Tatsächlich fehlt die Strippe

Ob per Mail, als Kommentar unter meinen Postings, ob persönlich oder über Dritte: Das häufigste Feedback, das ich auf Beiträge, in denen
es um Alltäglichkeiten geht, die jedoch im Zusammenspiel mit meiner Behinderung einen fragwürdigen bis unerträglichen Charakter annehmen, bekomme, ist: „So ein Wahnsinn. Das geht gar nicht. Gut, dass du darüber schreibst.“

Schreibe ich eine Mail an eine offizielle Stelle, bekomme ich im Regelfall die Reaktion: „Sie sind die Erste, die darauf hinweist. Täglich kommen so viele Menschen mit Behinderung damit in Kontakt, dass ich mir kaum vorstellen kann, warum das noch niemandem aufgefallen sein soll.“

Vor knapp einem Vierteljahr schrieb ich in einem Beitrag
über eine öffentliche Toilette auf einem Busbahnhof, die sich von innen
nicht verriegeln ließ, so dass im ungünstigsten Fall der automatische Türöffner von außen betätigt wurde und einem dutzende bis hunderte Leute
für dreißig Sekunden beim Klogang zuschauen konnten. Ein Leser hatte sich daraufhin bei einer Behörde beschwert, die jedoch auch erstmal dem letzten Absatz entsprechend reagiert hatte. Was ich wiederum in einem weiteren Beitrag kommentierte.

Inzwischen stellte sich offiziell heraus, siehe auch den letzten Kommentar zum ursprünglichen Beitrag,
dass dort „tatsächlich ein Baufehler vorliegt“. Tatsächlich! Tatsächlich ist das, was ich schreibe, nicht einfach frei erfunden. Wer hätte das gedacht! Obwohl sich vor mir noch niemand darüber an offizieller Stelle beschwert hat. Vielleicht, weil er, genauso wie ich, keinen Bock hatte, erstmal aufwändig seine Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen zu müssen. In meinem Blog kann ja jeder Leser glauben, was er will.

Ach übrigens, by the way, viele öffentliche barrierefreien Toiletten dürften gar nicht betrieben werden. Bauordnungen sind zwar von Bundesland zu Bundesland verschieden, oft gibt es zu wenigen gesetzlichen Paragrafen noch ausführliche zusätzliche technische Ausführungsbestimmungen, aber insgesamt gilt fast überall in der Bundesrepublik Deutschland: Öffentliche barrierefreie Toiletten müssen mit einem Notrufsystem ausgerüstet sein. Das heißt: Wenn drinnen jemand stürzt und alleine nicht wieder hoch kommt, muss er sich bemerkbar machen können. Oft reicht dabei, dass draußen vor der Tür ein Blinklicht
und eine Tröte losgehen, die anderen Menschen den Hilfebedarf signalisieren.

Nur sollte dann so ein Notruf, wenn er schon vorhanden sein muss, auch auslösbar sein. Daher wird gefordert: Der Notruf muss auch am Boden
liegend betätigt werden können. Die Notruf-Einrichtung soll daher an mindestens einer Stelle des Raumes in einer Höhe von etwa 20 Zentimetern
über dem Boden auslösbar sein.

Ein preisgünstiger Kompromiss ist es, einen Schalter mit einer Strippe knapp unter der Decke anzubringen und die Strippe an der Wand entlang bis zum Boden herabhängen zu lassen.

In der Mehrzahl der von mir benutzten barrierefreien WC-Anlagen ist diese Anforderung eindeutig nicht erfüllt. Die Strippen werden hochgebunden, entfernt oder gekürzt. Warum? Weil das WC auch von anderen
Menschen benutzt wird, die sich nicht vorstellen können, was ein Notrufsystem auf Klo zu suchen hat und die Strippe mit der Kette verwechseln, über die man früher die Spülung ausgelöst hat. Weil die Raumpflegerin beim Wischen in der Schnur hängen bleibt und jedes Mal Alarm auslöst. Weil irgendwelche Knalltüten die Strippe abreißen und niemand so etwas ersetzt.

Besonders toll ist der Zustand in einem großen Verbrauchermarkt. Dort
ist unter der Decke auch ein solcher Schalter installiert. An diesem Schalter klebt seit etwa einem Jahr die Kordel, noch original zusammengezwirbelt in einer kleinen Plastiktüte. Da fragt man sich doch,
wer die Bau-Abnahme durchgeführt hat! Und warum sich darüber noch niemand beschwert hat…

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