Little Dolly und ein Bad im See

Einige kriegen eben nie genug – ich gehöre auch dazu. Letztes Wochenende war ein tolles Trainingslager, dieses Wochenende war ursprünglich ein nächtliches Training am Elbdeich geplant, das wurde aber nun wegen des besagten Trainingslagers gestrichen. Nur bleibt es uns ja unbenommen, trotzdem zu trainieren. Allerdings dann auf dem Wanderweg, nicht auf der Fahrbahn. Das wäre ohne Begleitfahrzeug oder Straßensperre lebensgefährlich. Gerade auf dieser Deichstraße rasen die Autofahrer nämlich gerne.

Ursprünglich wollten Yvonne, Simone, Cathleen, Nadine, Kristina, Merle und ich uns treffen, also fast mein komplettes Team, dann hatten aber Yvonne, Nadine und Merle kurzfristig wegen eines grippalen Infekts wieder abgesagt. Dafür rief mich die Mutter von Lisa an, ob ihre Tochter auch teilnehmen dürfte und ob es möglich wäre, dass sie hinterher nochmal bei uns schläft. Natürlich war das möglich. Ob ich einmal eine halbe Stunde Zeit für sie hätte. Huch? So offiziell?!

Entsprechend saßen wir am Freitagabend in meinem Zimmer, zusammen mit Lisa und Cathleen. Lisas Mutter fand unsere WG toll, sagte, sie hätte sich das ganz anders vorgestellt. Lisa sagte: „Mama, lenk nicht vom Thema ab. Ich will das hier so schnell wie möglich hinter mich bringen.“

Lisa erzähle zu Hause regelmäßig mit strahlenden Augen vom Training. Auf der Fahrt vom Trainingslager nach Hause habe sie ohne Punkt und Komma erzählt, wie toll das alles war. Die Mutter meinte, sie habe Angst
um ihr Kind. Es klinge bestimmt merkwürdig, aber sie bräuchte mal jemanden, der sie versteht und ihr sage, dass das mit ihrer Tochter alles richtig laufe, sie in besten Händen sei und sie sich zu viele Sorgen mache.

Ich fragte sie, wo denn genau ihr Problem sei. Wieso sie annehme, dass etwas falsch laufen könnte. Sie meinte, die Kontakte, die ihre Tochter in den letzten Jahren geknüpft habe, hätten sie so glücklich gemacht. Ihre Tochter sei nicht wiederzuerkennen. Lisa saß daneben und meinte: „Nicht so sentimental, Mama. Ich werd einfach nur erwachsen. Aber ich bleib trotzdem deine Tochter und du und Papa sind die wichtigsten Menschen in meinem Leben. Das hab ich dir gestern schon gesagt.“ – Ich musste schon wieder schmunzeln.

Die Mutter erzählte mir, dass ihr Mann und sie beide berufstätig seien und sich eine angestellte Erzieherin täglich zu Hause um Lisa kümmere. Mit ihr Hausaufgaben mache, mit ihr zur Therapie fahre. Ihr Kind habe eine Behinderung und es sei alles anders als bei anderen Kindern, aber trotzdem hoffe sie, dass sie alles richtig gemacht hätte. Nur eines verstehe sie nicht: Lisa sagt, eins der tollsten Dinge beim Training ist, dass man sich so benehmen dürfe, wie man wollte, ohne dafür Ärger zu bekommen. Und dann erzähle sie zu Hause stolz, was sie alles angestellt habe. „Warum ist ihr das so wichtig? Warum hat sie das Bedürfnis danach? Sie darf das zu Hause nicht, aber warum vermisst sie das offenbar so?“

Ich habe gesagt: „Ich würde mir da wirklich nicht solche Sorgen machen. Solange sie das zu Hause alles stolz erzählt und auch weiß, wann sie was machen darf und wann nicht, finde ich alles in Ordnung. Alles, was verboten ist, hat doch seinen Reiz, vor allem in ihrem Alter. Ich finde das völlig normal, dass sie Grenzen austestet. Eines Tages merkt sie, dass sie selbst für ihr Verhalten verantwortlich ist und dass die Jungs, die jetzt noch lachen und es cool finden, wenn sie laut rülpst, plötzlich von dem Schweinkram genervt sind. Und dann lässt sie es wieder.“

„Ich habe Angst, dass sie sich mit ihrem Verhalten schadet und irgendwann Außenseiterin ist.“ – Ich antwortete: „Das glaube ich nicht. Sie ist doch so ein herzlicher Mensch und wird von allen gemocht. Außerdem ist gerade in diesen Gruppen eine ganz große Toleranz. Das passt schon alles. Und vielleicht stößt sie tatsächlich irgendwann mal an die eine oder andere Grenze. Dann muss sie das lernen. Davor kann man sie nicht beschützen. Aber deswegen ist sie ja nicht gleich Außenseiterin.“

Ich glaube, ich habe die Mutter beruhigen können. Sie knuddelte Lisa zum Abschied und sagte: „Ruf an oder schreib eine SMS, wenn was ist!“ – „Ja, Mama.“ – „Und pass auf dich auf.“ – „Ja, Mama.“ – „Und sei lieb, hörst du?“ – „Mama! Ich bin immer lieb.“

Auf zum Volksfest. Cathleen, Simone, Lisa und ich. Da wir keine Fußgänger dabei hatten, die uns in irgendein Fahrgeschäft hätten helfen können, konnten wir nur gucken und uns mit Gummitierchen und anderem ungesunden Zeug eindecken. Wir waren mal wieder die unfreiwillige Attraktion. „Oh, habt ihr aber tolle Rollstühle! Und so bunt! Kai-Uwe, guck mal! Die Rollstühle! Guck mal, die sind ganz ohne Begleitung hier! Oder die Begleitung kauft gerade was für sie ein. Einen Motorradunfall können die nicht gehabt haben, dafür sind sie noch zu jung. Bestimmt Kinderlähmung.“ – Na klar. Ich schaltete auf Durchzug.

Nach dem Volksfest rollten wir auf Lisas ausdrücklichen Wunsch noch einmal über die Reeperbahn, die ja bekanntlich direkt nebenan ist. Als wir wieder an jenem Laden ankamen, vor dem wir vor eineinhalb Jahren
schon einmal mit ihr standen, blieb sie stehen, zog mich zu sich ran und flüsterte mir ins Ohr: „Ich möchte so gerne so einen Vibrator. Deswegen wollte ich hier nochmal her. Ich war schonmal alleine hier, aber ich darf in den Laden nicht rein. Darf ich dir Geld geben und du kaufst mir den? Bitte!“

Ich dachte, ich träume. Ich bin nicht oft perplex, aber in dem Moment war ich es und wusste gar nicht mehr, wie ich reagieren sollte. „Was gibt es für Geheimnisse?“ fragte Simone. Lisa antwortete: „Wenn ich das jetzt erzählen würde, wäre es ja kein Geheimnis mehr. Ich sags dir später.“ – Ich fragte sie: „Das gibt aber mindestens 200 verschiedene Typen und dazwischen ganz viel Schrott. Hast du dich denn schonmal informiert, was der können soll?“

Lisa nickte. „Ich möchte einen, der heißt Little Dolly. Und den möchte ich am liebsten in blau. Und ein Ladegerät muss man extra dazu kaufen. Ich geb dir 50 Euro, das müsste reichen.“ – Obwohl Lisa versuchte, möglichst leise zu sprechen, ahnte Simone sofort, worum es ging. Sie fragte: „Willst du dir hier was kaufen?“ – Lisa antwortete: „Frag nicht, das ist mir peinlich.“ – „Na komm, wenn du sowas willst, musst du auch dazu stehen.“ – „Ich weiß, das ist trotzdem peinlich.“

Ich machte den Vorschlag, zu einem anderen Geschäft zu rollen, das nicht so schmuddelig aussah wie der Laden, vor dem wir gerade standen, und das mir vor allem wesentlich besser sortiert zu sein schien. Am Ende
saßen wir in der U-Bahn, als sie ihr Handy rauskramte und meinte: „Ich muss das unbedingt meiner Muddi schreiben.“ – Ich hoffte nur, sie würde mir nicht den Kopf abreißen. Als wir in der WG angekommen sind, musste Lisa erstmal allen Leuten, die sie kennt, erzählen, dass sie auf dem Volksfest und auf der Reeperbahn war und was sie sich gekauft hatte. Ich habe keine Ahnung, ob sie einfach nur so ein Ding besitzen will, weil sie dann erwachsener oder cooler oder sonstwas ist – oder ob ihr das Teil hilft, ihre doch sehr starke Spastik in den Armen und Händen zu kompensieren. Während sie auf dem Gästebett lag (Cathleen schlief mit bei mir im Bett und Lisa daneben auf einem ausblasbaren Gästebett), las sie die Betriebsanleitung und meinte: „Wahnsinn, der muss vor dem ersten Mal 12 Stunden durchgehend aufgeladen werden.“

Am Samstagnachmittag waren Simone, Cathleen, Kristina, Lisa und ich zum Training mit dem Rennrolli auf dem Elbdeich verabredet. Nach langem Ausschlafen und ausgiebigem Frühstück sagte Lisa plötzlich: „Wollen wir nach dem Training im See schwimmen?“ – Simone antwortete: „Du machst vor, ich mach nach.“ – „Wieso?“ – „Der See ist arschkalt, wir haben fast Winter. Da kriegst du einen Kälteschock, sobald du einen Zeh reinhältst.“ – „Es gibt doch auch Leute, die sich ein Loch ins Eis schlagen und dann im Eiswasser baden!“ – „Die gehen aber auch hinterher in die Sauna oder zumindest heiß duschen.“ – „Können wir nicht in dem Vereinshaus heiß duschen?“ – „Das ist kilometerweit vom See entfernt. Inzwischen bist du erfroren.“ – „Schade.“

Nachdem wir eine halbe Stunde lang über andere Themen geredet hatten, fing Lisa wieder von dem Thema an: „Kann ich nicht mit Neo im See schwimmen gehen?“ – „Ach Lisa. So dick, wie der Neo sein müsste, damit du nicht frierst, eignet der sich nicht mehr zum Schwimmen. Unsere Schwimmneos sind alle nur sehr dünn. Das Wasser ist zu kalt, um draußen zu schwimmen.“ – „Wie kalt ist denn der See? Guck mal, die Sonne scheint doch richtig toll.“ – „Der wird höchstens noch 10 Grad haben. 14 Grad muss er haben, damit überhaupt ein Wettkampf, bei dem dann der Neo Pflicht ist, stattfinden dürfte. Bei Schülern müsste der See sogar 19 Grad haben. Ende Mai kannst du mal wieder fragen. Solange können wir nur in der Halle schwimmen. Wieso willst du denn unbedingt draußen schwimmen?“

Lisa schmollte. „Ich hab zum Geburtstag einen eigenen Neo bekommen und mit dem durfte ich noch nie schwimmen.“ – „Hast du den etwa mit?“ – Lisa nickte. „Ich dachte, wir könnten das mal ausprobieren.“ – „Und was sagt deine Mutter dazu?“ – „Die wollte mich stundenlang davon abbringen, dass ich den einpacke, weil sie meinte, mit mir geht bei der Kälte keiner mehr schwimmen. Warum müssen sich immer alle Erwachsenen einig sein?“

Cathleen sagte: „Pass auf, ich mach dir einen Vorschlag. Du nimmst den mit zum See, ziehst dich um, krabbelst ein paar Zentimeter rein und wenn du es nicht mehr aushältst, krabbelst du wieder raus.“ – „Alleine hab ich dazu keinen Bock.“ – „Ich krabbel mit.“ – Ich sagte: „Ihr habt einen Schatten. Ihr holt euch da den Tod.“ – Simone sagte: „Ich mach auch mit.“

Nun wollte ich kein Spielverderber sein. Lange nichts Verrücktes mehr gemacht… Nach unserem Training saßen wir also auf dem Boden meines Autos, zogen uns um und rollten vom Parkplatz zum Strand. Zwei Taucher waren dabei, ihr Equipment im Auto zu verstauen. „Wollt ihr schwimmen gehen?“ – „Ja, wieso?“ – „Nur die Harten kommen in den Garten – oder was?!“ – „Genau. Ich frier nur vom Bauch aufwärts. Dann ist es halb so schlimm. Sie hat einen neuen Neo, den will sie dieses Jahr unbedingt nochmal ausprobieren. Wisst ihr, wieviel Grad das Wasser hat?“ – „Elf Komma Acht, haben wir vorhin gemessen.“ – „Och, das geht aber noch!“

Und tatsächlich, nach dem ersten Schock war es okay. Die Luft war durch die Sonne relativ warm, weit über 10 Grad, das machte eine Menge aus. Am schlimmsten war die Kälte am Handrücken und im Gesicht, aber am Körper war es okay. Wir waren insgesamt rund fünf Minuten im Wasser und sind sogar ein ganzes Stück geschwommen. Dann mussten wir aber dringend wieder raus. Ab zum Auto, die nassen Sachen ausziehen, in ein großes Handtuch einwickeln, abrubbeln, warme Sachen anziehen und die Thermoskanne mit dem Tee hervorholen. Schön, dass mein Auto eine Standheizung hat. Wie war das? Was nicht tötet, härtet ab. Mir war danach angenehm warm und Lisa hat sich gefreut wie eine Scheekönigin.

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