Der heutige 05.05. ist ein Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung, an dem europaweit zur Teilnahme an verschiedenen Aktionen aufgerufen wird. So gibt es auch in Hamburg die eine oder andere Aktion, an denen ich mich allerdings aus verschiedenen Gründen nicht beteilige. Was aber nicht heißen soll, dass ich nicht gegen das eine oder andere protestiere.
Eine Teilnehmerin reiste heute morgen mit der Bahn an und verband ihre Hamburg-Reise damit, unter anderem Sofie wieder zu treffen, die sie
von früher kennt und die sie, da sie rund 500 Kilometer von Hamburg entfernt wohnt, nur selten sieht. Sofie fragte mich, ob ich diese junge Frau auch kennen lernen möchte, was ich bejahte und mich mit Sofie auf den Weg zum Hamburger Hauptbahnhof machte, um sie dort abzuholen, ins Hotel zu begleiten und anschließend mit ihr etwas zu Mittag zu essen.
Die Frau war etwa in meinem Alter und hatte durch einen Sauerstoffmangel, den sie bei einer Geburtskomplikation erleben musste, eine Hirnschädigung erworben. Sie schafft es, mit zwei Fingern einen speziell angepassten elektrischen Rollstuhl zu steuern, kann aber sonst keine koordinierten Bewegungen durchführen. Wozu auch das Sprechen gehört. Allerdings schafft sie es, sich darauf zu konzentrieren, mit ihren Augen einen bestimmten Punkt für einige Sekundenbruchteile zu fixieren.
Und das war vor einigen Jahren der entscheidende Durchbruch: Eine schwedische Firma hat, ursprünglich zu Marktforschungszwecken, ein Gerät
entwickelt, das den Benutzer eines PCs beobachtet. Und zwar misst dieses Gerät über eine Infrarotleiste die Bewegung der Augen und errechnet daraus auf den Millimeter genau, wohin derjenige, der vor dem Bildschirm sitzt, gerade guckt und was genau er fixiert. Damit sollte ursprünglich überprüft werden, wie sinnvoll Webseiten aufgebaut sind, wie lange ein Benutzer sucht, um einen Link zu finden oder ähnliches.
Bis irgendeiner auf die Idee kam, das Ding jemandem vorzusetzen, der seinen Körper nicht koordiniert bewegen kann. Inzwischen gibt es umfangreiche Software für diese Produkte. Ich habe so etwas zum ersten Mal gesehen und war absolut fasziniert. Die junge Frau hat einen 17-Zoll-Monitor an ihrem elektrischen Rollstuhl angebracht und kommuniziert über dieses Teil mit ihrer Umwelt. In einem speziellen Sprechprogramm kann sie, wie man es von einem Talker bereits kennt, entweder buchstabieren oder aus einer Liste häufig gebrauchter Wörter auswählen. Das funktioniert ähnlich wie bei diesen Worterkennungsprogrammen im Smartphone, die einem bei einer Nachricht auch immer schon nach drei Buchstaben die nächsten Wörter vorschlagen, allerdings ist es hier ausgereifter, zumal ja auch deutlich mehr Rechenleistung zur Verfügung steht und mehr Entwicklungs- und Anpassungsmöglichkeiten.
Ich habe dann mal hinter ihr gestanden und mal geschaut, was sie da konkret macht. Sie war so nett und hat es mir langsam für Anfänger vorgeführt. Als sie jedoch sich „normal“ mit Sofie unterhalten hat, bin ich nicht mehr hinterher gekommen. Sie ist so schnell durch die einzelnen Menüs gesprungen, um Sätze zusammen zu bauen, dass ich irgendwann nur noch dachte: „Toll machst du das.“ – Und mich wieder auf die andere Seite gesetzt habe.
Naja, das Ding ist dann noch internetfähig, hat Musik drauf, die man über Kopfhörer oder Lautsprecher hören kann, Youtube, Fernsehen (sofern die Verbindung schnell genug ist), man kann fotografieren, filmen, Bücher online lesen (und blättern) … alles, was man mit einem PC oder einem Smartphone auch tun kann. Nur dass sie das Ding ausschließlich über ihre Augen steuert.
Und der Hammer: Dieses Gerät kommuniziert auch mit diversen anderen Geräten. Dass man die Rolläden und das Licht im Zimmer automatisch steuern kann, ist ja nun nichts neues mehr. Aber via Bluetooth kann das Ding zum Beispiel auch einen entsprechend ausgerüsteten Aufzug steuern, also sich synchronisieren, das Rufknöpfchen drücken und in der Kabine das Ziel auswählen.
Früher hatte sie Familienangehörige oder einen Assistenten um sich herum, mit denen wurde auch über die Augen oder über Laute kommuniziert.
Entsprechend hatte sie auch eine Assistenz für die Schule. Inzwischen studiert sie und braucht, von der Pflege abgesehen, keine weitere Hilfe.
Zumindest eben nicht für so „einfache“ Dinge wie die Kommunikation. Es war echt wieder so eine bewegende Geschichte, denn wie man sich vorstellen kann, haben viele Leute sie lange Zeit für geistig enorm eingeschränkt gehalten.
Und leider ist es auch genau das, was sie im Alltag wieder erlebt. Einige meiner Leute sagen ja immer, dass ich die schrägen Situationen anziehe wie ein rollender Elektromagnet. Nein. Ich habe das Gefühl, diese schrägen Situationen häufen und vermindern sich parallel zum Umfang der Behinderung, dem eigenen Umgang damit und den wiederum deshalb verwendeten Hilfsmitteln. Die Frau war natürlich die Attraktion im Hamburger Hauptbahnhof: Eine Rollstuhlfahrerin mit einem Bildschirm am Rolli! Wann sieht man so etwas schonmal. Und da es keine Tastatur gab, war das Ding wohl nur zum Fernsehen oder Computer spielen…
Wir haben natürlich schnell eine möglichst ungestörte Ecke in einer Gaststätte gesucht, was schwierig war, denn es war überall gut gefüllt. Als uns einer fotografieren wollte, meinte Sofie: „Sag mal, wir sind doch hier nicht in der Muppet-Show!“ – Der Typ lachte und setzte dann tatsächlich seine Kamera an und begann zu knipsen. Als die Bedienung an unseren Tisch kam, bestellte unser Besuch natürlich über diesen Talker. Sie hatte sich vorher mit unserer Hilfe konkret durch die Speisekarte gefragt und dann bereits einen Text vorformuliert und den dann abgerufen. Was sagt die Kellnerin: „So, können wir das jetzt auch vernünftig klären ohne diesen Scheiß?“
Augenblicklich merkte ich meinen Hals anschwellen, aber bevor ich mich da einmischen konnte (und wollte), laberte ihre Kiste schon: „Bitte
entschuldigen Sie, dass ich versäumt habe, Ihnen den Sinn dieses Gerätes zu erklären. Ich kann wegen meiner Behinderung nicht sprechen und bitte Sie höflich, mit mir über dieses Gerät zu kommunizieren. Sie können ganz normal reden, ich verstehe Sie sehr gut. Für mich redet mein
Computer, den ich mit meinen Augen steuere. Vielen Dank für Ihr Verständnis.“ – Ein fertiger Text, der wohl permanent schnell greifbar ist.
Die Kellnerin hat es trotzdem nicht verstanden, meinte, sie lasse sich nicht verarschen und zog von dannen, wir zogen dann noch einmal um in einen anderen Laden, doch da erging es uns ähnlich. Als Sofies Freundin ihre Bestellung vorlesen lies, meinte der Kellner: „Haha, das ist ja lustig. Kannst du wirklich nicht sprechen oder willst du hier mit
mir ein bißchen Quatsch machen?“ – Die Frau lies das Ding wieder diesen
vorprogrammierten Text erzählen, aber der Kellner ging mittendrin weg, redete mit seinem Kollegen und sagte dann: „So, wollen Sie jetzt was essen oder nicht?“
Sofie sagte: „Nein, wir haben es uns anders überlegt.“ – Und zogen zum dritten Mal, diesmal in unser Lieblings-Burger-Restaurant, um. Dort war es zwar auch endlos voll und in der Warteschlange hatten wir eine Dreiergruppe vor uns, die ebenfalls fasziniert von diesem Gerät war, die
aber erstmal fragten und mit denen wir dann auch einige Minuten ins Gespräch kamen. Das war völlig okay. Und dann waren wir mit der Bestellung dran und die junge Frau hinter der Kasse bekam das problemlos
geregelt und war sehr flexibel. Da es sehr laut war, konnte sie diesen Talker kaum verstehen, kam um den Tresen herum und stellte sich direkt vor diesen Computer, bediente dann die Tasten ihrer Kasse über den Tresen hinweg. Sie hatte auch sofort drauf, wie dieses Gerät bedient wurde: „Machen Sie das mit den Augen? Das ist ja genial. Tschuldigung, aber ich bin gerade völlig von den Socken.“
Sie fragte dann: „Möchten Sie Ketchup oder Mayonnaise dazu?“ – Und als sie dann merkte, dass sie in ihrem Ding erstmal umständlich blättern
musste, sagte sie: „Ich frage anders: Es gibt Ketchup oder Mayonnaise zur Auswahl. Möchten Sie Ketchup? Es gibt Pommes oder Knoblauchbrot zum Burger im Menü dazu. Möchten Sie ein Menü? Möchten Sie Knoblauchbrot? Lieber Pommes? Das Getränk gibt es in 0,3 und in 0,5. Ist 0,3 in Ordnung? Nein, dann 0,5?“
Auch das Bezahlen klappte einwandfrei. Sie wurde aufgefordert, das Geld aus einer Seitentasche am Rollstuhl zu nehmen. Sie legte das Portemonnaie auf den Tresen vor ihr, schüttete die Münzen aus und nahm sich vor ihren Augen das Geld, was sie brauchte. Später erzählte Sofies Freundin, dass das oft irgendwo abseits mit zugewandtem Rücken passiere.
Sie habe zwar noch nie erlebt, dass sie dabei betrogen worden ist, aber
sie schaut trotzdem gerne selbst zu. „Bitte suchen Sie sich einen Tisch, ich stelle Ihr Menü zusammen und bringe Ihnen das Tablett an den Platz. Okay?“ – In einem Burger-Schnell-Restaurant, wo man üblicherweise
selbst für seine Tabletts verantwortlich ist.
Sofies Freundin wollte dann ihre Assistenz anrufen, die im Hauptbahnhof bummelte, um sich füttern zu lassen, aber Sofie meinte, dass sie das auch tun könnte. Am Nachbartisch nahm ein junger Mann Platz. Ohne was zu essen, halb hinter Sofies Freundin. Wir beide sahen ihn, Sofies Freundin sah ihn nicht. Stattdessen glotzte er. Er erschien mir irgendwie nicht geheuer. Plötzlich kam von dem Typen ein Kommentar: „Na, so gut möchte ich das auch mal haben. Fernsehen und sich dabei füttern lassen.“ – Ich war ohnehin schon so geladen, dass ich mich zusammenreißen musste, demjenigen nicht im hohen Bogen mein Getränk in die Visage zu kippen. Entscheidend war, dass ich ihn nicht treffen würde, ohne dabei auch Sofies Freundin zu duschen. Gut, dass ich es nicht gemacht habe. Sofies Freundin fing an zu lachen und drehte ihren Rollstuhl so, dass sie den Typen sehen konnte. Es war der Partner einer anderen E-Rolli-Fahrerin, der uns zufällig beim Reinrollen in den Laden von der anderen Straßenseite aus gesehen hatte. Seine Freundin, Sofies Freundin und er waren in einer halben Stunde verabredet und wollten gemeinsam zu einer dieser Aktions-Protestkundgebungen. Als ich ihm sagte, dass seine Aktion ihm beinahe eine Cola-Dusche beschert hätte, meinte er: „Dann habe ich ja wohl enormes Glück gehabt.“ – Hat er.