So toll es auch ist, so sehnsüchtig ich damals darauf gewartet habe und so sehnsüchtig einige meiner minderjährigen Freundinnen und Freunde noch darauf warten: Der Sprung in die Volljährigkeit ist mit Sicherheit
ein Höhe-, vielleicht auch ein Wende-, zumindest aber ein rechtlich wichtiger Punkt im Leben jedes Menschen. Vieles ändert sich mit dem (hier) 18. Geburtstag. Dennoch stolpern viele junge Menschen über diesen
Moment, weil sie ihn aus meiner Sicht schlicht überbewerten.
Wer jetzt behauptet: „Das hättest du vor zwei Jahren sicherlich nicht gesagt!“, bekommt von mir nur zum Teil Recht. Klar, habe ich mich darauf gefreut, endlich selbständig zu sein und endlich tun und lassen zu dürfen, was ich will, ohne dass mir jemand reinredet. Aber einer Sache war ich mir bewusst: Die Rechte, die Stellung, die mir die Gesellschaft mit Erreichen der Volljährigkeit gibt, bekomme ich als Ergebnis einer Bewertung der Reife eines durchschnittlichen Menschens diesen Alters. Soll heißen: Die Gesellschaft findet, dass ein 18-jähriger oder eine 18-jährige im allgemeinen so reif ist, dass sie alleine Auto fahren, alleine wählen, sich besaufen in Maßen Alkohol trinken und noch ein paar andere Dinge tun darf. Und weil ich 18 bin, darf ich das alles auch. Mehr nicht.
Das bedeutet aber keineswegs, dass ich am Tag 6.575 meines Lebens mehr Erfahrung, Wissen, Routine, Glaubwürdigkeit, Kenntnis, Wasauchimmer habe als am Tag 6.574. Und das bekommt der eine oder andere nicht auseinander und neigt dazu, sich ab Tag 6.575 plötzlich zu überschätzen.
Daher kann es nimmer nie verkehrt sein, auf einen alten Hasen zu hören, über seine eigenen Worte nachzudenken oder gar eine Entscheidung noch einmal genau zu hinterfragen, vielleicht auch zu überdenken. Klar, habe ich den Anspruch an mich, möglichst selbständig zu sein, aber dennoch sind die meisten Tipps, die ich direkt oder zwischen den Zeilen von meinen Mitmenschen bekomme, oft ja nur gut gemeint.
Dennoch geht auch nichts über eigene Erfahrungen. Man kann jemanden nicht vor dem Leben beschützen. Etwas, was ich immer wieder sehe, wenn Eltern ihre Kinder mit Behinderung beim Sport „abgeben“ und vor Angst fast sterben, wenn ihr zwölfjähriges zum ersten Mal mit ihrem Rolli umkippt und sich einen blauen Fleck oder gar eine blutige Lippe holt. Andere Kinder holen sich das aufgeschlagene Knie spätestens mit 3 Jahren. Auch das Recht auf Verletzungen und das eigene Herausfinden von Grenzen gehört dazu. „Dazu“ kannst du nennen wie du willst, meinetwegen auch Inklusion.
Aber das war nur ein kleiner Abstecher vom Weg. Einmal hinter den Busch sozusagen. Ich will auf etwas ganz anderes hinaus: Bei unserem letzten Training besuchte uns eine ehemalige Trainerin des Vereins. Bis Ende 2010 stand sie unter Vertrag, selbiger wurde aber durch den Verein gekündigt – nach immerhin sechs Jahren. Einige waren gut mit ihr klar gekommen, andere weniger, einige wenige mochte sie nicht – und die einigen wenigen hatten bei ihr einen schweren Stand. Ich hatte mit ihr nie direkt zu tun, da sie in erster Linie die jungen Männer betreut hatte. Gerüchteweise hat es wiederholt Ärger darüber gegeben, dass sie nie genug verdiente, es soll mehrmals Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit Spesenabrechnungen gegeben haben – Gerüchte, die mich nichts angehen. Nach zwei weiteren Versuchen in anderen Vereinen, jeweils für ein halbes und für ein dreiviertel Jahr, wurden auch die neuen Verträge beendet – gerüchteweise aus denselben Gründen. Sie selbst schrieb drei persönliche Stellungnahmen zu ihren jeweiligen Vertragsauflösungen, jedes Mal habe sich der Arbeitgeber aus ihrer Sicht zu unflexibel und zu wenig kooperativ gezeigt.
Um nun endlich auf den Punkt zu kommen: Jene Frau suchte uns bei unserem letzten Straßentraining am Karfreitag auf, bat um eine Viertelstunde Zeit und wollte mit den drei jüngsten Frauen unter acht Augen sprechen, also mit Cathleen, Marie und mir. Sie wollte uns warnen vor einer bestimmten männlichen Person in unserem Verein. Ich kenne denjenigen schon aus der Zeit, als ich noch in der stationären Reha war, damals war er eher eine Art Trainer für mich, heute ist er ein guter Kumpel; und ich habe ihm viel zu verdanken. Er gehört aus meiner Sicht zu den (schätzen wir mal grob) drei besten Leuten in Hamburg, wenn es darum geht, jemandem den Umgang mit dem Rollstuhl beizubringen. Ich habe so viel von ihm gelernt. Nicht das Fahren von A nach B. Sondern alles, was darüber hinaus geht. Und selbst heute, wo ich behaupten würde, ich kann im Rollstuhl fahren, juckt es ihm in den Fingern, mir noch irgendetwas zu zeigen. Das sind dann eher schon „Kunststücke“, aber er schafft es, einen zu begeistern, doch noch wieder etwas neues auszuprobieren. Er selbst ist auch Rollstuhlfahrer.
Wenn ich ihn sehe, habe ich schlagartig gute Laune, wird er erstmal geknuddelt, die Wellenlänge stimmt sofort und es dauert keine sechzig Sekunden und er hat mich zum Lachen gebracht. Irgendein trockener Spruch kommt immer von ihm. Nie auf Kosten anderer. Er ist irgendwie immer lustig, manchmal sogar albern, fast immer zu Späßen aufgelegt – und dennoch sehr Respekt einflößend und durchsetzungsstark. Ich schätze ihn 15 Jahre älter als ich.
Neulich traf ich ihn in „meiner“ Klinik mitten auf einem der unzähligen Gänge, ich wollte gerade nach Hause – wir quatschten und quatschten und am Ende fand ich mich auf einem Übungsplatz wieder und er
brachte mir bei, wie ich mit Anlauf über zwei Stufen gleichzeitig springen kann. Abwärts natürlich. Alles eine Kopf- und Materialsache, man braucht sowas auch nicht unbedingt im Tagesablauf, schließlich kann man die zwei Stufen (solange es nicht mehr werden) auch langsam auf den Hinterrädern gekippt runterfahren, aber es ist ein Beispiel dafür, dass er aus einem einfach immer wieder eine neue Herausforderung herauskitzelt.
Regelmäßig wöchentlich und in Wochenendseminaren oder auf Ferienfreizeiten bietet er solches Mobilitätstraining an und ganz, ganz viele Leute sind ihm für das, was er tut, einfach unheimlich dankbar. Er schenkt ihnen Mobilität, die ein Rollifahrer ja bekanntermaßen nicht im Übermaß hat. Teilweise üben einige Jugendliche schon seit Jahren immer wieder mit ihm, teilweise wöchentlich – und es gibt nicht wenige, die mit 12 nur von Mama und Papa geschoben wurden und nicht wussten, wie sie ihren Rollstuhl um die Kurve lenken sollen, und mit 16 völlig alleine mit der Bahn zu ihrem Ausbildungsplatz fahren.
Er bringt ihnen das Schwimmen bei, Jugendliche, die sich vorher wegen ihrer Behinderung nur mit Schwimmflügeln und Halskrause ins Becken getraut haben, schaffen ein Jahr später plötzlich ihren Freischwimmer. Meinen ersten „Sprung“ vom Einmeterbrett (nach meinem Unfall) habe ich mit ihm zusammen gemacht. Auf dem Po bis zur Kante rutschen und reinplumpsen lassen – zehn Minuten habe ich auf diesem schwingenden Brett gesessen und mit meinen inneren Ängsten um die Wette gezittert. Er wollte es, ich wäre aus eigenem Antrieb nie auf dieses Brett geklettert. Ein bißchen habe ich es ihm zuliebe gemacht. Er saß daneben. Mit auf dem Brett. „Ich spring nach rechts, du nach links. Beide zugleich. Wenn du absäufst, rette ich dich.“ – Klingt billig, fast banal, war aber ein Meilenstein in meiner Reha. Ich fand es schmeichelhaft.
Natürlich säuft niemand ab. Dennoch war es schlimmer als bei meinem Freischwimmer, den ich machte, als ich 6 war. Als wir wieder draußen waren, wäre ich ihm am liebsten um den Hals gefallen vor Freude. Hinterher fand ich mich und meinen Auftritt, mein stundenlanges Rumgeeier, peinlich. Aber: Er hat an mich geglaubt. Er wusste, wie wichtig sowas ist und hat nicht locker gelassen. Und dafür bin ich ihm dankbar, genauso wie viele andere es sind.
Zurück zu dieser Trainerin: Sie behauptet nun, dieser Mann sei ein unberechenbarer … das Wort „Kinderschänder“ hat sie nicht gesagt, aber zumindest bei mir impliziert. Cathleen und Marie ging es genauso. Sie habe auch keine Beweise dafür, es sei nichts konkretes vorgefallen. Es sei nur ein Gefühl. Daher ein vertrauliches Gespräch unter acht Augen. Tja, Pustekuchen. Mindestens eine üble Nachrede ist das. Und für Vertraulichkeit bin ich immer zu haben, es sei denn, es geht darum, Leute in den Dreck zu ziehen. Was hindert sie daran, den offenen Dialog zu suchen? Nichts. Auf genau diese Frage bekam ich diese Antwort: „Ich habe keine Beweise.“
Ja, weißt du was? Dann halt einfach die Klappe. Um auf das Thema „Beschützerinstinkt“, „gut gemeinte Warnung“, „Lebenserfahrung“, „Weitsicht“, „guten Rat“ und ähnliches zurückzukommen: Ich bin für jede Warnung dankbar. Aber hier missbraucht jemand ganz klar seine Autorität, die sie mit fast 50 Lebensjahren wohl automatisch ausstrahlt. Und insofern ist es kein gut gemeinter Ratschlag mehr, sondern eine Hetze einer verprellten Arbeitslosen als Rache für eine Kündigung. Derjenige, um den es hier geht, war damals für die Kündigung offiziell zuständig. Entsprechend habe ich ihm das auch gesteckt und es nicht für mich behalten.
In der Presse, so die Trainerin weiter, wird derzeit von einem Lehrer geschrieben, der angeblich mit einer 14-jährigen Schülerin als Gipfel einer monatelangen Beziehung Sex gehabt haben soll. Dieser Lehrer soll, so die Presse, auf Facebook mit vielen seiner Schülerinnen „befreundet“ sein und auch regelmäßig chatten. Das Befreundetsein bei Facebook finde sie (finde im übrigen auch ich) bei einem Lehrer absolut unangebracht (vom Sex mit Schülern mal ganz zu schweigen).
Nur in unserem Sportverein handelt es sich nicht um einen Lehrer und auch um keine autoritäre Abhängigkeit. Als ich 16 war, habe ich den Typen auch bei Facebook in meine Freundesliste hinzugefügt. Zweimal hat er mich angeschrieben, insgesamt vier Worte: Herzlichen Glückwunsch. Zum 17. und zum 18. Geburtstag.
Ich habe heute endlich eine Sportkollegin erreicht, die heute 19 ist und ihn schon seit ihrem 12. Lebensjahr kennt. Sie hat eine angeborene Querschnittlähmung und hat bei ihm ebenfalls schwimmen und Rollifahren gelernt. Ich habe ihr von dem Gespräch mit der ehemaligen Trainerin erzählt. Ihre Antwort: „Absoluter Schwachsinn. Gerade beim Schwimmen muss er dich ja oft irgendwie und irgendwo anfassen und festhalten. Der hat mich in all den Jahren nie unvorbereitet berührt. Er hat immer vorher die Übung erklärt und angekündigt, dass er mich am Rücken und an der Schulter anfasst oder meine Füße oder meinen Kopf festhält oder sonstwas. Wir sind mit ihm auf Freizeiten gewesen, der ist nie irgendwo reingekommen ohne anzuklopfen oder sowas. Er hätte bei uns allen 1.000 Chancen gehabt, uns aus Versehen zu befummeln oder zu beobachten oder uns bei irgendwas ungefragt zu ‚helfen‘ – der hat sich immer korrekt verhalten.“
Er ist so ein Typ, dem man irgendwie gefallen möchte. Der sehr schmeichelhaft sein kann, mit dem man auch gut rumshakern kann. Marie kennt ihn kaum, Cathleen dafür um so besser. Wir beide, Cathleen und ich, haben sehr intensiv miteinander geredet. Und wir haben beide dasselbe gesagt: „Ich würde ihn bei einem One-Night-Stand nicht von der Bettkante stoßen.“ Auch nicht mit Blick auf den Altersunterschied. Ob aus Attraktivität, ob aus Dankbarkeit, aus falschen Erwartungen oder von mir aus auch nur der Sache wegen, sei mal dahingestellt. Den einzigen Grund, es nicht zu tun, liefert unsere freundschaftliche Beziehung zu seiner Partnerin. Und somit gibt es nichts, wovor man uns warnen müsste.