Sieben an einem Tag

Ist ja nicht das erste Mal, dass ich es erwähne: Ich lese grundsätzlich alle Kommentare meiner Leserinnen und Leser, freue mich meistens darüber und nehme den einen oder anderen mir auch zu Herzen. Manchmal liefern sie mir auch eine Idee, etwas auszuprobieren: Ich habe mir vorgenommen, einen Tag lang mal alle Begegnungen mit fremden Leuten,
bei denen es zu einem Wortwechsel kommt, sofort danach, ggf. mit Stichworten als Gedankenstütze, zu notieren, nur höflich und freundlich zu sein und Leute, von denen ich mich herabgesetzt, diskriminiert oder beleidigt fühle, sachlich zu kritisieren – sofern ich überhaupt etwas sage.

Morgens war ich mit Nadine zum Frühstücken verabredet, anschließend wollten wir gemeinsam shoppen, danach zusammen zur Physiotherapie und abends zum Schwimmtraining. Nadine ist in meinem Team, hat einen inkompletten tiefen Querschnitt nach einem unverschuldeten Fahrradunfall, kann mit Unterschenkelorthesen laufen, allerdings nicht rennen und nicht frei stehen (ohne sich festzuhalten). Ihr Gangbild erinnert ein wenig an das einer Ente.

Szene 1: Der Bus kommt, ein Schnellbus, bei dem man üblicherweise vorne die Fahrkarten vorzeigen muss, der Fahrer fährt dicht an den Bordstein heran, senkt den Bus ab und öffnet die hintere Tür. Ich fahre hinein, ziehe mich an den Türgriffen die etwa acht Zentimeter hohe Stufe
hinauf, stelle mich an den vorgesehenen Platz und mache die Bremsen fest. Nadine setzt sich links neben mir auf einen Sitz. Die Tür geht zu,
aber bevor der Bus losfährt, kommt eine Lautsprecherdurchsage: „Die junge Frau, die eben hinten eingestiegen ist, bitte mal den Fahrausweis vorzeigen!“ – Ich drehte mich um und hatte über den Innenspiegel Blickkontakt zum Fahrer. Da ich nicht weiter nach vorne rollen konnte, rief ich: „Sie gehört zu mir.“ – Begleitpersonen von Rollstuhlfahrern werden frei befördert. Abermals kam eine Durchsage: „Junge Frau, kommen Sie doch mal bitte zu mir nach vorne.“ – Der Bus stand. Ich sagte zu Nadine: „Hier, nimm gleich mit“, und drückte ihr mein Portmonee in die Hand. Nadine latschte nach vorne, kramte meinen Ausweis raus. „Das ist der Ausweis von Ihrem Schützling. Ich wollte Ihren Fahrausweis sehen“, hörte ich den Fahrer sagen. Hat er Schützling gesagt?! Nadine antwortete: „Ich bin die Begleitperson. Sie hat eine Begleitperson frei.
Ist dort vermerkt.“ Ohne Worte gab er ihr den Ausweis zurück, fuhr ab.

Szene 2: Wir wollen Badeanzüge für beide und eine Schwimmbrille für Nadine kaufen. Die Größe und das Modell, das ich haben möchte, ist reduziert, also hole ich gleich drei Stück aus dem Regal. 18 Euro für einen Markenanzug ist wirklich gut. An der Kasse lege ich die drei Teile
plus meine EC-Karte auf den Tisch. Die Kassierin, eine Frau um die 50, guckt mich an und fragt: „Gleich drei Stück? Haben Sie denn soviel Geld dabei?“ – Ich tippe wortlos auf meine EC-Karte. „Wollen Sie das Schwimmen anfangen? Ich finde das ja toll, dann kommen Sie ein wenig unter Leute.“ – „Ich trainiere mehrmals pro Woche und früher oder später
lösen sich die Teile auf. Bei Ihrem Angebot nehme ich gleich drei Stück
mit, das lohnt sich ja.“ Oha, die Behinderte kann in ganzen Sätzen sprechen. – „Ach Sie schwimmen regelmäßig, ja das finde ich ja toll. Wissen Sie, mein Mann saß eine Zeitlang auch im Rollstuhl. Der hatte Schwierigkeiten mit der Hüfte. Aber der hat sich zum Glück wieder erholt. Hatten Sie einen Unfall?“ – „Ja.“ – „Das hört man viel, bei jungen Leuten. Führerschein gerade neu, übermütig, und schon ist es passiert. In der Nachbarschaft hat auch einer gleich das Auto der Eltern
zu Schrott gefahren. Alles in Grus und Mus. Aber ihm ist zum Glück nichts passiert. Aber um das Auto ist es ärgerlich.“ – „Ja, das stimmt. Bei mir war es ein Unfall auf dem Schulweg. Eine Autofahrerin hat mich angefahren.“ – „Das ist ja immer mein Alptraum, dass mir irgendwann mal ein Kind vor das Auto läuft. Wie oft liest man das, dass Kinder zwischen
Autos hervorkommen und dann hast du als Autofahrer keine Chance. Du hast keine Chance. 54 Euro macht das.“

Szene 3: Wir stehen in einem Burgerladen und bestellen. Wir bekommen zwei Tabletts. Da Nadine sowieso schon Probleme mit dem Laufen hat, trägt sie keine Tabletts. Die Gefahr, dass das Getränk darauf umkippt oder sie mitsamt dem Essen hinfällt, ist viel zu groß. Also setzt sie sich hin und ich nehme die Tabletts nacheinander auf den Schoß und bringe sie zum Tisch, muss mich dabei allerdings durch die Schlangen der
wartenden Leute kämpfen. „Tschuldigung, darf ich mal durch? Tschuldigung, könnten Sie mich mal bitte durchlassen? Entschuldigung, könnten Sie einen Schritt zurückgehen?“ – Nadine hat sich hinter einen Tisch gequetscht und in der Zeit, in der ich die Tabletts geholt habe, vor dem Tisch den Stuhl weggeschoben. Da kommt eine Frau zu uns und pöbelt Nadine an. „Sie lassen sich von ihrer Bekannten das Tablett an den Tisch bringen? Was für eine Erziehung haben Sie denn genossen? Gar keine? Entschuldigung, aber da steigt mir der Hut hoch.“ – Nadine sitzt mit offenem Mund da, ich erwidere höflich: „Das ist schon in Ordnung so.
Wir haben das aufgeteilt.“ – „Ich will das gar nicht hören. Sie sind doch abhängig von ihr. Es ist doch unglaublich, dass Sie das Mädchen im Rollstuhl derart ausnutzen.“ – „Sie nutzt mich nicht aus und ich möchte jetzt essen und kein Theater. Ja? Tschüß.“ – Wir essen, in der Zwischenzeit stellt die Frau sich an. Als sie zurück kommt, setzt sie sich ausgerechnet an den Tisch neben uns und fängt an, mich anzustarren.
Reicht mein dickes Fell, um das zu ignorieren?

Szene 4: Ich möchte ein Brot vom Bäcker mitnehmen, stehe an. Ich bestelle ein Brot, gebe das Geld über die Glastheke. Nadine bekommt das Brot mit den Worten: „Stecken Sie ihr das mal hinten rein?“ – Gemeint war wohl der Rucksack…

Szene 5: Wir sitzen im Bus nach Hause, ich auf dem Rollstuhlstellplatz, Nadine links neben mir in der letzten Sitzreihe vor
der Mitteltür. Plötzlich steigt ein älterer Mann ein, kommt von vorne bis zur Mitte durch und macht Nadine an: „Setz Dich mal woanders hin.“ –
„Wie bitte?“ – „Das ist mein Sitzplatz, ich bin schwerbehindert, ich muss nah an der Tür sitzen und kann nicht lange stehen. Mach schon, sonst falle ich hin.“ – Es waren mindestens 20 weitere Plätze frei, auch
der direkt gegenüber, auch die vier auf der anderen Seite der Tür. Nadine rückte zum Fenster durch. Der Typ setzte sich hin, hob seinen Holzstock und tippte mit dessen Ende oben gegen die Deckenverkleidung, an die ein Symbol „Sitzplatz für Schwerbehinderte“ angeklebt war. „Da stehts. Für Doofe schon extra ohne Text.“ – Nadine antwortete: „Schaun Sie mal, dahinten sind auch noch Schwerbehindertenplätze frei. Ich weiß nicht, warum Sie ausgerechnet den besetzten Platz belegen wollen.“ – „Das will ich dir sagen: Zu unserer Zeit ist man als Jugendlicher noch aufgestanden, wenn gebrechliche Leute in den Bus stiegen. Du hast auf diesem Sitzplatz überhaupt nichts zu suchen.“ – „Haben Sie schonmal in Betracht gezogen, dass es auch Jugendliche mit Behinderung gibt?“ – „Pass auf, du!“ Er machte eine fordernde Handbewegung: „Zeig mir mal deinen Ausweis.“ – Nadine holte ihren Ausweis aus der Jackentasche. Der Typ wurde kreidebleich. Aber anstatt sich mal zu entschuldigen, kam: „Das kann ich ja nicht riechen! Woher soll ich wissen, dass du ausnahmsweise hier sitzen darfst. Ist der Ausweis überhaupt echt? Du kannst doch laufen.“

Szene 6: Wir sind auf dem Weg von der Physiotherapie zum Schwimmen und warten vor demselben Aufzug, von dem ich auch schon in den letzten Beiträgen geschrieben hatte. Dann stehen wir mit drei Rollstuhlfahrern in der Kabine (die anderen beiden kannte ich nicht), damit ist die Kabine voll. Nadine latscht über die Treppe. Die Tür geht zu, da springt
noch eine ältere Dame dazwischen. Die Tür geht wieder auf. „Komme ich noch mit?“ – „Nee, das passt nicht mehr.“ – „Och das geht noch.“ – „Nein, das passt wirklich nicht mehr.“ – „Ich muss meine Bahn kriegen.“ –
„Ja, wir auch. Am besten warten Sie kurz, wir beeilen uns mit dem Aussteigen.“ – „Warten Sie, ich quetsch mich hier dazwischen.“ – Sie drängelte sich zwischen meine Füße und Kabinenwand, hielt sich an meiner
Schulter fest. Sie musste sich weit nach vorne beugen, da hinter ihrem Po die Haltestange war. Und sie stank nach Knoblauch. Die Tür ging zu. „Wissen Sie, der Aufzug wurde nämlich nicht nur für Rollstühle eingebaut. Ich habe zwei neue Hüften bekommen und ich kann die steile Treppe nicht laufen.“ – „Das mag ja sein, nur wenn voll ist, ist voll.“ –
„Geht doch auch so.“ – „Ich weiß aber nicht, ob ich mich von jedem anfassen lassen möchte.“ – „Nun stellen Sie sich mal nicht so an. Sie sind zwar behindert, aber ja nicht aus Zucker, nä?! Sag ich immer zu meinen Leuten, wenn die mich mit Samthandschuhen anfassen.“ – Die Kabinentür öffnete sich, die beiden anderen Rollifahrer rangierten nach draußen. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich stand hinten an der Wand und
direkt vor mir waren die Füße der Frau, außerdem hielt sie sich an mir fest. „Sie zuerst!“, befahl sie. – „Ich komm so nicht von der Stelle. Sie stehen direkt vor mir. Sie müssten sich da schon irgendwie raushangeln und wenn es geht, ohne sich dabei auf mich aufzustützen, sonst fallen wir nämlich beide um.“ – Ihre Hand war auf meiner Schulter nämlich eindeutig hinter dem Schwerpunkt des Stuhls. „Was Sie einer alten Frau so alles zumuten“, beklagte sie sich. – „Ich hab doch gesagt:
Warten Sie kurz.“ – „Ach halt den Schnabel.“ – „Wie war das?“ – „Du hast mich schon verstanden.“ – Nadine stand mit einem Fuß in der Tür, damit der Aufzug nicht wieder losfuhr. Jetzt stützte sich die Frau mit beiden Händen auf mich auf, einmal an der Schulter, einmal auf meinem Oberschenkel. Schrittchen für Schrittchen bewegte sie ihr Füße zwischen Rollstuhl und Kabinenwand hinaus, ihr halbes Körpergewicht auf mich gestützt, gerade hinstellen konnte sie sich wegen der Haltestange nach wie vor nicht. Dann konnte sie endlich rausgehen. Nach zwei Schritten blieb sie stehen und drehte sich um. Ich rangierte meinen Stuhl mit zwei
Dutzend Minibewegungen plus zwei Mal hochspringen aus der eingekeilten Position, als sie mich anmachte: „Siehst du, geht doch wunderbar.“ – Gleich spring ich dir ins Gesicht… Nadine stand hinter ihr, immernoch den Fuß in der Tür. Lohn der Zurückhaltung: Die Frau erreichte im schnellen Schritt die S-Bahn, quetschte sich gerade noch so durch die sich schließenden Türen und wir … standen draußen und mussten auf den nächsten Zug warten.

Szene 7: Wir kommen aus der Schwimmhalle. Jana hat angeboten, uns mit
dem Auto mitzunehmen. Janas Auto ist aber zugeparkt von einem Smart, der sich zwischen die beiden auf den breiten Behindertenparkplätzen parkenden Autos auf die Linie gestellt hat. Da der Eingang um diese Zeit
geschlossen ist, müssen wir über eine Wiese zum Notausgang und dort an die Scheibe klopfen. Nach zwanzig Minuten ist der Fahrer gefunden, ein junger Mann, der seine Serie unterbrechen musste, um nur mit Badehose und Handtuch bekleidet, sein Auto wegzufahren. Als er fertig war, kam folgender Kommentar: „Bekomme ich jetzt einen Aufkleber von der Frank-Elstner-Stiftung ‚Ein Herz für Behinderte‘?“

Es soll nicht so stehen bleiben, dass der Eindruck entsteht, alle Menschen seien böse. Viele halten mir Türen auf, bieten mir freundlich ihre Hilfe an, sind nett. Aber zwischen den vielen netten gibt es täglich auch jede Menge Idioten. Und die versammeln sich grundsätzlich bei mir und labern mich an. Oder bei anderen Rollifahrern – und die Anzahl ist gemessen an der Dauer, die ich unterwegs war, im Durchschnitt. Ich weiß nach wie vor keinen Rat: Reinfressen will ich das
jetzt nicht jeden Tag in mich und zu heftig reagieren trifft möglicherweise den falschen. Vielleicht sollte ich einen Schreikurs mitmachen. Oder mal wieder einen Triathlon – leider ist gerade Winter. Shit.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert