Acht zu eins

Endlich ein neuer Eintrag. Am liebsten hätte ich täglich geschrieben. Aber die letzte Woche war so intensiv, dass ich einfach nicht dazu gekommen bin. Auch nicht unter dem Druck, zu wissen, dass viele Leute gespannt auf Neuigkeiten warten.

Zuerst die schönste, beste, tollste: Maria ist zweifelsfrei in der Lage, ihre Assistenz selbständig zu organisieren. Sie ist ein helles Köpfchen und kann sich selbständig darum kümmern, dass sie die Hilfe und Assistenz bekommt, die sie benötigt. Damit ist nicht nur das Abrufen der Hilfe gemeint, sondern auch die Planung, die Finanzierung etc. Sie bekommt zwar Hilfe von uns, weil das für sie natürlich absolutes Neuland ist (wäre es für mich auch, da ich weitestgehend ohne Hilfe zurecht komme), aber wenn sie weiß, wie etwas funktioniert, bekommt sie alles selbständig hin. Mit derjenigen, die vielleicht mal ihre Hauptassistenz werden soll, versteht sie sich prima, sie passt gut zu uns – auch wenn sie mit Abstand das am weitesten eingeschränkte Gruppenmitglied ist. Und sie fühlt sich bei uns wohl, ist sehr glücklich.

Es ist gefragt worden, wobei sie Hilfe benötigt: Bei allem. Sie ist nicht mal in der Lage, sich am Arm zu kratzen oder einen Bonbon in den Mund zu stecken. Geschweige denn den Bonbon auswickeln.

Maria hat sich am ersten Morgen nach ihrem Start ins Probewohnen an eine Organisation gewendet, die Hilfe bei Problemen in der Pflege anbietet. Dort hat man sie an einen Anwalt vermittelt, der in ihrem Auftrag den Bewohnervertrag mit ihrer Einrichtung fristlos gekündigt hat. Die Begründung kann ich hier nicht im Wortlaut wiedergeben, da laut Frank zu befürchten sei, dass es zu einem Gerichtsverfahren kommt, und ich möchte nicht diejenige sein, die hier als juristischer Laie irgendwelche relevanten Dinge falsch oder nicht eindeutig genug wiedergibt. Ich kann nur soviel sagen: Es geht um Angst vor weiterer Misshandlung und um Vertrauensverlust. Und darum, endlich in Sicherheit zu sein.

Bereits am Mittwoch kam eine Gutachterin, die sich Maria in ihrer Übergangsunterkunft anschauen wollte. Die Gutachterin hat sich bestimmt drei Stunden mit Maria beschäftigt. Frank war auf Marias Wunsch dabei, beide sagten hinterher, dass die Gutachterin absolut korrekt gewesen sei. Sachlich, aber nicht bürokratisch, streng beim Thema, aber nicht unmenschlich. Das Gutachten hat Maria am Freitag zu lesen bekommen von ihrem Anwalt. Es geht über fast 15 Seiten und sie sagt: Es stimme zu 100% mit den Tatsachen überein. Die Frau hat wirklich gute Arbeit geleistet.

Das hier zuständige Sozialamt hat bis zunächst 31.01. vorläufig die kompletten Kosten für Maria einschließlich Miete und der kompletten Pflege und Assistenz im Umfang bis maximal 7.500 € bewilligt. Sie sind über einen (anderen) Assistenzverein nachzuweisen und einzeln abzurechnen, anschließend holt sich das Sozialamt die Kosten von der Pflegekasse, Krankenkasse oder sonstwem wieder. Das Sozialamt verlangt, dass bis zum 31.01. zunächst ein anderer Assistenzverein die Pflege und Assistenz in „unserem“ Hause anbietet. In der Zeit soll erprobt werden, ob Maria das auch alleine könnte oder mit Hilfe „unseres“ Vereins. Das Gutachten bejaht das bereits.

In der Einrichtung, in der Maria bisher gewohnt hatte, wurde ein Pflegesatz von rund 3.500 € pro Monat abgerechnet. Hier würde es für Maria rund 5.500 € pro Monat kosten. Allerdings mit einem gravierenden Unterschied: Sie würde ihre Assistenten selber beschäftigen als Arbeitgeberin, so wie sie sie braucht. Beziehungsweise den Verein beauftragen, die Assistenzkraft anzustellen und ihr zur Verfügung zu stellen. Zusammen mit anderen Leuten aus dem Haus. Wäre es so, dass Maria alleine wohnen würde und zu Hause eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung organisieren würde, wäre das mehr als doppelt so teuer.

Und nun die schlechte Neuigkeit: Es gab heute einen runden Tisch mit je einer Vertreterin des Sozialamts, eines Sozialmedizinischen Dienstes, einem Typen von ihrer Krankenkasse, einer Frau von ihrer Pflegekasse, mit der Gutachterin persönlich, einer Frau von dem Assistenzverein, der jetzt übergangsweise Marias neue Assistentin beschäftigt und abrechnet, also das tut, was später unser Verein macht – und Frank, Maria und mir. Frank als Vertreter unseres Vereins, der das Wohnprojekt betreibt, und ich wurde von Maria gebeten, als Vertrauensperson dabei zu sein. Neun Leute. Ich kann nur sagen: Ich hätte fast gekotzt.

Das fing alles ganz nett an, man wolle Maria helfen, alle hätten Interesse, zu einer für alle akzeptablen Lösung zu kommen. Man ging kurz auf das bisherige Pflegeheim ein, die Gutachterin erzählte, dass die Aufstellung, die Maria und Frank zusammen gemacht hätten, inhaltlich mit dem Hilfebedarf übereinstimmte und es aus ärztlicher Sicht keinerlei Bedenken gebe, sie Maria uneingeschränkt zutraue, bei uns eigenverantwortlich zu leben und sie -wörtlich- „nur wärmstens empfehlen kann, dem Antrag zu entsprechen.“

Die Frau von dem anderen Assistenzverein schloss sich gleich an. Wenn es mit allen Klienten so laufe wie mit Maria, hätte sie nicht so viele schlaflose Nächte. Sagte sie wörtlich.

Dann kam die Frau von der Pflegekasse: Aus deren Sicht gebe es überhaupt keine Probleme, das Gutachten bestätige die selbst schon getroffenen Feststellungen hinsichtlich der Pflegestufe, das sei ohnehin
die maximal mögliche Leistung und die werde auch zeitlich unbeschränkt bewilligt, da mit einer Verbesserung des Gesundheitszustandes nicht mehr zu rechnen sei.

Dann schloss sich der Typ von der Krankenkasse an: Die medizinische Behandlungspflege würde wie beantragt genehmigt werden. Die Leistung sei zwar neu beantragt worden, aber aus dem Gutachten sei der Anspruch eindeutig abzuleiten, da gebe es „überhaupt keine zwei Meinungen“.

Dann kam die Frau vom Sozialamt dran. Sie meinte, sie dürfe dem Urteil des Sozialmedizinischen Dienstes nicht vorgreifen, möchte nur vorab so viel sagen: Sollte der Sozialmedizinische Dienst zu einer Empfehlung für diese Wohnform kommen, würde das Sozialamt die noch fehlende Summe im Rahmen einer Einzelfallentscheidung für zunächst 12 Monate übernehmen, danach müsste ein neuer Antrag gestellt werden. Bei dem einen oder anderen Einzelwert, den Maria und Frank veranschlagt hatten, gebe es minimale Abweichungen nach unten, weil dort Höchstbeträge festgelegt sind, bei anderen Einzelwerten sei aber nach oben noch Spielraum – das sei alles so gut vorbereitet und begründet, dass man von der Gesamtsumme wie beantragt auch bewilligen würde.

Und dann kam der Knaller: Die Frau vom Sozialmedizinischen Dienst wollte bei fünf oder sechs Einzelposten haarklein von Maria, die ohnehin schon ohne Ende aufgeregt war und die sowieso schon so langsam und angestrengt spricht, alles erklärt haben, um am Ende zu sagen, dass sie die Einzelwerte nicht verstehen könne und die doch alle viel zu hoch angesetzt seien… Das ging so weit, dass die Frau vom Sozialamt sagte, dass sie gar nicht wisse, ob diese Wirtschaftlichkeitsprüfung überhaupt in ihren Zuständigkeitsbereich falle. Aus ihrer Sicht seien die Kosten von den beschriebenen geringfügigen Über- und Unterschreitungen alle in der Norm.

Doch, offenbare Fehler in der Plausibilität müssten auch ihr auffallen und überhaupt könne man monatlich pauschal schon mal 500 Euro einsparen und außerdem sei unser Wohnprojekt doch keine zugelassene Pflegeeinrichtung. Daraufhin meinte Frank: „Mit Verlaub, da haben Sie was missverstanden. Wir sind auch keine Pflegeeinrichtung. Bei uns wohnen Menschen mit Behinderungen und wir helfen Ihnen, im Alltag alleine zurecht zu kommen, gegebenenfalls mit Assistenz, die einzeln gebucht werden kann.“

Der Typ von der Krankenkasse, schätzungsweise Ende 50, antwortete: „Ich habe noch einen Anschlusstermin, wir sollten zum Ende kommen. Was wir in den Topf werfen können, habe ich gesagt, kann ich aus dem Termin ein erfreuliches Ergebnis mitnehmen? Ich finde doch, das ist eine ganz, ganz tolle Sache.“

Die Frau vom Sozialmedizinischen Dienst sagte: „Also ich sehe das genauso, aber es bleiben zu viele Fragen offen, die wir heute nicht geklärt bekommen.“ – „Zum Beispiel?“ fragte der Mann von der Krankenkasse. Die Frau antwortete schnippisch: „Zu viele! Mehr als eine. Mehr als zwei. Zu viele.“

Nun kam die Frau von der Pflegekasse: „Mich würde das aber auch interessieren. Können Sie das bitte mal konkretisieren?“ – Sie antwortete: „Es ist aus meiner Sicht beispielsweise nicht abschließend geklärt, ob es sich bei der Einrichtung nicht vielleicht einfach nur um eine WG handelt, die mit Sozialhilfemitteln, die über die üblichen Hilfen hinausgehen, gefördert werden soll.“ – Frank antwortete: „Also Sie meinen so eine Art Partybude? Ist es nicht.“

Die Sozialmedizinische Frau antwortete: „Das wird der Verantwortliche immer behaupten.“ – Frank erwiderte: „Nun werden Sie mal nicht frech.“ – Der Typ von der Krankenkasse verdrehte die Augen. Die Frau vom Sozialmedizinischen Dienst fragte: „Leben bei Ihnen Hunde oder Katzen und wenn ja, wieviele?“ – Frank antwortete: „Keine Hunde, keine Katzen und auch kein Einhorn.“ – Er fragte die Gutachterin: „Könnten Sie dazu bitte Stellung nehmen?“ – Die Gutachterin antwortete: „Ich verstehe das mit den Hunden jetzt nicht. Aber egal. Ich habe keine Tiere gesehen. Auch kein Einhorn.“ – Maria lachte gequält. Frank setzte nach: „Partybude?“ – Die Gutachterin fügte hinzu: „In meinem Gutachten ist meine Einschätzung erschöpfend beschrieben. Das muss reichen.“

Ende vom Lied: Es gibt bis Mittwoch ein Protokoll über die nicht erreichten Ergebnisse, eine überarbeitete Liste, in der diese geringfügig zu hohen oder zu niedrigen Beträge angepasst werden und auch die zugesicherten Summen fixiert werden sollen und einen neuen Termin in der nächsten Woche. Hurra. Ich hätte Maria etwas anderes gegönnt.

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