Nur die Ohren

Da stehen eine 15jährige Freundin von mir und ich am Bahnhof und warten auf den Zug. Um nicht so auszukühlen, haben wir uns in einen beheizten Bereich gestellt, direkt neben einen Supermarkt. Die Freundin kenne ich vom Sport, sie wollte sich heute mit mir treffen und ich habe den Eltern versprochen, sie zur Bahn zu bringen. Wir unterhalten uns und
albern herum, als plötzlich eine Frau direkt auf uns zugestiefelt kommt
und fragt: „Na, sucht ihr eure Eltern?“

Bitte?! Sehe ich aus wie 12? Ich sagte: „Nein.“

Damit hatten wir den Anstoß für eine Unterhaltung gegeben. Es kam die
nächste Frage: „Ganz schön kalt hier, oder?“ – „Geht so, wir haben uns extra hierhin gestellt, da ist es warm.“ – „Müsst ihr schon immer in dem
Rollstuhl sitzen?“ – „Nein.“ – „Achso, hattet ihr einen Unfall?“ – „Ich
hatte einen Unfall und sie kann laufen, aber nicht so lange.“ – „Achso.
Und mit dem Sex klappt alles?“ – Meiner Freundin, sie möge mir entschuldigen, wenn ich sie als Landei bezeichne, fielen fast die Augen aus dem Kopf. Was sollte ich jetzt mit ihr diskutieren, ob ich darüber reden möchte, ich sagte einfach: „Alles in bester Ordnung.“

Sie sprach meine Freundin an: „Bei dir auch?“ – „Jaja. Alles gut.“ – „Och, das freut mich. Im Rollstuhl sitzen ist ja eine Sache, aber wenn man wenigstens nochmal richtig fi**en kann, das verschafft schon ein Stückchen Lebensqualität. Wobei Männer ja mehr leiden als Frauen, wenn sie nicht können. Aber…“

Ich fuhr ihr in die Parade: „Wir wollen das mal nicht weiter ausweiten, das Thema, ja?“ – „Ach, das muss dir nicht unangenehm sein, das macht doch jeder. Ist etwas ganz menschliches. Hast du einen Freund?“

Also doch diskutieren. Ich antwortete: „Geht Sie das was an?“ – „Also
keinen. Und du? Hast du einen Freund? Oder vielleicht eine Freundin? Gibt es ja auch, eine Freundin von mir ist auch Lesbe. Das ist heute etwas ganz natürliches.“ – „Ist gut jetzt. Ich möchte mich mit Ihnen nicht mehr unterhalten. Lassen Sie mich bitte in Ruhe.“

Sie starrte mich 10 Sekunden lang mit einem Psychoblick an, dann ging
sie weiter und nuschelte sich irgendwas in den nicht vorhandenen Bart. Als sie dreißig Meter weg war, guckte ich meine Freundin an. „Na du Lesbe?“, nahm ich sie hoch. Sie antwortete: „Hat die einen Schatten?“ – „Irgendwelche Pillen nicht genommen.“ – Meine Freundin lachte. Die Frau drehte sich um, musterte uns, kam zurück in unsere Richtung. Ich sagte zu meiner Freundin: „Komm, nichts wie weg.“

Wir suchten das Weite. Zum Glück tauchte die Frau nicht wieder auf. Ich setzte meine Freundin in den richtigen Zug (eigentlich hätte sie das
auch alleine gekonnt, aber ich hatte es den Eltern ja versprochen) und fuhr wieder nach Hause. Während ich im Bus saß, musste ich an den Kinofilm von gestern denken, bei dem ein hoch gelähmter Mann als einzig erogene Zone seine Ohren hatte. So ein Halsquerschnitt ist schon Asche, vor allem, wenn der Betroffene auch noch Phantomschmerzen hat. Also Schmerzen spürt in Gliedmaßen oder Körperbereichen, die er eigentlich nicht spürt. So etwas habe ich zum Glück nicht.

Aber sich bei einem hoch gelähmten Körper nur auf die Ohren zu beschränken … ich weiß nicht. Genauso, wie man vom Ansehen eines Pornos heiß werden kann, kann man auch davon heiß werden, wenn man sich in einem Bereich streichelt, den man eigentlich gar nicht mehr merkt. Oder dort eben gestreichelt wird. Ich hatte kürzlich die Diskussion mit einer
anderen querschnittgelähmten Sportlerin darüber, ob einem der Teil des Körpers „gehört“, den man nicht fühlt, den man nicht kontrollieren kann,
der zum Teil ein Eigenleben führt (Muskelkontraktionen etc.) und ob es ein Missbrauch dieses Körperteils ist, wenn man sich selbst zum Beispiel
mit Fingern oder gar einem Gegenstand streichelt oder sich gar penetriert, um auf indirektem Weg sexuelle Lust zu verspüren – statt es auf direktem Weg in einem Bereich zu machen, über den man noch Empfinden
hat (Brüste etc. – oder eben die Ohren). Eine interessante Frage, wie ich finde.

Kaum war ich zu Hause, springt mir ein aktueller und recht guter Artikel
in der Süddeutschen Zeitung entgegen, über das Tabu „Sex“ bei Körperbehinderung. Da fällt mir ein, dass ich mich lange schon mit Lotte nicht mehr getroffen habe. Das gilt es, bald nachzuholen.

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