Dass sie sich jetzt die zweite Woche in Folge ein mit öffentlichen Verkehrsmitteln völlig ungünstig erreichbares Schwimmbad am Stadtrand aussucht, um mich zu sehen, liegt wohl daran, dass unsere Trainingstermine nicht veröffentlicht werden und sowohl der Triathlonverein, in dem ich trainiere, als auch der Rollstuhlsportverein, über den ich meine Startlizenzen habe, telefonisch keine Auskünfte erteilen. Dann muss meine Mutter auf Informationen zurückgreifen, die sie aus früheren Zeiten hat.
Verfolgungswahn? Keineswegs. In der letzten Woche riefen mich nacheinander zwei Funktionäre aus diesen beiden Vereinen an und teilten mir mit, dass jemand meine Adresse herausfinden wollte. Mit unterdrückter Rufnummer und mit falschem Namen. Beide Male war es eine Journalistin, die bei einer großen Hamburger Tageszeitung arbeiten will, wo sie aber niemand kennt. Eine Rückrufnummer gab es nicht, man hatte lediglich Interesse an meiner privaten Anschrift…
Das könnte jeder gewesen sein – es war aber eben nicht jeder. Während ich mit meinen Leuten im Becken trainiere, bemerke ich, wie von der Stirnseite des Beckens (dort ist etwas mehr Platz und da stehen in der Regel dann auch so zehn bis fünfzehn Rollstühle) jemand mit Blitzlicht fotografiert. Weil das in Schwimmhallen eher unüblich ist, riskiere ich einen Blick und sehe: Meine Mutter. Von den Füßen abgesehen vollständig bekleidet, hantiert sie dort mit einem Fotoapparat.
Ich könnte das jetzt seitenweise ausschmücken, versuche mich aber kurz zu fassen: Sie hat zuerst versucht, mich aus dem Training rauszulösen, indem sie meine Trainerin vollgequatscht hat. Angeblich müsse sie dringend mit mir reden. Meine Trainerin hat mir hinterher erzählt, dass sie meiner Mutter gesagt hat: „Ich bin hier nur für das Programm zuständig. Ob und wie die Leute mitmachen, entscheiden sie selbst. Sie müssen Jule also schon selbst fragen, ob sie jetzt Zeit für Sie hat oder ob das nicht noch eine Stunde warten kann.“
Als ich dann endlich aus dem Becken raus war, wollte sie mich in der kalten Halle volltexten. Ich hab sie mehr oder weniger stehen lassen und gesagt, dass ich jetzt duschen fahre und ich im übrigen nicht wüsste, was sie von mir will, schließlich hatte ich sie gebeten, dort nicht aufzutauchen. Im Vorraum, an der Kasse, passte sie mich dann noch einmal ab und meinte vor allen anderen Leuten, dass ich dringend eine Therapie machen müsste und mich so zu meinem Nachteil verändert hätte. Ich würde gar nicht mehr merken, wie schlecht es mir eigentlich ginge und ich hätte mich in meiner „Behindertenrolle“ völlig verrannt. Ich sollte einen Neuanfang wagen und dazu über meinen Schatten springen. Ich sollte mir vor Augen führen, was andere Kinder für das Interesse meiner Mutter geben würden!
Das sind diese Bemerkungen, die ich absolut nicht leiden kann und ich musste mir auf die Lippe beißen, um nicht in völliger Boshaftig- und Fiesheit zu antworten: „Dann unterhalte Dich doch mit den anderen Kindern.“ Ich sagte stattdessen: „Lass mich einfach nur in Ruhe.“
Ich war auf dem Weg nach draußen, sie hielt mich am Ärmel fest und schrie: „Merkst du gar nicht, wie krank du bist? Du bist krank, Jule. Du bist richtig, richtig krank.“ – „Hör auf, hier so eine Szene zu machen und lass meine Jacke los.“ – „Du versteckst dich hinter deiner Behinderung. Du bist nicht mehr du selbst. Dieses Schwimmtraining hier, dieser Drill, alles nur, um dir etwas zu beweisen. Du hast deine Situation noch immer nicht vertanden und versuchst so zu tun, als wäre alles wie früher. Du selektierst die Menschen nach denen, denen du was vorspielen kannst und denen, die dein wahres Gesicht kennen.“
„Jetzt hör endlich auf, hier rumzuschreien. Was sollen meine Freunde von dir denken, wenn du dich hier so aufführst?! Das ist ja endlos peinlich.“ – „Dann sag ich es dir nochmal ganz ruhig: Das sind nicht deine Freunde, und genau das ist dein Problem. Du lässt normale Kontakte nicht mehr zu. Du bist krank, Jule. Du umgibst dich mit Menschen, die alle ein zentrales Problem haben: Sie können ihr Schicksal nicht akzeptieren und versuchen, dagegen zu kämpfen. Du bist nahezu besessen davon, dass dich niemand dabei stört. Du lebst in einer Parallelwelt, hast eigene Regeln!“
Da es keinen Sinn hatte, dagegen zu argumentieren, erwiderte ich: „Das mag ja alles sein, aber trotzdem möchte ich keinen Kontakt zu dir und ich möchte auch nicht, dass du hier auftauchst. Akzeptier das einfach.“ – Sie fuhr fort: „Warum hast du dich obdachlos gemeldet? Was führst du im Schilde? Bekommst Du Sozialhilfe? Ich habe keine Lust, für dich irgendwann ins Gefängnis zu gehen!“ – „Du gehst nicht ins Gefängnis. Ich bin nicht obdachlos und ich bekomme auch keine Sozialhilfe. Es ist alles gut. Ich führe mein Leben, du führst dein Leben und wir gehen uns gegenseitig nicht auf den Wecker. Okay?!“
Dieses Schreiben hier“, sagte sie und faltete einen Zettel auseinander, „habe ich vom Zentralen Einwohneramt bekommen. Darin schreibt man, dass du obdachlos bist. Lies selbst!“
Auskunft aus dem Melderegister – Sehr geehrte Frau …, auf Ihre Anfrage können wir Ihnen aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen keine Auskunft erteilen. Mit freundlichen Grüßen
Soviel zum Thema ‚Verfolgungswahn‘ und ‚Journalistin‘. Als Mutter habe sie das Recht auf den Kontakt zur eigenen Tochter. Heftig. Ich fragte: „Ja und?“ – Sie antwortete: „Was ‚ja und‘? Schämst du dich nicht?“ – „Wofür? Du hast eine Auskunft verlangt, du hast sie nicht bekommen. Ganz einfach.“ – „Nichts ist einfach. Du hast dich obdachlos gemeldet, damit niemand weiß, wo du wohnst. Jule, das ist krank. Du brauchst eine Therapie.“ – „Da steht nicht, dass ich obdachlos bin, sondern dass du keine Auskunft über mich bekommst. Das ist ein Unterschied.“ – „Du hast auf alles eine Ausrede.“
Tatjana kam drei Schritte auf mich zu. „Wenn ich dir jetzt noch beim Einladen helfen soll, müssten wir jetzt los. Ich muss nämlich schnell nach Hause, mein Freund wartet mit dem Essen auf mich.“ – Klare Geste. Vielen Dank. Während ich zum Auto rollte und den Rolli verlud, stellte sich Tatjana demonstrativ zwischen mich und meine Mutter. Als ich dann mit dem Auto losfuhr, schob Tatjana meine Mutter mit den Worten: „So, und nun stehen wir hier auch nicht im Weg.“ zur Seite. Und tschüss. Für nächste Woche muss ich mir was einfallen lassen. Vermutlich läuft es auf eine einstweilige Verfügung hinaus. Es wird nie langweilig.