Gewährte Teilhabe

Was läuft da bloß falsch? Wieso denken Menschen so? Menschen mit Behinderungen seien körperlich nicht leistungsfähig, bekämen bei Leistungsbeurteilungen Mitleidsboni und stünden, was negative Kritik angeht, in einer moralischen Unverwundbarkeit, manchmal sogar in einer durch die deutsche (!) Geschichte begründete gesellschaftspolitischen Immunität. Die paralympischen Spiele, auf die kam das Thema auch, seien kein Leistungssport, sondern eine aus Gewissensgründen gewährte Teilhabe
am gesellschaftlichen Leben.

Und da bin ich ausgerastet. Da bin ich richtig ausgerastet. Paralympische Spiele – ob das Leistungssport ist oder nicht, dazu darf jeder eigene Ansichten haben. Ob irgendwer mit der Durchführung der Veranstaltung sein Gewissen bereinigt oder beruhigt oder nicht ist mir auch schnuppe. Auch darüber kann man verschiedener Ansicht sein. Aber „gewährte“ Teilhabe? Geht’s noch?

Wer bitte gewährt denn die Teilhabe? Wer ist denn die Gesellschaft, die entscheidet, wem sie die Teilhabe gewährt? Wir alle? Die, denen es am besten geht? Die gesunden? Die reinrassigen, arischen? Die, die laufen können? Sind wir wirklich noch nicht alle unsere Gesellschaft? Gibt es wirklich Leute, die glauben, dass man Menschen mit Behinderungen
die Erlaubnis geben muss, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen? Gibt es wirklich Menschen, die glauben, Menschen mit Behinderungen könnten vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werden? Denkt darüber wirklich jemand nach?

Ja, darüber denkt jemand nach. Über den einzelnen Fehlgriff in die Wortkiste beim Schreiben ihres Referats hätte ich hinweggesehen. Es kann
auch unglücklich formuliert sein. War es aber nicht. Es gab bei der Diskussion anlässlich meiner 15 Punkte in Sport
tatsächlich Mitschüler, die keinen Hehl daraus machen, dass sie glauben, Menschen mit Behinderung können froh sein, dass man heute so viel für sie tut. Der Umbau öffentlicher Einrichtungen, die ganze Pflege
– dass man sie überhaupt aus ihren Heimen rauslässt. Ich habe das mit dem „aus dem Heim rauslassen“ bewusst provokativ in den Raum gestellt. Und die Antwort war: „Es klingt zwar hart, aber im Kern trifft es das. Teilhabe und Freiheit setzen einen gewissen Grad von Leistungsfähigkeit voraus. Körperlicher, geistiger, seelischer. Sonst geht es schief. Dann müssen sich andere kümmern – und dann sollen ‚andere‘ auch bestimmen, wo
und wie sich gekümmert wird.“ *kotz*

Es war zu viel. Ich habe irgendwann gefragt, ob diese Mitschüler sich
im Klaren darüber sind, dass sie als Baby zur Welt kommen und bis zu ihrer Erwerbstätigkeit der Gesellschaft auf der Tasche liegen. Einige von ihnen werden nichtmal erwerbstätig. Einige werden chronisch krank, andere zum Verbrecher, einer baut einen Verkehrsunfall, der andere kriegt keine Kinder, der nächste pflegt seine Mutter nicht, wenn sie alt
und gebrechlich ist. – Das einzige, was zurückkam, war die Frage, ob es
mir besser geht, wenn ich als Baby oder als pflegebedürftige Mutter angesehen werde.

Es gab etliche, die sich aus der Diskussion völlig herausgehalten haben. Die vielleicht anders denken, die vielleicht aber auch nur keinen
Bock haben, sich zu streiten und zu argumentieren. Gut fand ich, dass ich nun wenigstens weiß, wie einige Mitschüler wirklich denken. Besser, als wenn sie mir etwas vorspielen. Der Lehrer hat anfangs noch versucht,
zu argumentieren, hat die Diskussion aber dann irgendwann sich selbst überlassen. Meine Freunde meinten überwiegend, ich solle mir überlegen, ob ich weiterhin an diese Schule gehen möchte. Die Frage ist nur: Wenn nicht, ändert das die Gesellschaft?

Ich muss fairerweise sagen, dass ich so viele Idioten wie in meinem Jahrgang üblicherweise nicht um mich herum habe. Im Sportverein, draußen
auf der Straße, unter Freunden erlebe ich diese Ausgrenzung und Diskriminierung nicht so extrem. Wie gesagt, irgendwas läuft da falsch. Und ich weiß nur nicht, was.

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