. Und am liebsten würde ich ja auch ungeschoren davonkommen. Dass die Eisenbahnbrücke eigentlich an einer ganz anderen Stelle liegt, fiel mir nicht auf. Aber immerhin fuhr meine Unfallgegnerin, Frau H., inzwischen mit dem Fahrrad. Ob sie das im wahren Leben auch tut oder weiterhin ohne Führerschein mit Pkws unterwegs ist … wer weiß das schon?!

Jemand rüttelte mehrmals heftig an meiner Schulter. Dann, plötzlich, öffnete ich die Augen. Helles Licht blendete mich. Ich war total benommen, orientierungslos. Wusste nicht, in welcher Situation ich mich befand, wusste nicht, ob ich lag, stand oder flog, wusste nur, dass die Situation nicht gut für mich war und ich dringend fliehen müsste. Schnell weg hier, egal wie. „Schschscht, Jule, ganz ruhig, gaaaanz ruhig, hey, alles ist gut, Jule, ganz ruhig, ich bin bei dir. Du hast nur geträumt. Du bist zu Hause in deinem Bett, alles ist gut.“ Oh. Mein.
Gott.

Schweißgebadet. Mein Kissen war pitschnass geschwitzt, meine Haare klebten im meinem Gesicht. Mir war heiß und ich fror gleichzeitig. „Hab ich geschrien?“ fragte ich schlaftrunken Sofie, die nur mit einem T-Shirt bekleidet in ihrem Rollstuhl neben meinem Bett stand. „Wie am Spieß“, antwortete sie. „Was träumst du dir denn bloß immer für einen Scheiß zusammen?“ – „Ich weiß es auch nicht“, antwortete ich, zu verwirrt für irgendwelche Analysen. Meine Haut am linken Arm juckte. Mein T-Shirt klebte an meiner linken Körperhälfte bis zur Schulter. Als ich mich aufrichten wollte, merkte ich, dass ich in einer großen Pfütze lag. „Bäh!“, sagte ich und schob mein Kopfkissen nach oben aus der Gefahrenzone. Warf meine Decke zurück.

„Oh“, staunte Sofie. „Warte, ich hol dir ein Handtuch.“ Es war mir egal, was sie denken würde. Die ganze Situation war schon irre genug. Und wir kennen uns nun, glaube ich, schon lange genug, als dass mir das noch peinlich sein müsste. Sie kam mit zwei Handtüchern auf dem Schoß aus dem Bad zurück. „Willst du kurz duschen und ich bezieh dir das Bett frisch?“ fragte sie. Nett gemeint. Aber ich wusste, ich würde nur in dem
Moment so durch den Wind sein. Bald wäre alles wieder vorbei und ich könnte ganz normal, frisch geduscht und in einem frisch bezogenen, nach Persil duftenden Bett wieder weiterschlafen.

Während meiner Psychotherapie haben wir sehr oft über meinen Unfall gesprochen. Ich erinnere mich an ihn nicht. Die Alpträume, die ich manchmal habe, werden seltener. Manchmal sind es innerhalb von vier Wochen drei, manchmal passiert zwei Monate lang gar nichts. Dass meine Unfallgegnerin in diesen Alpträumen vorkommt, ist nicht neu. Ich dokumentiere meine Alpträume (auf Wunsch meiner Psychologin), wenngleich
nicht alle so ausführlich wie den heutigen, und ich zähle inzwischen den achten mit Beteiligung der Crash-Oma. Und wie meine Psychologin schon beim letzten Mal sagte, wird auch dieser nicht der letzte gewesen sein. Nicht der letzte Alptraum und nicht der letzte Traum, in dem die Crash-Oma vorkommt.

So eine Psychotherapie wird ja gerne mal belächelt, nur ich finde nach wie vor, dass sie mir hilft. Sie ist nicht das, was ich häufiger höre und vor allem von meinem Vater gehört habe: Nämlich das Suchen nach
Bestätigung durch eine lebensfremde Akademikerin mit Doppelnamen. Für lebensfremd halte ich meine Psychologin, selbst nach einem Reitunfall querschnittgelähmt, nicht, und einen Doppelnamen hat sie auch nicht. Sie
bestärkt mich zwar häufig in dem, was ich tue, aber das ist nicht der wesentliche Inhalt unserer Stunden. Sie ist eigentlich nur diejenige, die mich dazu anhält, meine Seele zu bürsten. Wie bei jemandem mit langen Haaren, der sie nach dem Waschen nicht durchkämmen will, weil es am Ende so ziept – dabei wissen wir alle, dass es sein muss, weil die Haare sonst verfilzen. Die Alternative eines Kurzhaarschnitts gibt es bei der Seele halt nicht. Meine Psychologin ist diejenige, die mir den Spiegel vorhält und mir zeigt, wo noch gebürstet werden muss. Ohne Spiegel gehts halt nicht.

Ja, ich wünschte, meine Unfallgegnerin wäre härter bestraft worden. Daraus mache ich kein Geheimnis. Nicht härter im Sinne einer noch höheren Freiheitsstrafe (die war ja schon verhältnismäßig hoch), sondern
spürbarer. Eine Bewährungsstrafe ohne weitere Auflagen kratzt die Frau doch nicht. Sieht man ja schon daran, dass sie sich mit krimineller Energie einen Ersatzführerschein besorgt hat und später mit dem angeblich verlorenen ersten Lappen trotz Fahrverbot weiter Auto gefahren
ist. Die Frage ist auch, ob sie die Sanktionen, die der Staat als Bestrafungsmöglichkeiten für solche Fälle zur Verfügung hat, überhaupt beeindrucken können. Obwohl ich denke, dass sie ein paar Monate im Knast
doch vielleicht kratzen und zum Nachdenken anregen könnten. Doch egal, das Thema ist abgeschlossen.

Ich habe sehr bewusst den Ausdruck „Monster im Rollstuhl“ gewählt, um
mich in diesem Alptraum zu beschreiben. Und gleichzeitig auch meine Distanz zu diesem Monster auszudrücken. Möglicherweise ist das notwendig, bevor irgendein Leser aus diesem Blog-Eintrag eine Amoklage konstruiert und mir das SEK ins Haus schickt. Nein, Kinners, ich bringe keine Leute um. Ich entführe weder Tankwagen noch hetze ich andere Leute
in Autos auf Menschen, die mit dem Rad unterwegs sind. Ich besorge mir auch keine Schusswaffen und ich besuche auch nicht die Frau, die mich körperlich (und sehr offensichtlich auch seelisch) sehr verletzt hat. So
dramatisch und zerstörerisch und gefährlich die Inhalte dieser Alpträume auch wirken und so eindrucksvoll sie mich auch manche Nacht beschäftigen, so skurril sind sie doch am Morgen danach. Auch, dass ich mich mit dieser Frau unterhalte: Selbst wenn sie eines Tages doch noch auf die Idee käme, sich doch noch bei mir entschuldigen zu wollen, hätte
ich wirklich null Bedarf, mich mit ihr zu treffen, und vielleicht noch ihr schlechtes Gewissen zu therapieren (oder, um den Traum noch einmal aufzugreifen, sie davon zu erlösen).

Nein, nochmal ganz im Ernst: Diese Alpträume und auch deren Inhalte, insbesondere irgendwelche Rachegelüste, auch sehr heftige, sind normal. Ich habe lange Zeit im Koma gelegen, habe eine schwere Verletzung davon getragen, bin aus meinen sozialen Bindungen herausgerissen worden und war ein Jahr in Kliniken eingesperrt. Musste Rollstuhlfahren lernen, mit
körperlichen Einschränkungen zurecht kommen und eigentlich ein komplett
neues Leben beginnen. Es wird noch Jahre dauern, bis ich das komplett verarbeitet habe. Aber: Ich habe ein komplett neues Leben begonnen, eins
aus dem ich mich wider Erwarten nicht in mein bisheriges zurücksehne, eins mit dem ich sehr gut zurecht komme. Ich möchte mein Abi schaffen, ich habe meine Leute, mit denen ich befreundet bin oder die ich sogar sehr lieb habe, ich habe meinen Sport, den ich trotz körperlicher Einschränkungen ausüben kann und der mich richtig herausfordert, ich bin
finanziell abgesichert, ich liebe mein WG-Zimmer, ich werde gemocht, gekrault, um Rat und Meinung gefragt – lediglich zwei Dinge könnten besser sein: Erstens würde ich gerne endlich mal mit jemandem ins Bett gehen und zweitens möchte ich gerne nächsten Monat Sommeranfang haben. Alles klar?

Ich werde jetzt noch zwei Stündchen in meinem frisch bezogenen Bettchen schlafen, bevor mich der Schulalltag wieder einfängt. Und falls
nun wirklich noch jemand nicht genug beschwichtigt wurde und ernsthafte
Zweifel verblieben sind, mein Traum könnte mit der Wirklichkeit verschmelzen, oder ich sei nicht in der Lage, mich ausreichend zu kontrollieren, darf er mir gerne eine Mail schreiben. Dazu einfach in der rechten Spalte neben meinem Profilfoto auf „Mein Profil vollständig anzeigen“ klicken und an die auf der sich dann öffnenden Profilseite hinterlegte Mailadresse eine kurze Nachricht schicken – mit Name und Telefonnummer. Sofern es sich um eine offizielle Behördennummer handelt,
garantiere ich einen Rückruf…

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