Osterfeuer und später Besuch

Es ist ja so genial, dass mein Rolli wieder fährt, ohne dass einzelne Speichen klimpern, knarzen, knacken, brechen und ohne dass eine Acht oder gar eine Sechzehn in den Rädern ist. Nach dem eher heftigen Schnellfahrtraining im Rennrolli haben wir (in diesem Fall Cathleen, Sofie, Frank, Jana, Marie und ich) uns vorgenommen, mit unseren Handbikes (also nicht den Rennbikes, in denen man liegt, sondern den Vorspannbikes, die man für eine Radtour an den Alltagsrolli klemmt) zum Osterfeuer zu radeln. Für Cathleen, Marie und mich war das als Ausgleichstraining gedacht, die restlichen Leute sollten endlich ihre wintermüden Knochen mal wieder ein wenig bewegen und ihr Gefährt entstauben (und vorher am besten auch mal aufpumpen).

Um 20.00 Uhr sollte es losgehen und für die knapp 30 Kilometer haben wir gut zwei Stunden eingeplant. Um Viertel vor Sechs standen wir alle abfahrtbereit auf dem Hof und hofften auf beständiges Wetter. Die ersten
Kilometer bis zur Tatenberger Schleuse waren eher nervig, da wir nur auf Radwegen fahren konnten und an jeder zweiten Ampel anhalten mussten, aber ab da ging es 20 Kilometer ohne jede Ampel auf absolut ebener Asphaltfläche mitten durch grüne Wiesen, vorbei an ganz vielen Pferdis und noch mehr Schafis und einem wunderhübschen Sonnenuntergang über der Elbe direkt zum Osterfeuer.

Direkt vor Ort trafen wir noch zwei Leute aus meinem Sportverein, die auch mit ihren Handbikes dorthin gefahren waren und sich uns anschlossen. Durch das schlechte Wetter am Morgen qualmte es erstmal nur, dann aber irgendwann sah es richtig toll aus. Frank merkte noch an, was für eine Umweltverschmutzung wir mit unserem Besuch unterstützen würden, relativierte dann aber, dass wir ja schließlich nicht mit dem Auto dorthin gefahren seien. Die Bratwurst war auch lecker, das Bier auch – und wenn man nah genug am Feuer stand (und auch noch in der richtigen Richtung, so dass einem weder der beißende Qualm in die Nase noch die Funken in den Kragen wehten), war einem sogar richtig schön warm.

Um 22.30 Uhr machten wir uns dann auf den Heimweg und ja, wir hatten alle unsere Akkubeleuchtung dabei, und trockenen Rades waren um halb ein Uhr nachts völlig erschöpft und durchgefroren wieder zu Hause. Eigentlich wollte ich nach diesem tollen Abend nur noch in die Badewanne (aufwärmen) und dann ins Bett, aber vor unserer Haustür stand eine junge Frau, höchstens ein Jahr älter als ich, die ich ein paar Mal beim Krafttraining in meiner Klinik gesehen habe, während ich dort zur Physiotherapie war. Zwei, drei Mal habe ich mich mit ihr kurz unterhalten, ein paar Worte gewechselt. Sie war nach einem Reitunfall in einem allgemeinen Krankenhaus und als Kassenpatientin über eine Fallpauschale abgehandelt worden, somit nach sechs Wochen mit einer frischen Querschnittlähmung wieder draußen. Zum Vergleich: Ich habe fast ein Jahr gebraucht mit Reha und (okay, das kommt dazu) etlichen Komplikationen und weiteren Verletzungen. Aber sechs Wochen geht mal gar
nicht und ist absolut unverantwortlich. Aber heutzutage leider normal.

Ich dachte im ersten Moment, sie sei bei einer Mitbewohnerin zu Besuch und stehe jetzt vor der Tür, um frische Luft zu schnappen, zu rauchen, … was auch immer. Nein, sie sah total blass und durchgefroren aus, total verquollene Augen, dreckverschmiertes Gesicht – eigentlich wollte ich nur einmal „Hallo“ im Vorbeifahren sagen, entschied mich aber für ein nachgestelltes: „Alles in Ordnung mit dir?“

Drei Sekunden schaute sie mich an, dann kullerten die nächsten Tränen über ihre Wangen. „Jule? Kannst du mir helfen? Ich bin zu Hause abgehauen und weiß nicht mehr, was ich tun soll.“

Ich kannte sie kaum. Da steht um halb 1 Uhr nachts eine fremde Frau vor meiner Tür und will … ja was? Quatschen? Sich ausheulen? Bei mir schlafen? Zu Hause anrufen? Sich aufwärmen?

Ich fragte sie: „Wie hast du dir denn das jetzt vorgestellt?“ – Sie antwortete: „Ich weiß es nicht. Ich bin einfach nur verzweifelt. Meine Eltern sind nur noch anstrengend, ich kann nichts alleine, nichts klappt, meine Freunde können mir nicht helfen und Rollifahrer kenn ich keine. Nur dich. Wahrscheinlich denkst du, ich bin total bescheuert und bist total genervt, aber ich weiß echt nicht mehr weiter. Ich bin heute mittag von zu Hause los und hab es irgendwie geschafft, hierher zu kommen.“

„Woher wusstest du denn überhaupt, wo ich wohne?“ – „Du hast mir doch mal beschrieben, wo du wohnst, beim Krafttraining. Du hast mich gefragt, wie ich immer von … die 24 Kilometer zum Training komme und hast dann gesagt wo du wohnst. In was für einem Gebäude und hast von dem Wohnprojekt erzählt und so.“ – Das stimmte. Ich war überfordert mit der Entscheidung, ob ich sie nun mit zu mir in mein Zimmer (achso, im Amtsdeutsch haben wir übrigens Apartements^^) nehmen sollte, vor allem, weil ich schon einmal so eine krasse Begegnung hatte, die mich am Ende einige Nerven gekostet hat. Aber ich entschied mich für ein: „Na, komm erstmal rein.“

Cathleen und Sofie setzten sich mit ihr und mir an einen Esstisch im Aufenthaltsraum und uns wurde sehr schnell klar, dass die junge Frau völlig hilflos war. Sie ist entlassen worden, ohne überhaupt vom Fußboden wieder in den Rollstuhl kommen zu können, kann mit dem Ding kaum vernünftig fahren, geschweige denn dass der überhaupt richtig passte. Ihr falle zu Hause die Decke auf den Kopf. Die Mutter verdrängt ihre Ohnmacht, indem sie alle 20 Minuten in das Zimmer der erwachsenen Tochter komme und nach dem Rechten sehe. Der Vater bewundere sie den ganzen Tag lang. Sie wohne auf dem Dorf, niemand interessiere sich für sie, sie sitze den ganzen Tag zu Hause und warte darauf, dass es Abend wird. Oder dass der Vater sie zum Krafttraining fährt, da blühe sie auf,
da käme sie unter Leute, die mal mit ihr reden. Den Tipp, in der Fachklinik zum Krafttraining zu gehen, habe sie von ihrem Allgemeinmediziner bekommen. Das Krankenhaus, in dem sie behandelt wurde, hatte solche Möglichkeiten nicht und bietet auch keine Nachsorge an. – „Das ist normal so. Deswegen nimmt meine Fachklinik ja auch keine frischen Querschnitte im Rahmen der Fallpauschale mehr auf. Weil man die ganze Therapie eben nicht pauschal in sechs Wochen erledigen kann.“

Vermutlich war sie früher einfach nur gut behütet und umsorgt. Sie wirkte auf mich wie das Püppchen, das man lieber nicht zu laut anspricht, weil es sonst zerbrechen könnte. Und das es allen Recht machen möchte. Bloß keinen Streit vom Zaun brechen. „Wissen deine Leute eigentlich, wo du bist? Oder durchkämmen inzwischen drei bis vier Hundertschaften der Polizei die Umgebung?“ – „Mal den Teufel nicht an die Wand. Vermutlich ist es sogar so. Ich hätte nicht gedacht, dass das so lange dauert, bis ich hier bin. Mein Handy-Akku ist leer, zwei Stunden hab ich auf dich gewartet…“

„Dann rufen wir jetzt erstmal bei dir zu Hause an. Du oder ich?“ – „Was soll ich denen denn sagen?“ – „Dass du zwei Tage Abstand brauchst und dir alles über den Kopf wächst. Du bist bei Freunden und wenn sie das nicht glauben, reichst du den Hörer weiter.“

Es war kurz vor ein Uhr nachts, nach dem ersten Klingeln hob jemand ab und man konnte es durch den halben Raum hören: „Wo bist du denn? Geht es dir gut? Wir machen uns Sorgen! Was machst du denn bloß?“

Unglaublich. Sie hatte nichts dabei. Keine sauberen Klamotten, kein Schlafzeug, keine Zahnbürste, keine Katheter, keine Tabletten, nix. Und weil sie die seit mittags nicht mehr genommen hatte, roch sie auch nicht
mehr so ganz frisch. Während sie nun bei mir duscht (gehen wir mal davon aus, es dauert insgesamt rund eine Stunde), hoffe ich, heute nacht überhaupt ein Auge zuzumachen. Ich wünsche frohe Ostern!


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