Nicht kopfgesteuert

Inzwischen haben wir alle uns in unserem neuen Zuhause recht gut eingelebt, die Aufzüge funktionieren nun zuverlässig, gemeinsames Essen, Fernsehen läuft problemlos, Rücksichtnahme bei der Benutzung der Waschmaschine, beim Musikhören etc. ist auch okay – insgesamt stellt sich ein gewisser Alltagstrott ein.

Ein Mitbewohner ist mit 15 von zu Hause ausgezogen, er sagt, es gebe Probleme mit den Eltern. Eine Sozialarbeiterin kümmert sich um ihn, kommt ihn regelmäßig besuchen. Ich selbst schätze ihn als sehr intelligent ein, allerdings fehlt es ihm, und das sage ich ohne gemein sein zu wollen, deutlich an emotionaler Reife. Er hat eine Gehbehinderung, verglichen mit einem Querschnitt ist sie banal, verglichen mit anderen Jungs in seinem Alter ist sie heftig. Er sagt, sie sei psychisch bedingt und habe mit dem elterlichen Konflikt zu tun, ich vermute hingegen, es könnte auch eine organische Ursache haben, auf die noch keiner gekommen ist.

Jedenfalls tauchen die Eltern hier regelmäßig auf und nerven rum. Die Sozialarbeiterin bekommt das nicht in den Griff, ich mische mich da aber nicht ein. Gestern morgen nun holt uns der Vater alle aus den Betten und bittet uns zu einem Gespräch in den Gruppenraum ein Stockwerk tiefer. Es sei dringend, es gehe um seinen Sohn und betreffe uns alle, nur soviel vorweg: Er habe uns allen Leid zugefügt.

Selbstverständlich haben sich die Eltern für diese Szene den richtigen Moment ausgesucht, den Frank und Sofie und all die Leute, die notfalls sehr autoritär auftreten können, waren nicht da. Wir kamen in den Gruppenraum, unser Mitbewohner sitzt auf einem Stuhl und ist sichtbar bemüht, nicht zu heulen, die Mutter sitzt auf einem Sofa und macht ein Gesicht wie drei Jahre Regenwetter und der Vater wirkt eiskalt und beängstigend ruhig. Ich hatte sofort im Gefühl, dass uns hier nichts Gutes erwartet.

Als alle da waren, sagte der Vater, dass sein Sohn die vollen Konsequenzen für sein Handeln tragen wird. Er wollte selbst was sagen, aber der Vater beachtete ihn gar nicht, ich kam mir vor wie vor einem Strafgericht. Okay, der Junge hatte irgendwas ausgefressen, aber muss deshalb so eine Show sein?

Unser Mitbewohner hat uns alle beklaut. Und zwar: Wäsche. Vorwiegend Unterwäsche oder Schlafwäsche, Sportsachen, BHs, Strumpfhosen, Leggings, natürlich nur von Mädels und natürlich nur von den jüngeren. Am schlimmsten hat es Cathleen getroffen, von mir hatte er aber auch was dabei. Entdeckt hatten sie das ganze wohl schon ein paar Tage davor, inzwischen hatte die Mutter zu Hause alles gewaschen und in einem Wäschekorb, der anfangs noch unter einer Wolldecke versteckt war, wieder mitgebracht. Unser Mitbewohner hatte ein Gesicht wie eine Bombe, ich hatte große Sorge, dass der gleich vom Stuhl kippt, und der Vater redete mit einer Seelenruhe weiter und forderte seinen Sohn auf, allen zu erzählen, was er mit den Klamotten gemacht hat!!!

Wie aus einem Mund haben mindestens 5 Leute gesagt: „Das will ich gar nicht wissen.“ Ich meine, was wird der schon damit gemacht haben? Sich darin oder damit selbst befriedigt. Ohne Frage, das ist nicht in Ordnung, aber er ist auch nicht der einzige, der sowas macht und auch nicht der erste, der mir dafür die Klamotten klaut. Aufmerksame Leser erinnern sich…

Obwohl mir der Vater nicht geheuer war und obwohl mir das Herz bis in den Hals klopfte, sagte ich zum Vater, dass ich das zwar nicht in Ordnung finde, was sein Sohn gemacht hat, aber dass ich noch weniger in Ordnung finde, wie er ihn hier vorführt. Ich hätte es besser gefunden, wenn der Sohn zu mir ins Zimmer gekommen wäre und mir das von sich aus erzählt hätte. Der Vater antwortete, dass er seit einiger Zeit keinen Sohn mehr habe, ich ihm seinen Erziehungsstil aber bitte selbst überlassen solle. Die Widersprüchlichkeit seines Gelabers bekam er allenfalls zu spät mit.

Immerhin hatte ich es geschafft, seine Show mit meinem Einwurf soweit zu stören, dass sich die meisten Leute entfernten. Ich setzte noch einen drauf und bat unseren bösen Mitbewohner, später mal in mein Zimmer
zu kommen, sobald seine Eltern weg sind.

Als er später klopfte, war er völlig aufgelöst. Aus ihm war kaum ein Wort rauszukriegen, er war so eingeschüchtert und apathisch, dass ich überhaupt nicht mehr wusste, was ich ihm sagen sollte. Ich hatte Angst um ihn und dachte, er tut sich etwas an.

Keine Frage, beklaut zu werden, noch dazu von Mitbewohnern, ist etwas, was so gar nicht geht. Inzwischen weiß ich, dass er die Klamotten aus der Waschmaschine genommen hat bzw. aus dem Wäschekorb, wenn ich ihn schon neben die Maschine gestellt hatte, während die Maschine noch mit der Waschladung davor beschäftigt war. Er hat mir dann auch erzählt, dass der Karton Windeln, der hier im Haus auf dubiose Weise weggekommen
ist vor ein paar Wochen (stand vor meiner Tür, weil ich nicht da war, als er geliefert wurde, war aber später spurlos verschwunden) auch auf sein Konto ging.

Für mich ist die Sache noch nicht gegessen. Am meisten beschäftigt mich die Frage, wie er darüber denkt, dass ich ihm kaum noch vertrauen kann. Ob er sich darüber im Klaren ist. Ich hätte mir ein offenes Gespräch gewünscht, bei dem er mir zumindest sagt, dass das nicht wieder vorkommt und wie er künftig damit umgehen will. Klar, viel verlangt von einem 15jährigen, aber doch wohl nicht zu viel. Ich hoffe, dass er, wenn er sich wieder beruhigt hat, noch dazu durchringen kann. Es wird ihm schon keiner den Kopf abreißen, jeder baut mal Scheiße, manchmal auch große Scheiße – und er ist auch nicht der einzige, der sich selbst befriedigt. Andererseits wird es ihm bei dem Vater vermutlich so vorkommen.

Die Klamotten will ich nicht zurück haben. Ich finde es eklig. Bei meinem Freund wäre es etwas anderes gewesen, aber eine Person, zu der ich mich so gar nicht hingezogen fühle … nee. Ich hoffe, er findet künftig einen anderen Weg, mit seinen Bedürfnissen umzugehen.


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert