Cathleen und ich hätten beide nicht gedacht, dass wir uns, drei Wochen nach unserem letzten Trainingslager, dazu überreden lassen, noch einmal für ein Wochenende quer durch die Republik zu gondeln, um uns erneut dem Paratriathlon hinzugeben. Diesmal war es allerdings weder ein Wettkampf noch ein Trainingslager, sondern ein Jugendcamp – offen für alle Bundesländer und eindeutig für den Nachwuchs, der noch mindestens vier bis acht Jahre jünger ist als wir. Das heißt: Sportlich konnten wir da nicht mehr allzu viel lernen. Es wurden Helfer gesucht, die quasi zu zweit eine Wochenendpatenschaft für jeweils eine bestimmte Gruppe übernehmen sollten. Eine noch relativ neue Trainerin von uns hatte sich spontan auch noch überreden lassen.
Ich hatte das vor Monaten schon per Mail bekommen und das in den Papierkorb verschoben, weil mir das zu abgehoben erschien. „Patenschaften“ und ähnliche Ausdrücke, meistens aus dem amerikanischen übernommen und schlimmstenfalls noch eingedeutscht, obwohl es ein deutsches Wort mit gleicher Bedeutung gibt, hörten sich nicht nur für mich so an, als wenn man dort demonstrativ beweisen will, wie lieb wir uns alle haben. Ich bin sehr für Harmonie und vor allem bin ich sofort dabei, wenn ich jüngeren Teilnehmern etwas erklären oder sie zu irgendetwas motivieren kann. Sie können sich bei mir ausheulen, albern sein, Kräfte messen, meinetwegen auch Äpfel stehlen und Pferde schälen (frei nach meinem ehemaligen Musiklehrer beim Zitieren von Karel Ohmein-Gott). Aber dafür muss ich mir weder ein Instructor- oder Multiplicator-Pappschild umhängen, noch muss ich meiner Tätigkeit irgendeinen Namen oder irgendeine bis ins Letzte ausgeprägte Struktur geben.
Cathleen und ich wurden geradezu bekniet, doch dorthin mitzukommen. Man könne sich vor Anmeldungen nicht retten und es werde absolut spannend. Am Ende haben wir uns überreden lassen – und ich muss meine ursprüngliche Meinung absolut revidieren. Meine bösen Vorahnungen haben sich nicht bestätigt. Ich bin zwar nach wie vor der Meinung, man muss nicht für alles und jedes ein Fachwort benutzen, aber es gab ein sechsköpfiges örtliches Organisationsteam und um es mit fünf Worten zu sagen: Die haben den Laden gerockt.
Kein altbackener oder alberner Scheiß wie Nachtwanderungen in den Dünen für Rollstuhlfahrer (rette sich wer kann), Versteckspiel im Dunkeln mit 16jährigen (sind das deine Äpfel hier), ‚Plötzlich Prinzessin‘ oder ‚Die wilden Hühner 3,5‘ auf Videoleinwand (Kikeriki) oder einen extra aus Mallorca eingeflogenen Animateur, der als Kasperle verkleidet querschnittgelähmten Mädchen Bauchtanz beibringen will und sich später doch lieber für das Standard-Handpuppenstück mit dem Seppel, dem Polizisten und dem übermütigen Krokodil entscheidet (soll ich euch was aus dem Telefonbuch vorlesen) – alles schon da gewesen. Nein, es hatte Tiefgang. Und um eins vorweg zu nehmen: Ich hätte nie geglaubt, dass eine derart zusammengewürfelte Gruppe wie die des letzten Wochenendes binnen kürzester Zeit so eine positive Dynamik entwickeln könnte. Cathleen und ich waren wie gefesselt von dem, was da passierte, dass wir erst nach einigen Stunden gemerkt haben, wie begeistert jedes einzelne Kind dabei war.
Man kann es kaum beschreiben, man muss es erlebt haben. Während man sonst morgens kaum jemanden aus dem Bett bekommt, haben sich hier die Leute quasi darum gerissen, wer für das Auf- und Abdecken zuständig war, wer die Spülmaschine einräumen darf und wer die Tische abwischt. Warum? Weil die sechs so ein eingespieltes Team waren, dass sie es geschafft haben, fast 80 Kinder und Jugendliche so zu motivieren, dass die sechs sich am Ende völlig ausgeklinkt haben, alle Gruppen sich selbst überlassen haben – und es hat funktioniert. Ich bin immernoch sprachlos.
Immer acht Leute bildeten eine Gruppe, wir schliefen alle in einer großen Sporthalle, es waren Matten ausgelegt, bunte Bereiche zum Schlafen, dicke Matten zum Krabbeln und Fortbewegen, bestimmte Bereiche waren Fahrwege und Abstellflächen für die ganzen Rollis. Und das ganze begann mit einem Spiel: Jede Gruppe musste Fragebögen ausfüllen und sich auf drei absolut wichtige und absolut unwichtige Dinge beim Paratriathlon einigen. Umweltschutz, genügend Geld, gutes Klima, genügend Helfer, tolle Rennstrecke, gutes Wetter, sauberer Badesee … da waren rund 30 Punkte. Und anhand der Positionierungen wurden die Gruppen aufgeteilt auf die Schlafplätze. Wie in einem Parlament. Und dann musste jeder eine Aufgabe übernehmen. Einer musste Ergebnisse der Gruppe später vortragen, einer musste musikalisch sein, einer musste gut zeichnen können, einer kräftig sein, einer musste Spaß an Hausarbeit haben, einer musste ordentlich sein – und dann wurde für jeden auch ein Bonbon verteilt. Einer durfte länger schlafen, einer durfte sein Geschirr stehen lassen, einer durfte nach dem Training als erstes duschen … alles völlig belangloser „Kinderkram“. Ich hätte nie geglaubt, dass sich Leute plötzlich dafür einsetzen, dass andere Leute ihr „Bonbon“ in Anspruch nehmen.
Einer aus jeder Gruppe hatte die Aufgabe, an einem Treffen teilzunehmen, bei dem die Organisation besprochen wird. Wann ist welche Gruppe womit dran – und er musste das entsprechend kommunizieren und die
Wünsche seiner Gruppe durchsetzen. Es gab an beiden Abenden umfangreiche Diskussionen zu verschiedenen, vorgegebenen Themen, die die einzelnen Gruppen vorbereiten sollten. Die Vorbereitung begann immer gleich: Eine Gruppe erarbeitete 7 Argumente, die für eine vorgegebene These sprachen, eine andere 7 Argumente, die dagegen sprachen, unabhängig voneinander. Und die Thesen hatten es teilweise in sich. Ich hätte mir vorstellen können, dass etliche Eltern im ersten Moment erschrocken gewesen wären und im zweiten Moment umso erstaunter, wie intensiv sich die Kinder und Jugendlichen bereits vorher Gedanken dazu gemacht haben. 7 Gründe, warum eine Behinderung doof ist. Aber auch 7 Gründe, warum eine Behinderung gut ist. Und wer jetzt denkt, da kamen so Sachen wie: „Ich hab als Rollifahrer immer einen Sitzplatz“, hat sich vergaloppiert. In der anschließenden Diskussion meinte eine 11jährige vor allen Teilnehmern, es müsse Behinderungen geben, damit die Leute lernen, dass Unterschiede wichtig sind. Unterschiede lassen den Menschen begreifen, dass es jemanden geben muss, der an der Stelle weiter weiß, an der man selbst nicht mehr weiter kommt. Zur Not gemeinsam. Wären alle Menschen gleich, wären alle stets am selben Limit, könnten nicht voneinander lernen, könnten sich nicht ergänzen und wären schon alle tot. Schluck. Sieben Gründe, warum man über Behinderte keine Witze macht und nicht lacht. Einer davon: „Weil ‚man‘ verklemmt ist.“ Sieben Gründe, warum man auch über Behinderte Witze macht und lacht – die Gruppe war älter und hatte unter anderem als Antwort: „Nicht nur Blondinen haben einen Spleen.“ Nett.
Im Laufe des Abends bekamen die Gruppen die Aufgabe, eine Pizzabestellung abzugeben. Das wurde einmal gesagt und nach zehn Minuten lagen aus allen neun Gruppen die Zettel da. Anschließend war in einer Gymnastikhalle nebenan Diskoparty. Am ersten Abend … ich kenne das sonst vom letzten Abend. Und dazu wurde über die Gruppenvertreter abgestimmt: Pyjamaparty oder Pampersparty. Ich habe Cathleen angeguckt und wir dachten im selben Moment dasselbe: Das geht schief und das ist auch nicht mehr witzig. Einfach, weil viele von den Kindern und Jugendlichen eine Blasenlähmung haben. Bei weitem nicht alle, etliche (wo es funktioniert) sind auch über Tabletten so eingestellt, dass die Blase sich gar nicht mehr entleert und sie sich mehrmals täglich durch die Harnröhre kathetern müssen – aber die Anzahl derer, die (trotzdem) Probleme hat und für die das hier zu weit gehen könnte, schätzten wir beide als sehr hoch ein. Und schon ein einziger, der sich unwohl fühlt, weil er seine Behinderung vorgeführt sieht, ist einer zuviel.
Es wurde mehrheitlich für die Pampersparty abgestimmt und es gab … niemanden, der sich unwohl fühlte. Diese Diskoparty war der Renner schlechthin. Die Halle war warm, es gab die Auflage, dass niemand fotografieren darf, und es durften nur einschlägig bekleidete Leute überhaupt rein. Einschließlich Betreuer, Paten, wie auch immer man das nennen will. Ich kam mir vor wie bei meinem ersten Saunabesuch. Guckt einer? Was denkt der? Muss ich so rot sein im Gesicht? Nach anfänglichem Gegacker und T-Shirt-im-Sitzen-bis-über-die-Knie-ziehen haben die Initiatoren genau das erreicht, was man sonst nie erreichen würde: Einen offenen Umgang mit dem Thema. Alle waren plötzlich gleich (die, die sonst keine Windeln tragen, bekamen von den örtlichen Initiatoren welche
geschenkt), jeder einzelne konnte ausprobieren, wie er auf andere wirkt, Hemmungen abbauen, gerechtfertigt durch dieses eher alberne Spielchen vielleicht auch mal über etwas reden, was man sonst besser geheim hält. Als dieser Vorschlag gemacht wurde, hätte ich nicht gedacht, dass das so ein Spaß wird. Am meisten konnte ich mich über unsere Trainerin totlachen, die drei Anläufe brauchte, bis sie das Ding richtig herum angelegt hatte. Alles nicht so einfach…
Ich war an dem Wochenende, was den sportlichen Teil angeht, dafür zuständig, 24 Leuten die Rollwende beizubringen. Etliche konnten sehr gut schwimmen und lernten das auch sehr schnell. Bei zweien brauchte ich
am Ende dann doch eine erfahrene Trainerin, die noch zwei entscheidene Tipps geben konnte.
Nach zwei Nächten auf Matten im Schlafsack mit rund 100 Leuten in einer Sporthalle (einer labert im Schlaf, einer pupst, einer schmatzt, einer schnarcht, einer dreht sich) bin ich froh, wieder mein eigenes Bett zu haben. Aber die Fahrt nach Hessen hat sich wirklich gelohnt. Es war ein tolles Erlebnis.