Lieber wild als gar nicht

Aufgeben kommt nicht in Frage.

Vielleicht kann ich den Kampf nicht gewinnen und muss über kurz oder lang eingestehen, dass ich als Mitglied einer Minderheit in einer unterlegenen Position bin, vielleicht ergibt sich daraus, dass ich meinen Schulbesuch abbrechen muss – in einem Staat, in dem die Verfassung die Diskriminierung von Minderheiten verbietet.

Vielleicht kann ich den Kampf nicht gewinnen und muss über kurz oder lang eingestehen, dass ich als behinderter Mensch auch körperlich unterlegen bin, vielleicht ergibt sich auch daraus, dass ich meinen Schulbesuch abbrechen muss – in einem Staat, in dem die Verfassung allen
Bürgern ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit garantiert.

Geht es eben doch um Mehrheitsverhältnisse und körperliche Kraft? Eigentlich, so hatte ich gedacht, haben sich Mehrheiten ohne körperliche
Gewalt mal auf etwas anderes geeinigt.

Rollstuhlfahrer werden niemals eine Mehrheit darstellen. Bei „Menschen mit Behinderung“ bin ich mir nicht so sicher, aber Rollstuhlfahrer? Nein. Und körperlich überlegen werden Rollifahrer auch nie sein. Deswegen kann ich nicht anders: Aufgeben kommt nicht in Frage.

Es gibt einige Bereiche, in denen ich bereit bin, Kompromisse zu schließen. Wenn jemand aus Versehen, weil er es nicht besser weiß oder nicht besser kann meine Rechte verletzt, bin ich meistens sehr nachsichtig. Aber es gibt bestimmte Bereiche, in denen ich nicht mit mir
diskutieren lasse: Einer davon ist die körperliche Unversehrtheit. Ich lasse es nicht zu, dass andere Menschen körperliche Gewalt auf mich ausüben. Auch nicht für ein paar Tage, auch nicht ein bißchen, auch nicht des lieben Friedens Willen.

Insofern kommen praktische Überlegungen, der ganze Zirkus könnte mich
mein Abi kosten, überhaupt nicht als Entscheidungsgrundlage in Frage. Dann kostet es eben mein Abi! Ich werde nicht brav zur Schule gehen, mich anrülpsen, mit Wasser bespritzen, mit Kopfnüssen traktieren lassen,
um mein Abi zu bekommen. Das stand nicht auf dem Lehrplan. Ich wehre mich. Auch wenn es der unangenehme Weg ist und ich damit anderen Leuten auf den Wecker gehe.

Ich möchte drei sehr interessante Beobachtungen aufschreiben.

Zuerst bin ich gestern von Hannah gebeten worden, bei einem Gespräch dabei zu sein, dass sie mit unserem Vertrauenslehrer führen wollte. Nicht Hannah selbst hatte um das Gespräch gebeten, sondern ihre Großeltern. Vielmehr der Großvater. Erst war ich etwas erstaunt, dann erklärte Hannah, dass ihre Eltern getrennt leben, die Mutter arbeite und
der Großvater darum gebeten hatte, mit einem Verantwortlichen sprechen zu dürfen. Hannah ist volljährig, dennoch schade es nicht, wenn die Schule mitbekomme, dass Angehörige besorgt seien.

Ich wartete also vor einem Besprechungszimmer, zusammen mit Hannah, als ein großer, alter Mann mit schneeweißen Haaren, im schwarzen Anzug mit Krawatte langsam um die Ecke bog. Schwerfällig, auf einen Gehstock gestützt. Er umarmte Hannah, er gab mir die Hand, und als ich zufasste, legte er seine zweite Hand auf meine, sagte: „Schön, dass Sie dabei sind.“

Er sprach eher langsam. Er hatte eine eher tiefe und kräftige Stimme.
Bei dem Gespräch wollte Hannahs Opa gar keine Einzelheiten hören. Es dauerte keine 10 Minuten. Er sagte nur: „Es sind schlimme Zustände hier.
Meine Enkelin hat Angst, auch wenn sie es nicht jedem zeigt. Aber als ihr Opa spüre ich das. Sie tragen Verantwortung für viele junge Menschen. Verantwortung ist etwas sehr schweres. Ich habe das Gefühl, manch einer macht es sich hier damit zu leicht.“

Der Vertrauenslehrer versuchte zu beschwichtigen, allerdings stellte Hannahs Opa eine sehr gute Frage: „Übertreiben die jungen Frauen?“ – Der
Vertrauenslehrer antwortete: „Wir nehmen die Sorgen unserer Schüler sehr ernst.“ – Hannahs Opa fragte erneut: „Sagen Sie es mir! Übertreiben
die jungen Frauen?“ – Der Vertrauenslehrer sagte: „Nein. Sie übertreiben nicht.“

Ich dachte erst, Hannahs Großvater wollte lediglich wissen, ob der Vertrauenslehrer seine Enkelin wirklich ernst nimmt. Aber dann sagte er:
„Doch, mein Herr, mit Verlaub, sie übertreiben. Alle jungen Menschen übertreiben. Manchmal. Es gehört dazu, dass jugendliche Menschen noch nicht so genau wissen, wieviel Kraft sie brauchen, um ein Ziel zu erreichen. Sie haben viel Kraft, sie zu dosieren fällt oft schwer. Aber als erstes ist wichtig, dass junge Menschen überhaupt kämpfen. Wer für etwas kämpfen kann, der kann auch lieben. Liebe ist die Wurzel unseres Lebens. Also lieber wild als gar nicht.“

Ich schluckte. Einen Moment überlegte ich, was das werden sollte. Er fuhr fort: „Aber es muss fair zugehen. Wer seine Erfahrungen gemacht hat, wer älter wird und weise, ist verpflichtet, seine Weisheit an die jungen weiterzugeben. Sie zu unterstützen und zu einem fairen Umgang miteinander anzuhalten, ist ihr Job, mein Herr. Und der ihrer Kolleginnen und Kollegen und ihrer Chefin und allen anderen hier. Die Schüler hier müssen nicht wissen, was ideale Zahlen sind. Aber wenn es jemandem gelingt, sie mit höherer Mathematik zu begeistern, so soll er diese Möglichkeit nutzen, sie zu aufrichtigen Menschen zu formen. Diese zweite, wesentliche Aufgabe haben die meisten Lehrer heute nicht mehr auf dem Plan.“

Der Vertrauenslehrer wollte antworten, aber Hannahs Opa redete einfach weiter. Ich weiß nicht, ob er es nicht verstand und etwas schwerhörig war, oder ob er einfach keine Unterbrechung zulassen wollte.
Er fuhr fort: „Wenn junge Menschen beim Kämpfen über ihr Ziel hinausschießen, dann ist der größte Fehler, sie bei ihrem Kampf nicht ernst zu nehmen. Kämpfende junge Menschen möchten Liebe und Frieden. Sie
brauchen unsere Unterstützung bei ihrem Kampf, damit sie richtig und fair kämpfen und ihre Ziele erreichen, bevor sie ihre ganze Munition verschossen haben.“ Ohne jede Pause sagte er dann: „Nun habe ich Sie aber lange genug aufgehalten.“ Verabschiedete sich und ging.

Nachdenkliche Worte? Die zweite Beobachtung war, dass mich in der Schule mehrere Mitschüler dazu motivieren wollten, nächsten Monat als Schülersprecherin zu kandidieren. Das finde ich zwar einerseits eine sehr gute Idee, andererseits möchte ich lieber an anderer Stelle kämpfen: Beim Sport. Übrigens gab es auch zwei Lehrer, die mich angesprochen haben und mich ermutigt haben, weiter den Finger in die Wunde zu legen.

Die dritte Beobachtung machte ich beim Klick auf meine Blog-Statistik. Mein Eintrag vom letzten Freitag ist bereits heute der am meisten gelesene Beitrag aller Zeiten und hat mit zur Zeit 34 und zum
Teil sehr langen Kommentaren sehr viel Anteilnahme ausgelöst. Dafür möchte ich mich bedanken. Ich muss nicht erwähnen, dass ich jeden einzelnen Kommentar genau durchlese und zum Teil auch sehr intensiv darüber nachdenke, oder?

Eine Sache ist nicht so einfach: Der Schulwechsel. Ich bin auf einem Gymnasium, das das Abi noch in Klasse 13 macht, während fast alle anderen Hamburger Gymnasien das Abi in Klasse 12 machen. Darüber hinaus habe ich mich nach Klasse 10 für einen besonderen Schwerpunkt entschieden, der in Hamburg kein zweites Mal angeboten wird. Ein Schulwechsel würde bedeuten, dass ich mindestens eins, eher zwei Jahre dranhängen müsste.

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