Keine lange Leitung

Etwas länger als ein Vierteljahr ist es schon wieder her, als ich in meinem Beitrag „Kurve zu hoch“ darüber geschrieben habe, dass auf der Strecke Hamburg-Rostock zur Zeit keine Rollstuhlfahrer im Regionalexpress mitgenommen werden. Der 3. Leserkommentar ergänzte noch ein paar Fakten.

Der Grund für die Nichtmitnahme ist so banal und gleichzeitig so bescheuert, dass man vermuten könnte, es sei Fasching oder erster April. Nein, es ist Aschermittwoch (also alles vorbei) und den ersten April haben wir auch noch nicht.

Der Hamburger Hauptbahnhof ist bekanntlich nicht allzu breit, dafür recht lang. In einigen Gleisen halten daher zwei Züge gleichzeitig. Im Abschnitt A der Zug, der den Bahnhof in Richtung Norden verlässt, in Abschnitt B der Zug, der den Bahnhof in Richtung Süden verlässt. So hält im Gleis 6A der Zug nach Kiel und im Gleis 6B der Zug nach Rostock. Oder umgekehrt, das ist aber auch völlig banane.

Der Rostocker Zug steht mit dem letzten Wagen in der Kurve außerhalb der Bahnhofshalle. Und der letzte Wagen ist ausgerechnet der Steuerwagen, das ist jener mit dem einzigen Rollstuhlabteil. Und der mit dem Fahrzeug verbundenen Einstiegsrampe (ansonsten gibt es nur Eingänge mit Stufen). Durch den Halt in der Kurve lässt sich die Rampe nicht mehr ausfahren und deswegen verweigert die Bahn hier konsequent seit über einem Jahr die Mitnahme von Rollstuhlfahrern – aus Sicherheitsgründen.

Die einfachste Lösung, die einem Laien einfällt: Einfach den Zug drehen. So dass der Steuerwagen am anderen Ende des Zuges ist. Dann würde die Lok in der Kurve stehen und der Steuerwagen mittig in der Bahnhofshalle. Dort ist der Bahnsteig gerade, die Rampe könnte ausgefahren werden. „Geht nicht“, sagt die Deutsche Bahn. Grund: Nachts wird der Zug in Schwerin abgestellt und muss dabei an das Stromnetz angeschlossen werden. Wird er stromlos abgestellt, wird morgens nicht geheizt und die ersten Reisenden frieren.

Die Strippe für den Strom kann nur mit dem Steuerwagen verbunden werden. Steht der Steuerwagen an letzter Position, ist die Strippe nicht lang genug. Somit muss er an erster Position stehen. Da der Zug nicht jeden Tag zwei Mal komplett gedreht werden kann, ergibt sich aus der zu kurzen Strippe zwangsläufig die Wagenreihenfolge (letzter Wagen mit Rampe in der Kurve) für den Hamburger Hauptbahnhof. Voilà.

Es werden also, ja, sowas ist möglich, über mehr als ein Jahr keine Rollstuhlfahrer mitgenommen, weil eine Heizungsstrippe am Abstellgleis zu kurz ist. Wie immer sickert das Problem nur durch zunehmende Beschwerden von Betroffenen an die Öffentlichkeit.

Einschlägige EU-Richtlinien schreiben vor, dass in die Planung solcher gravierenden Veränderungen („Du kommst hier net rein, aus Sicherheit!“), von denen Menschen mit Behinderungen betroffen sind, mit den örtlichen Behindertenvertretungen abzustimmen sind. Ist es geschehen? Nein.

Die Presse interessierte sich für diese Vorgänge nicht. Drei große in Hamburg erscheinende Tageszeitungen wollten darüber nicht berichten.

Die von der Bahn benannte Aufsichtsbehörde des Landes ist, anders als die Bahn es anfangs darstellt, doch nicht zuständig. Sie leitet eine entsprechende Anzeige (Verstoß gegen die Beförderungspflicht) zur direkten Bearbeitung an die Betroffene (die Deutsche Bahn) weiter – nicht etwa an die zuständige Aufsichtsbehörde des Bundes. Darf ich das bei meinem nächsten Knöllchen wegen Geschwindigkeitsüberschreitung auch für mich beanspruchen? Ich bearbeite meine Anzeigen auch gerne selbst, wie meine Freundin Pippi Langstrumpf: „Erst sag ich es ganz freundlich. Und wenn ich dann noch nicht hören will, gibt es Haue.“

Die Senatskoordinatorin für die Belange der Menschen mit Behinderungen in Hamburg beauftragt ihre  Mitarbeiterin, sich der Sache anzunehmen. Diese leitet die Sache an einen Experten eines örtlichen Nahverkehrsverbundes weiter und bittet ihn als Fachmann, tätig zu werden. In der Tat ist wohl er derjenige, der am Ende auf Abhilfe drängt. Allerdings geht dessen Antwort bei der Senatskoordinatorin unter. Erst auf Nachfrage kommt im dritten Anlauf die Meldung, dass das Problem inzwischen abgestellt sein soll: Man habe die Wagen mit mobilen Überfahrbrücken bestückt, die vom Zugbegleiter über den Zwischenraum gelegt werden sollen.

Das Eisenbahnbundesamt als tatsächlich zuständige Aufsichtsbehörde prüft die ganze Sache „von Amts wegen“ – bekommt aber von der Bahn gar nicht erst eine Antwort. Es fragt beim Beschwerdeführer an, ob er vielleicht inzwischen etwas gehört hat… Hat er nicht. Die Bahn spricht nicht mit ihm.

Erst auf mehrfache Nachfrage wird ihm von der Senatskoordinatorin ein Fax zur Verfügung gestellt, mit dem die Deutsche Bahn die Sache als erledigt bezeichnet: Man habe „mit Nachdruck auf die Auslieferung mobiler Überfahrbrücken gewartet“, um „einen positiven Bearbeitungsstand mitteilen zu können.“ Soll heißen: Wir sitzen die Sache aus, bis über ein Jahr nach Beginn des Chaos endlich eine Lösung vorhanden ist. Einen Zwischenbericht, in dem man zugeben müsste, dass man seit über einem Jahr keine Rollstuhlfahrer befördert, ist nicht so gut für das Image.

Apropos „ein Jahr“: Im Schreiben stellt die Deutsche Bahn die Sache so dar, als wenn das Problem nur einen Monat bestanden habe und man bereits vorausschauend auf das drohende Problem zugegangen sei. Erst „mit Fahrplanwechsel Dezember 2010“ habe sich dieses Problem ergeben und man habe sich „bereits im laufenden Jahr 2010 um die Beschaffung von Überfahrbrücken bemüht“, wobei es jedoch zu unbeeinflussbaren Lieferschwierigkeiten gekommen sei. Tatsächlich besteht das Problem aber bereits seit dem Fahrplanwechsel im Dezember 2009 und man war ein Jahr lang überfordert.

Gestern nun wollte ich auf dem Rückweg nach Hause in Bergedorf in den Regionalexpress von Rostock nach Hamburg einsteigen. Die Mitnahme wurde ohne Angabe von Gründen abgelehnt. Das Problem ist also keineswegs abgestellt. Da der Aufzug zur S-Bahn auch nicht funktionierte, dauerte meine Fahrt zum Hauptbahnhof nicht 8 Minuten (mit dem RE), sondern über eine Stunde – mit Bus und U-Bahn über Mümmelmannsberg.

Klar, die Mobilität von Rollstuhlfahrern ist für unsere Gesellschaft eine Herausforderung. Der Aufwand, den einige Leute aus der Szene hier betreiben, ist beachtlich. Dennoch muss man ins Verhältnis stellen, dass ich an einem Tag bis zu zwei Stunden länger unterwegs bin (Hin- und Rückfahrt im schlimmsten Fall über Mümmelmannsberg), weil eine Strippe zu kurz ist. Das summiert sich – da ist es irgendwann mal effektiver, ein paar Briefe oder Blogeinträge zu schreiben.

Und wie der Verlauf und die Reaktionen zeigen, sehe ich nicht „uns Rollifahrer“ in der Schuld, dass so ein Aufriss sein muss: Es reicht eben nicht, dass man auf das Problem zeigt. Man merkt nicht „von selbst“, dass das so nicht geht. Es müssen vielmehr über Monate erst etliche Behörden eingeschaltet werden, bis der Druck groß genug ist, sich mal irgendwas zu überlegen.

Ob die momentane, bisher von mir nur auf dem Papier gesehene Lösung nun der Bringer sein wird, wird die Zukunft zeigen. Am Abstellgleis in Schwerin jedenfalls hat die Deutsche Bahn nach wie vor keine lange Leitung.

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