Die Hälfte ist Rum

Nichts beschreibt so sehr den Zustand unserer Unterkunft wie die Überschrift meines heutigen Beitrags. Ich weiß, warum ich spezielle Herbergen und Gästehäuser für Sportler einer stinknormalen Jugendherberge vorziehe. Die Zeiten, in denen in Jugendherbergen striktes Alkoholverbot nicht nur galt, sondern auch umgesetzt wurde, scheinen vorbei zu sein. Oder dieses Haus fällt in dieser Hinsicht besonders negativ auf. Es verging bisher nicht ein Tag, an dem hier keine Saufparty stattfand und diverse Jugendliche grölend, polternd und kotzend durch die Flure lärmten. Und dabei habe ich mein Schlafbedürfnis noch nie so groß eingeschätzt wie es auf mich gerade wirkt.

Zum Glück ist hier nicht nur die Hälfte Rum, sondern auch die Hälfte rum, das heißt: Noch drei Mal schlafen, dann ist Abreise angesagt. Ich befinde mich mit meinen Leuten vom Sport in einem Trainingslager in Bayern, das eigentlich super toll ist, wäre da nicht das immer größer werdende und so allmählich alles bestimmende Schlafdefizit. Wir alle sind nur noch müde, zunehmend gereizt und körperlich vor allem auch alles andere als leistungsfähig. Und eigentlich möchten wir ja trainieren. Nach Dutzenden Beschwerden beim Veranstalter (nicht nur die Hamburger fühlten sich belästigt), wurde heute hart durchgegriffen: Die Herbergsleitung hat am Morgen eine 40köpfige Reisegruppe aus Berlin des Hauses verwiesen. Aufatmen ist angesagt. Und schlafen. Seit mittags haben wir alle trainingsfrei, um uns ausruhen zu können. Und was soll ich sagen? Bei relativ schönem Sommerwetter liegen rund 50 Spotlerinnen und Sportler auf ihren Betten und pennen. So etwas habe ich noch nicht erlebt.

Dabei hatte alles so gut angefangen: Das Wetter ist hier deutlich besser als im Norden, die Trainer sind okay, die Trainingsbedingungen auch, das Essen und die Betten sind überdurchschnittlich. Und wir alle haben uns sehr gefreut, uns endlich mal alle wieder zu sehen, also auch über die Grenzen eines Bundeslandes hinweg. Zeit für- und miteinander zu haben, sich auszutauschen, zu quatschen – schön.

Für einigen Spaß sorgt außerdem eine weitere Gruppe aus Niedersachsen, die parallel zu uns ein Trainingslager durchführt. Jeweils sechs Männer und Frauen zwischen 16 und 25, jedoch nicht mit körperlichen, sondern mehr mit kognitiven Einschränkungen, trainieren im selben See und wohnen in der selben Jugendherberge. Es sind aber zwei verschiedene Veranstalter, somit auch verschiedene Trainer – dass wir hier aufeinander treffen, ist purer Zufall. Aber umso lustiger, denn behindert und behindert verträgt sich. Irgendwie. Während die zwölf gegenüber anderen Herbergsgästen, darunter auch einige Familien, sehr zurückhaltend bis schüchtern sind, hatte ich den ersten jungen Mann bereits beim allerersten Frühstück vor mir stehen. Mit zusammengekniffenen Augen und ausgestreckter Hand kam er auf mich zu und nuschelte etwas undeutlich, dafür aber umso lauter: „Guten Morgen, schöne Frau im Rollstuhl, ich bin Max und ich bin von der anderen Gruppe. Wir schwimmen auch bei euch im See und ich wollte nur Bescheid sagen, der See ist toll und wir freuen uns auf euch. So. Und wie heißt du?“

Die zweite Frage war dann, ob ich einen Freund habe, die dritte, wie schnell ich 100 Meter kraulen kann. Als ich ihm meine Zeit nannte, meinte er sofort, er sei besser. Dass ich ohne Beinschlag schwimme, hat er nicht realisiert, macht aber nichts. Er nahm es sportlich: „Du wirst bestimmt noch schneller, wenn du hier richtig trainierst.“ – „Deswegen bin ich ja hier, ich muss noch viel lernen.“ – „Und Rücken?“ – „Ich trau mich gar nicht, die Zeit zu sagen, du bist bestimmt wieder besser.“ – „Du darfst das ruhig sagen, ich lach dich nicht aus. Bei uns lacht keiner über den anderen, das ist oberste Regel!“ – Na dann…

Ohne jede Berührungsängste wurde Cathleen gleich von einem anderen jungen Mann von hinten überraschend umarmt, während sie sich gerade ihr Brötchen bestrich – und sich gehörig erschrak. „Du hast so tolle Haare!“, schwärmte er. Womit er zweifelsfrei richtig liegt, nur trotzdem musste er auch er sehr schnell akzeptieren: Anfassen ist nicht. Das wusste er eigentlich auch, nur scheint er es bei hübschen Frauen gerne einmal zu vergessen. Ein drittes Gruppenmitglied, 16 oder 17, stand bis zu den Schultern im See und machte ziemlich eindeutige Bewegungen, vermutlich in der Hoffnung, man würde sie unter Wasser nicht erkennen. Direkt neben mir und Marie. Ich fragte: „Na? Alles in Ordnung bei dir?“ – „Ja wieso?“ – „Sieht so aus als wenn du dir gerade deine Badehose auf links drehst.“ – „Nee, ich mach nichts.“

Am Ufer sagte eine weibliche Kollegin von ihm in Richtung des Trainers: „Rüdiger, der Martin fiedelt sich schon wieder einen!“ – Marie verschluckte sich fast beim Versuch, nicht zu lachen. Rüdiger hörte das nicht, also nahm die sportliche junge Frau mit Down-Syndrom die Sache selbst in die Hand. Sie stemmte ihre Hände in die Hüften und rief in energischem Tonfall: „Martin, jetzt hör mal auf damit. Du sollst das nicht machen, wenn das alle sehen können. Wir wollen das nicht sehen.“ – „Ich mach doch gar nichts!“ – „Das sagst du immer. Ich hab das aber genau gesehen. Frau … hat gesagt, du kannst nicht mehr mitmachen, wenn du das immer machst beim Sport. Jetzt benimm dich mal!“

Ein anderes Mädchen aus der Gruppe, schätzungsweise 16 Jahre alt, war zunächst sehr schüchtern, kam aber irgendwann ausgerechnet auf mich zu und fragte: „Darf ich dich mal was fragen? Können wir mal gegeneinander um die Wette schwimmen?“ – Sie war allerdings etwas cleverer als Max, denn der zweite Satz war: „Ich schwimme gegen dich auch ohne Beinschlag und ich schummel nicht.“ – Sie hat gewonnen. Wenn auch ganz knapp. Zum Glück lief keine Uhr mit, sonst hätte sie vielleicht gemerkt, dass ich nicht 100% gegeben habe: Ich habe meinen Schwimmstil auf die Bewegung ohne Beinschlag optimiert, sie hat es vermutlich zum ersten Mal probiert. Ich hätte es gemein gefunden, sie gnadenlos abzuhängen, nur weil sie das nicht bedacht hat. Und was ihre „normalen“ Zeiten anging, kenne ich nicht die Referenzzeiten ihrer Startklasse, kann aber so viel sagen: Würden sich ein Schwimmtrainer und eine Trainingsgruppe finden, die Rücksicht darauf nehmen, dass sie etwas länger braucht, um etwas zu verstehen, könnte sie mit 1:18 auf 100 Metern Freistil ohne mit der Wimper zu zucken in einer nicht behinderten Gruppe mithalten.

Nun werde ich meinen Schönheitsschlaf fortsetzen. Morgen soll es ziemlich warm werden und zu unserer Freude steht ein Training mit dem Rennbike auf dem Programm. Wir wurden heute von einer anderen Teilgruppe
schon vorgewarnt: Die Strecke hat es in sich. Eine Steigung nach der nächsten. Aber zum Glück geht es ja irgendwann mal wieder bergab. Und abends ist dann der Familienbesuch dran: Bin ich aufgeregt?!

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