Eigentlich hatten wir vor langer Zeit mal einstimmig beschlossen, dass sich Anfahrt und Abfahrt plus Teilnahmekosten für dieses eine Wochenende nicht lohnen würden. Anfang letzter Woche fragte unsere Trainerin, ob wir uns nicht kurzfristig neu entscheiden wollen, denn ein bayerisches Team hatte abgesagt und wir müssten nur noch die Hälfte für Unterkunft, Verpflegung und Honorar zahlen: 125 Euro pro Person für ein Wochenende (statt 250). (Einschließlich Fahrtkosten dann 250 Euro statt ursprünglich 375 Euro.) Die Rede war von einem bundesoffenen Trainingslager in Nord-Nord-Rhein-West-Fa-Len.
Nun wollten doch insgesamt 16 Leute aus Hamburg dorthin fahren und irgendwie ist es immer wieder faszinierend, welches Organisationstalent unsere Trainerinnen und Trainer an den Tag legen. Innerhalb von zwei Tagen waren Hin- und Rückfahrt organisiert, das Geld eingesammelt, die Trainingspläne standen fest und vor allem der Shuttle zwischen Unterkunft und Trainingsstrecke (3 km entfernt) war organisiert. Eine Zettelwirtschaft und Materialschlacht ohne Ende, immerhin mussten 16 Behinderte, 16 Alltagsstühle, 16 Rennrollis oder 16 Rennbikes hin- und hergegurkt werden. Neunzig oder 180 Minuten dauerte eine Einheit und nicht alle machten zur selben Zeit dasselbe Programm. Man musste also genau aufpassen, wessen Bike und wessen Rennrolli verladen werden musste, wer in der Schwimmhalle war oder wer beim Gerätetraining. „Finde ich hier heute irgendein Rad, irgendein Kissen, irgendein Ersatzteil, irgendeine Sporttasche oder sogar einen ganzen Stuhl, an dem kein Aufkleber mit Namen, rechts, links, oben, unten, Ersatz oder sonstwas steht, wird der Gegenstand amtlich eingezogen und am Sonntag meistbietend versteigert.“ Klare Ansage mit großer Wirkung: Noch vor dem ersten Verladen in Hamburg ging das große Beschriften los. Schön, wenn man (wie ich) zu Hause ein P-Touch-Gerät hat und sowieso schon überall mein Name draufsteht…
Ich könnte jetzt über dreißig Absätze schreiben, wie toll es war, aber ich glaube, das würde nach dem zweiten Absatz langweilig werden. Also: Es war sehr toll.
Die Unterkunft war klasse (einfach, aber sauber, gepflegt und relativ neu), das Essen war für Kantinenverhältnisse sehr gut, die anderen Trainer waren auch in Ordnung, die Leute waren nett, die Trainingsstrecke war okay, die Schwimmhalle und der Kraftraum auch. Lediglich einen weiteren Massagetermin hätte ich gerne gehabt. Aber wenn
das alles ist, was ich an Kritik vorbringen kann, darf sich der Veranstalter doch lobend auf die Schulter klopfen!
Genug zu Lachen gab es auch diesmal wieder. Sven war auch wieder dabei, allerdings nur bis Samstag morgen. Nachdem wir ja beim letzten Mal umfangreich das Thema „Selbstbefriedigung“ eruieren mussten, begann diesmal seine breit angelegte Konversation mit den Mädels mit einer Massen-SMS: „Schon den ganzen Tag Erektion. Was kann ich tun?“ – Jetzt mal ganz im Ernst: Der Typ hat Mittlere Reife. Auch wenn es in seiner Hose vielleicht hochexplosiv zugeht, die Gefahr, dass so eine SMS etwas ganz anderes zündet, muss ihm doch klar sein!!! Ich begreife so etwas nicht. Ich habe über die SMS nur die Augen verdreht, Cathleen hat, als sie das im Zimmer las, gefragt, was er jetzt von uns erwartet, und eine andere Teilnehmerin ist zu den Trainern gegangen und hat dort eine Szene gemacht. Ende vom Lied: Sven wurde am Samstag morgen mit hochrotem Kopf von seiner kleinlauten Muddi abgeholt.
Eine andere frühzeitige Heimreise konnten wir gerade noch verhindern, allerdings stand hier etwas ganz anderes im Raum. Normalerweise werden aus gutem Grund keine Teilnehmer mitgenommen, die jünger als 14 sind. Ein Mädel, Emily, angeborene Querschnittlähmung, 12 Jahre alt, ist aus Schleswig-Holstein nach Hamburg gezogen und hatte in Schleswig-Holstein bereits immer im Rennrolli trainiert und ist seit vier Monaten regelmäßig beim Nachwuchstraining. Ihre beste Freundin ist Lisa, jene inzwischen 15-jährige mit frühkindlicher Hirnschädigung, die seit zwei Jahren bei uns trainiert und über die ich auch schon mehrmals geschrieben hatte. Die beiden hatten ein Zimmer zusammen und Emily bekam am Freitagabend so derbe Heimweh, dass sie nur noch mit Handy am Ohr heulend im Rolli saß und ihrer Muddi erzählte, wie dolle sie sie vermisse. Es war kurz davor, dass die Mutter sie abholen wollte, als es uns endlich gelang, sie mit einer Miniparty abzulenken. Ein paar jüngere Leute in unser Zimmer (wir waren direkt daneben), die beiden auch verpflichtet, Gummibärchen, Erdnussflips, ein Unospiel und zum Schluss auch noch Ligretto, dann gemeinsam Zähneputzen und den beiden eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen. Cathleen und ich haben uns zu den beiden ins Bett gesetzt, Cathleen hat vorgelesen, ich hatte Emilys Kopf auf dem Schoß und durfte ihr den Kopf kraulen… Am Ende haben wir die beiden ordentlich zugedeckt und dann war es okay. Am nächsten Tag war Emily das schon wieder voll peinlich, aber als ich sie später gefragt habe, ob wir abends nochmal was vorlesen sollen, wollte sie unbedingt.
Ich sehe schon den ersten Kommentar auf mich zukommen, ich würde das Mädel bloßstellen, indem ich von diesem Abend schreiben würde. Vielleicht sollte ich erwähnen, dass diese Miniparty zustande gekommen ist, nachdem alle Leute mitbekommen hatten, dass es Emily so dreckig ging und dass sie Heimweh hatte. Es heißt immer, Behinderte wollen kein Mitleid. Für ihre Behinderung sicherlich nicht, das ist richtig. Aber wieviel Mitgefühl und Einfühlungsvermögen ich an diesem Wochenende erlebt habe, besonders bei den jüngeren Teilnehmerinnen und Teilnehmern, wie lieb die zu Emily waren, sie getröstet haben, als sie so gelitten hat, ist schon beachtlich. Ich weiß nicht, ob Heimweh eine Schwäche ist. Ich finde aber, es gilt genau das, was auch sonst in Bezug auf die Behinderung gilt: Verberge sie nicht. Das funktioniert nämlich nicht. Und wenn sie dich herausfordert, dann führe sie offensiv vor.
Lisa hingegen versucht noch immer, das richtige Maß zu finden. Sie stammt aus einer stinkreichen Familie, die Eltern leben in einer Villa mit Elbblick und eigenem Personal. Zu Hause werden von Lisa nur die besten Manieren erwartet, jedoch sind sowohl Mutter als auch Vater sehr umgänglich und sehr offen. Ich mag beide sehr gerne. Lisa ist in ihrer geistigen Leistungsfähigkeit nicht eingeschränkt, allerdings ist ihr ganzer Körper durch die Hirnschädigung spastisch gelähmt, das bedeutet, besonders bei schnellen und gegensätzlichen Bewegungen verkrampfen sich ihre Muskeln. Handbiken und vor allem Rennrollifahren ist nunmal schnell und es braucht regelmäßige, zum Teil gegensätzliche Bewegungen, so dass sie eine ungeheure Disziplin aufbringen muss, um eine Leistung zu erreichen. Und: Es dauert immer ein wenig, bis ein Funken überspringt. Deshalb ist sie keineswegs dumm, nur sie wirkt dadurch oft sehr naiv. Oft merkt sie erst nach einigen Sekunden, dass sie einen Witz gemacht hat und nach weiteren Sekunden, warum das so witzig ist. Dadurch entsteht mit ihr oft eine herrliche Situationskomik. Und das schönste ist: Sobald der Witz auch bei ihr angekommen ist, kann sie so derart herzlich über sich selbst lachen, dass immer etwas fehlt, wenn sie mal nicht dabei ist.
So saßen „die älteren“ am Samstagabend zusammen und wollten „Privacy“ spielen. Lisa kam um die Ecke gerollt und wollte unbedingt mitspielen. Irgendeiner machte den Spruch, dass Lisa noch nicht mitspielen dürfe, da
die meisten Fragen unter der Gürtellinie seien und sie erst 15 sei. Lisas spontane Antwort: „Mir macht das nichts! Ihr könnt mich nicht mehr versauen, ich bin schon versaut!“ – Die Leute lagen vor Lachen fast unter dem Tisch, als sie merkte, was sie da redete und anfügte: „Ein bißchen versaut, wollte ich sagen. Ein bißchen! Nicht so doll, wie ihr gleich wieder denkt.“
Am Samstag, nach dem Mittagessen, stand bei den meisten von uns eine Einheit im Rennrollstuhl auf dem Plan. Alle sitzen frierend in ihren Stühlen und warten darauf, dass der letzte startbereit ist, als Lisa betont laut rülpst, und zwar gleich zwei Mal nacheinander. Eine Mutter aus Hessen, die sich als Shuttle-Dienst bereitgestellt hat und daneben stand, guckte sie entgeistert an und meinte: „Sag mal! Benimmt man sich so als Mädchen?“ – Daraufhin sagte Lisa: „Wir sind hier beim Sport und nicht auf einer Schönheitsfarm!“ – Womit sie Recht hat, das ist der Standardspruch, den unsere Trainer predigen, wenn Anfänger sich über Schweiß/Schmutz im Gesicht, Rotze am Ärmel, angepinkelte Hosen, bekleckerte Oberteile, Sand in den Haaren oder ähnliches aufregen. Was sie nur nicht sah: Die Shuttle-Muddi konnte vor lauter Botox kaum noch das Gesicht bewegen und hatte die ganze Zeit nur Angst um ihre Fingernägel und ihre Designerhose. Über den Kommentar war sie sichtlich geknickt. Lässt sich nicht mehr ändern. Was das Aussehen betrifft, die Mutter ist halt für sich selbst verantwortlich und wenn sie so glücklich
ist, soll sie so rumlaufen, ist mir egal. Der Brüller aber war, als Lisa uns später fragte, ob sie sich nochmal entschuldigen müsste. „Ich hab erst später gemerkt, dass die Beautyfarms wohl sehr toll findet.“
Spruch Nummer drei hat sich Lisa erstmal verkniffen. Der ging nämlich ebenfalls gegen die Mutter. Sie brauchte etwas Aufmerksamkeit und immer, wenn sie mit ihrem Auto auf den Parkplatz vor der Unterkunft fuhr, machte sie alle Fenster auf und drehte das Autoradio laut mit immer demselben Song: „Erbarme – zu spät – die Hessen kommen!“ Und war sichtlich mitgenommen, wenn das bei fünften Mal niemand mehr lustig fand. „Was seid ihr hier für eine ernste Gesellschaft? Es ist Karneval in Deutschland!“ Lisa sagte, als sie wieder weg war: „Irgendwas begreif ich da nicht. Sie kommt doch aus Hessen, wieso macht sie dann dieses doofe Lied an?“
Am Samstagabend war als Ausgleichstraining Schwimmen dran. Alle Hamburger Mädels in einer Bahn. Zwei Einheiten hintereinander, also 180 Minuten. Jeder hatte seine Plastik-Trinkflasche am Rand, jeder hatte ein
individuelles Programm, nach zwei Stunden war ich eigentlich reif fürs Körbchen, aber man beißt sich ja durch. Als ich endlich aus dem Wasser war, wollte ich nur noch eine heiße Dusche, mein Abendessen (halbes Schwein auf Toast) und mein Bett. Okay, es gab dann doch noch einen Spieleabend, aber für den ersten Moment hatte ich erstmal genug. Zu allem Überfluss mussten wir im Umkleideraum noch darauf warten, dass die Duschen frei wurden, denn ein Duschraum war jeweils mittig zwischen zwei Umkleideräumen angelegt und in dem Moment duschte ein anderes Team.
Also saßen wir frierend im Handtuch eingewickelt mit acht Leuten und warteten darauf, endlich duschen zu können. Etliche hatten ihr Smartphone in der Hand und informierten sich, was sie in den letzten drei Stunden versäumt hatten. So auch Lisa, die sich auf eine Holzbank gekauert hatte und in Facebook vertief war. Während ich mich mit Cathleen unterhielt, fing es plötzlich irgendwo zu plätschern an. Was bei acht Leuten mit Blasenlähmung passieren kann, vor allem, wenn zwischen Schwimmen und Duschen noch keiner der Leute, die es tun müssten, eine Windel trägt. Ohne eine Miene zu verziehen und ohne den Blick vom Handy zu lösen, murmelte Simone neben uns: „Irgendjemand ist hier undicht. Ich bin es nicht.“ Als niemand reagierte, schaute sie dann doch in die Runde. Cathleen und ich guckten auch und sahen Lisa, die im selben Moment erschrocken versuchte, ihr Handtuch, in das sie eingewickelt war, vom Körper zu bekommen. Eigentlich hat Lisa uneingeschränkt Kontrolle über ihre Blase. „Ich bin so doof!“, rief sie.
„Ich träum hier vor mich hin und hab ganz vergessen, dass ich ja nicht mehr im Wasser bin.“ – Die Leute lachten so laut, dass Tatjana vom Flur reinkam und fragte, ob bei uns alles in Ordnung ist. Als sie wieder draußen war, sagte Lisa: „Ich weiß gar nicht, warum ihr alle lacht, das war nur aus Versehen.“ – Erneutes Gegacker. Einige Sekunden später: „Ach du Scheiße, jetzt hab ich es auch verstanden. Ich bin so peinlich! Meint ihr, Tatjana hat was gemerkt?“ – „Tatjana merkt alles.“ – „Ich frag sie nachher!“ – Erneutes Gelächter.
Am Abend sitzen wir mit Tatjana in einer Runde an einem Kaminfeuer. Lisa darf ein Bier. Sagt Papa. Wenn der Abend lang ist, auch ein zweites. Lisa verhandelt nun, ob ein Bier dasselbe ist wie zwei Flaschen
Green Lemon. Tatjana antwortet: „Dein Papa meinte ein Bier 0,3. Lemon hat 0,5. Also darfst du ein Lemon 0,5. Wenn der Abend lang ist, auch zwei.“ Lisa zieht ab, holt ihr Handy, Taschenrechner auf und rechnet aus: 330 ml x 2 = 660 ml. Mal 4,9% Alkohol = 3234 ml%. „Wenn ich nun 3234 ml% durch 2,5% von den Green Lemon teile, sind das 1294 ml. Also darf ich zwei Flaschen und etwas mehr als eine halbe von dem Green Lemon. Jule, teilst du dir mit mir meine dritte Flasche?“ – „Wenn du drei Flaschen von dem Zeug säufst, pinkelst du heute nacht ins Bett.“ – „Gar nicht! So’n Quatsch. Ich geh vor dem Schlafen aufs Klo und nachts werd ich wach, wenn die Blase voll ist! Ich bin ja kein Querschnitt wie du!“ – Na vielen Dank. Aber Rache ist süß: „Wolltest du Tatjana nicht noch was fragen?“ – „Nee, was?“ – „Umkleideraum.“ – „Achja: Sag mal, Tatjana, kannst du das eigentlich sehen, wenn jemand ins Schwimmbecken pinkelt?“ – Tatjana antwortete, ohne mit der Wimper zu zucken: „Aber sicher! Das kann man vom Beckenrand total gut sehen, vor allem, wenn die Unterwasserbeleuchtung brennt.“ – Lisa, mit ernster Miene: „Scheiße.“
Nachdem sich die Leute die Lachtränen aus den Augen gewischt haben, fragte Lisa: „Kann man das nun wirklich sehen?“ – Tatjana schüttelte den Kopf. „Die Wasseroberfläche ist so unruhig und so gebrochen, da sieht man nichts. Vor allem nicht auf die Entfernung.“ – „Siehst du“, krähte Lisa in meine Richtung, „man sieht doch nichts. Du hast mich wieder voll verarscht. Ich bin hier wieder das Opfer.“ – Ich konnte nicht anders, als sie an mich heranzuziehen und sie fest zu knuddeln. Ich sag es immer wieder: Soooo süß.