Frank hatte es schon richtig eingeschätzt: Es wird nicht einfach. Seit heute morgen sind diverse Leute im Dauereinsatz, um Maria ein vierzehntägiges Probewohnen bei uns zu ermöglichen. Nicht, weil Maria selbst diese Leute in Atem hält, sondern weil, insbesondere wegen der fehlenden Vorlaufzeit, viel zu viel zu organisieren ist.
Pünktlich um acht heute morgen rief der Geschäftsführer der Einrichtung bei Frank an. Maria habe keinen Anspruch auf Urlaub. Und das, was sie vorhat, sei Urlaub. Maria hätte mindestens sechs Wochen vorher anmelden müssen, dass sie für 14 Tage ein Probewohnen veranstaltet. Ansonsten riskiere sie, dass der Heimvertrag fristlos gekündigt wird und/oder das Sozialamt die Mittel streicht. Immerhin zahle das Sozialamt ja nicht für ein leeres Zimmer und ein Leerstand passe nicht in die Kalkulation ihrer Einrichtung. Frank wurde für 12 Uhr zum Gespräch bestellt. Maria würde auch dorthin kommen.
Frank telefonierte mit dem Sozialamt und bekam die Auskunft, dass es keineswegs direkte Auswirkungen habe, wenn Maria über 14 Tage ein Probewohnen mache. Mit großen Einrichtungen gebe es Pauschalverträge und
keine Einzelverträge für jeden Bewohner. Die Einrichtung müsse nur eine gewisse Auslastung erreichen. Ein gewisser Leerstand sei bereits einkalkuliert. Und zudem dürfe in begründeten Einzelfällen abgewichen werden. Probewohnen, Krankenhaus, Kur – das alles seien Begründungen für einen Einzelfall. Kurzum: Der Geschäftsführer hatte allenfalls interne Interessen. Die genannten waren vorgeschoben.
Da Maria ihr Pflegebett nicht mitbringen konnte, mussten wir kurzfristig eins organisieren. Ein befreundeter Inhaber eines Sanitätshauses, rund 250 Kilometer von Hamburg entfernt, disponierte kurzfristig eine Tour um, damit ein Leihbett noch heute ausgeliefert und aufgestellt werden konnte.
Um 12 Uhr fuhr Frank mit mir zusammen zur Zentrale der Einrichtung, in der Maria wohnt. Als wir dort aufkreuzten, teilte uns der Geschäftsführer mit, dass in Abwesenheit von Maria aus rechtlichen Gründen nicht über sie geredet werden könne. „Und wo ist Maria?“ – „Wir haben keinen Gesprächsbedarf mit ihr“, sagte der Geschäftsführer. Und fügte hinzu: „Sie machen hier die Unordnung.“ – „Sie haben mich doch gerade herbestellt, weil Sie mit ihr und mir reden wollen“, konterte Frank. – „Wir haben Ihnen angeboten, zusammen mit Maria über die Sache zu sprechen. Das ist was anderes. Da Sie Maria nicht mitgebracht haben, kann das Gespräch nicht stattfinden.“ – „Sie haben nicht gesagt, dass wir Maria mitbringen sollen.“ – „Ja meinen Sie, dass wir sie herholen? Sie wollen doch was von uns.“
Worauf Frank mit einem Grinsen antwortete: „Also stimmen Sie dem Probewohnen zu.“ – „Nein.“ – „Nein? Sie haben doch gerade gesagt, Sie hätten keinen Gesprächsbedarf mehr. Ich habe ihn auch nicht, ich schließe daraus breite Einigkeit. Komm Jule, das neue Jahr fängt gut an.“ – „Moment mal.“ – „Sie wollten doch in Abwesenheit von Maria nicht reden. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen sechsten Advent.“ – „Machen Sie sich nicht lächerlich. Falls Sie vorhaben, Maria heute abzuholen, müssen Sie damit rechnen, dass Sie bei uns Hausverbot bekommen. Ich habe meine Mitarbeiter angewiesen, notfalls die Polizei zu rufen.“ – „Wem von uns beiden erteilen Sie jetzt Hausverbot? Mir oder ihr? Oder uns beiden?“ – „Noch gar keinem, Sie hören schwer, oder?“ – „Neenee, ich wollte nur sicher sein. Achso … was haben Sie eigentlich gegen ein Probewohnen?“ – „Maria ist hier bestens aufgehoben.“ – „Das ist Ihre Ansicht. Die müssen Sie als Geschäftsführer ja auch haben. Vielleicht gelangt Maria eben durch dieses Probewohnen ja zu derselben Ansicht.“ – „Ich habe noch weitere Termine. Bitte entschuldigen Sie mich.“
Wir rollten nach draußen, Frank stieg in mein Auto ein, ich verstaute seinen Rollstuhl im Kofferraum, dann stieg ich ein, verlud meinen Stuhl, keine Viertelstunde später standen wir bei Maria vor der Tür. Vor der Einrichtung blockierte ein blau weißes Auto den einzigen Behindertenparkplatz. „Die sind jetzt aber nicht unseretwegen hier, oder?“ fragte ich Frank. – „Ich rechne mit allem.“ – Ich parkte mein Auto quer über zwei andere Parkplätze. Als wir durch die Automatiktür rollten, wurden wir herzlich in Empfang genommen. Ein netter Herr in Uniform fragte: „Guten Tag! Wohnen Sie hier?“
Frank antwortete: „Nein, wir möchten jemanden besuchen.“ – Eine uniformierte Frau kam um die Ecke, hielt sich an ihrem Notizblock fest. Der Mann sagte: „Darf ich mal Ihren Ausweis sehen?“ – „Na klar, darf ich vorher den Grund der Überprüfung erfahren?“ – „Eine allgemeine Personenkontrolle.“ – „In einem Privatgebäude?“ – „Ausweis bitte.“ – Frank holte seinen Personalausweis aus der Tasche.
„Zu wem möchten Sie denn?“ fragte der Mann weiter. – „Zu Maria …“, antwortete Frank. – „Wir sind von der Einrichtung um Hilfe gebeten worden, weil Sie angeblich beabsichtigen, eine Bewohnerin zu -sagen wir mal in Gänsefüßchen- entführen. Können Sie uns dazu was sagen?“ – „Wir entführen niemanden. Wir möchte nur jemanden besuchen.“ – „Der Leiter der Einrichtung ist damit nicht einverstanden. Er bittet Sie, das Haus wieder zu verlassen.“ – „Hat er einen Grund genannt?“ – „Das muss er nicht. Er nimmt hier das Hausrecht wahr.“ – „Das sehe ich etwas anders. Die Bewohnerin wünscht unseren Besuch. Besuchsrecht bricht Hausrecht.“ – „Die Bewohnerin steht hier unter Betreuung.“ – „Ihre Information ist falsch. Die Bewohnerin wohnt hier und wird hier gepflegt. Aufgrund eines von ihr geschlossenen Heimvertrages. Es gibt keinen gesetzlichen Betreuer. Selbst wenn, hätte der unter Garantie nicht die Aufgabe, über Freundschaften und Besuche seiner Betreuten zu regeln. Jeder Bewohner darf Besuch empfangen. Es ist eine angemessene Tageszeit und Sie müssten schon ganz gravierende Gründe benennen können, wenn Sie das Besuchsrecht einer Bewohnerin einschränken wollen, weil es für den Betreiber der Einrichtung nicht zumutbar sein soll.“
„Naja, wenn Sie vorhaben, eine seiner Bewohnerinnen zu entführen, wie gesagt in Gänsefüßchen, dann wäre das ein gravierender Grund.“ – „Von einer Entführung kann nicht die Rede sein. Maria ist volljährig, sie hat keinen Betreuer, bestimmt also selbst darüber, wo sie sich aufhält. Selbst wenn es einen Betreuer geben würde, müsste nicht nur das Aufenthaltsbestimmungsrecht bei ihm liegen, sondern das Gericht müsste auch noch einen Einwilligungsvorbehalt angeordnet haben, damit der Betreuer sich im Einzelfall über den Willen der Betreuten hinwegsetzen könnte.“ – „Sie kennen sich damit sehr gut aus. Sind Sie Jurist?“ – „Ich bin Rechtsanwalt. Und Vorsitzender eines Vereins, der ebenfalls eine Wohneinrichtung für Menschen mit Behinderungen unterhält. Die junge Dame ist eine enge Freundin der Maria. Maria möchte aus dieser Einrichtung ausziehen und sucht eine andere Einrichtung. Wir haben Maria ein Probewohnen bei uns angeboten und diese Einrichtung möchte es mit allen Mitteln verhindern.“ – „Warum sollten sie das tun?“ – „Das müssen Sie die Einrichtung wohl selbst fragen. Ich schlage vor, wir reden mal mit Maria. Dann können Sie sich einen eigenen Eindruck verschaffen, ob hier jemand gegen seinen Willen verschleppt oder entführt wird.“
Gesagt, getan. Vom Personal war noch niemand aufgetaucht, was sich aber schnell änderte. Maria hatte gerade drei Sätze gesagt, als der Geschäftsführer, der uns vor zwanzig Minuten hat abblitzen lassen, auftauchte. Soviel zu Thema ‚Ich habe noch Termine.‘ Er gab sich mächtig aufgeregt und faselte etwas davon, dass Maria einen Heimvertrag unterschrieben hätte und dort stünde drin, dass Urlaub sechs Wochen vorher zu genehmigen sei. Woraufhin Frank antwortete: „Sie können in den Vertrag reinschreiben, was Sie wollen. Sie können aber Maria aufgrund eines Vertrages nicht dazu zwingen, ein Haus nicht zu verlassen. Unser Grundgesetz garantiert Freiheit als eines der höchsten Rechtsgüter. Sie haben vielleicht Schadenersatzansprüche, wenn Ihnen durch den Vertragsbruch von Maria tatsächlich ein Schaden entstehen sollte. Sie können den Vertrag vielleicht sogar kündigen. Aber Sie können von Maria keine tatsächliche Erfüllung verlangen. Das wäre sittenwidrig.“
„Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass bei Maria nichts zu holen wäre. Also bleiben wir auf den Kosten sitzen. Das ist unzumutbar, also könnten wir fristlos kündigen. Aber das können wir wiederum nicht, dann wären Sie der Erste, der mit Fürsorgepflicht kommt. Nehme ich doch wohl mal ganz stark an.“ – „Lassen Sie sich mal rechtlich beraten. Und fragen Sie Ihren Anwalt auch gleich, welche Rechte Maria hätte, wenn ihr Vertrauensverhältnis wegen wiederholter Misshandlungsfälle grundlegend erschüttert wäre.“ – „Misshandlungsfälle?“ horchte der Mann in Uniform auf. – „Die Heimaufsicht ermittelt schon“, antwortete Frank. Und fuhr fort: „Ich schlage vor, Sie stimmen dem Probewohnen zu. Ihnen entgeht dadurch kein Cent, denn wir finanzieren das Probewohnen aus eigenen Mitteln. Sie bekommen Ihre Gelder pauschal von der Sozialbehörde, das wissen wir beide. Ich verstehe nicht, warum Sie mit solchem Nachdruck verhindern wollen, dass es Maria besser geht.“
„Maria geht es hier gut.“ – „Objektiv gesehen haben Sie vielleicht Recht. Aber es zählt doch auch das subjektive Empfinden. Wenn sie glaubt, woanders besser aufgehoben zu sein, verstärken Sie dieses Empfinden doch nur, wenn Sie ihr verweigern, sich woanders umzusehen. Vielleicht merkt sie dabei ja, dass es anderswo schlechter ist, bricht nach drei Tagen das Probewohnen ab und will davon die nächsten zehn Jahre nichts mehr wissen. Oder eben nicht – dann können Sie sich der Kritik und dem Wettbewerb aber nicht dadurch stellen, indem Sie Ihren Bewohnern verbieten, das Haus zu verlassen.“
Der Geschäftsführer verließ das Zimmer mit den Worten: „Ach machen Sie doch, was Sie wollen.“ Kaum war er draußen, fiel Maria Frank um den Hals. Seit heute spätnachmittag haben wir nun eine weitere (noch sehr glückliche) Bewohnerin, erstmal zur Probe, ein Pflegebett, leihweise für zwei Wochen, eine neue Mitarbeiterin, die für zwei Wochen Praktikum macht und im Rahmen einer kurzfristigen Beschäftigung entlohnt wird, und
die Aufgabe, eine Finanzierung zu finden, wenn Maria bei uns bleiben will. Wir müssen uns dann also mit Maria zusammen darum kümmern, dass Pflegekasse, Krankenkasse und Sozialamt gemeinsam so viel Geld zahlen, dass Maria die Pflege- und Assistenzleistungen bekommt, die sie wirklich braucht. Für die Zeit, in der sie Probewohnen macht, hat jemand, der nicht namentlich genannt werden möchte, 5.000 € zweckgebunden an den Verein gespendet, der unser Wohnprojekt trägt.
Maria lebt also nun für zwei Wochen in einem tollen, aber völlig kargen Zimmer. Sie hat nur ihre nötigsten Dinge und entsprechend Kleidung dabei. Ihre Wangen glühen vor Aufregung. Und ihre erste Handlung war übrigens: Ein warmes Vollbad nehmen.