Es gibt Menschen, die schon mit einer Behinderung auf die Welt kommen, und es gibt welche, die sie im Laufe ihres Lebens bekommen. Das kann bereits während des Geburtsvorganges sein, das kann auch erst im hohen Alter sein. Die Gründe können vielfältig sein: Erkrankungen, Unfälle, Verbrechen, Selbstverletzung – um einige zu nennen.
Es gibt Menschen, die kommen auf die Welt, entwickeln sich völlig unauffällig, tragen aber eine genetische Information in sich, die im Laufe ihres Lebens zu einer Behinderung führt. So kenne ich einen Menschen, der mit 12 Jahren anfing zu stolpern und unsicher zu gehen, bis er mit 20 Jahren nur noch im Rollstuhl saß. Ein fortschreitender Prozess, dessen Prognose in der Fachliteratur wie folgt beschrieben wird: „Am Ende besteht ein ausgeprägtes körperliches Siechtum. Die Patienten sterben meistens an einer Entzündung des Herzmuskels infolge eines grippalen Infektes. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 40 bis 45 Jahren.“ Dabei sind diese Menschen am Ende so schwach, dass der Körper mit der Abwehr eines einfachen Schnupfens überfordert ist, sich der Herzmuskel entzündet und es zum Herzstillstand kommt – laienhaft beschrieben.
Da bin ich doch froh, „nur“ einen Unfall gehabt zu haben und nun zu wissen, woran ich bin. Querschnittgelähmte können heute durchaus 70 werden – oder älter. Dieser Mann, von dem ich schreibe, ist heute 35 und hat vermutlich keine 10 Jahre mehr zu leben. Sitzt im Rollstuhl, ist pflegebedürftig, eine Assistenz schläft nachts bei ihm zu Hause. Tagsüber sitzt er in seinem Büro und telefoniert. Schreibt Mails, schreibt Briefe, redet mit Leuten, plant, kalkuliert, den ganzen Tag. Sein Job: Er sammelt Geld, damit Menschen mit Behinderungen Sport machen können. Pro Jahr bis zu 200.000 Euro, wobei Einzelbeträge kaum fünfstellig sind. Das meiste liegt im dreistelligen Bereich. „Kleinvieh macht auch Mist“, sagt er. Das gesammelte Geld kommt nur Menschen zugute, die selbst kein Geld haben. Pro Jahr werden zwischen 200 und 250 Personen unterstützt.
Er selbst macht diese Tätigkeit im Ehrenamt. Verdient damit keinen Cent. Nach einem erfolgreichen Studium hat man ihn berentet, weil er für den Arbeitsmarkt aufgrund seiner Behinderung nicht zu gebrauchen sei, habe ihm die Rentenversicherung mitgeteilt. So bekommt er eine kleine Rente, unter 10.000 Euro pro Jahr, führt ein bescheidenes Leben. Ich glaube, er hat gerade mal ein paar Schuhe, für eine warme Jacke scheint das Geld nicht zu reichen. Ich habe bei ihm noch nie eine gesehen. Um zum Sozialamt zu gehen, ist er zu stolz: „Das schaffe ich auch alleine“, sagt er. Bei der kleinen Rente reicht es natürlich nicht für mehr als eine Einzimmerwohnung in einem Haus, das 1950 gebaut wurde – auf dem freifinanzierten Wohnungsmarkt. Wie bereits erzählt, benötigt er auch nachts Assistenz – die Pflegeperson schläft also in demselben Raum, in dem auch er schläft.
Nun hat er, da sein Gesundheitszustand immer schlechter wird, in diesem Winter war er vier Monate durchgehend krank, hatte eine Herzmuskelentzündung, die er aber zum Glück überlebt hat, beim zuständigen Wohnungsamt beantragt, eine größere (Sozial-)Wohnung beziehen zu dürfen. Wir erinnern uns: Rollstuhlgerechte Wohnungen gibt es in Hamburg nur mit Erlaubnis des Wohnungsamtes. Eine entsprechende Wohnung hat er in Aussicht, nur muss er sich schnell bewerben, denn (rollstuhlgerechter) Wohnraum ist in Hamburg Mangelware und jede halbwegs brauchbare Wohnung schnell vergriffen.
Nach Prüfung über das Gesundheitsamt sei über den Eilantrag nach vier Wochen entschieden worden: Abgelehnt. Er brauche für sich alleine keine zwei Zimmer. Es reiche eins. Und das habe er ja. Auf die besonderen Bedingungen mit der nächtlichen Assistenz/Pflege gehe man gar nicht ein, sie bleiben, so die Ausführungen, unberücksichtigt.
Ein wirklich bescheidener Mensch, der ehrenamtlich arbeitet, um andere glücklich zu machen, seine gesamte Freizeit dafür opfert, bekommt von der Gesellschaft bei der Frage, ob er sich selbst eine größere Wohnung anmieten darf (er will ja nicht die Miete bezahlt haben, er will nur die Erlaubnis, diese Wohnung anmieten zu dürfen; da die Sozialwohnung pro Quadratmeter nur halb so teuer ist wie die halb so große rolligerechte Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt, würde er auch diese selbst bezahlen können), eine lange Nase gezeigt. Nun weiß die zuständige Stelle beim Amt nicht, was für ein Mensch er ist, aber trotzdem: Er hätte zumindest einen moralischen Anspruch darauf, einen zweiten Raum zu bekommen. Gesetzlich ist es in Hamburg nicht geregelt, es liegt im Ermessen des zuständigen Wohnungsamtes.
Nun ist die Stelle, die die Wohnberechtigungsscheine ausstellt, nicht dieselbe wie die, die die Wohnungsvergabe kontrolliert, und vergebende Stelle sagte bereits: „Sie bekommen von mir eine größere Wohnung, das ist zwar gegen das Gesetz, aber ich habe das OK von meinem Chef bekommen, uns wird die Prügel, die wir hier beziehen, weil wir uns nicht an die Vorgaben gehalten haben, nicht umbringen.“ Die makabere Doppeldeutigkeit war wohl nicht beabsichtigt.
Er sagt: „Für andere zu kämpfen, das mache ich täglich mit viel Freude. Aber für mich selbst – das ist zermürbend. In diesem Fall nützt mir meine ehrenamtliche Tätigkeit: Ich bin bis nach ganz oben vernetzt. Und dort oben hänge ich diese Sache jetzt auf und fordere eine Grundsatzentscheidung zu diesem Thema. Weil dieser Zirkus jeden Tag wieder passiert. Und immer nur in einem Stadtteil – in jedem anderen hätte ich den zweiten Raum bekommen.“
Auch wenn er alleine kämpfen will, bekommt er bereits von Frank und anderen Menschen Hilfe. Von mir auch, indem ich diese Geschichte über ihn schreibe. Einen solchen Umgang hat dieser Mensch wirklich nicht verdient. Ich könnte heulen, so schäme ich mich (fremd) für diese A… auf dem Amt.