Emma und Paula

Schreibstauentstehung nenne ich das Phänomen, das einem intensiven Erleben ereignisreicher Tage und kurzer Nächte zwischen fremden Wänden geschuldet ist. Keine Angst, aus dem Schreibstau entwickelt sich kein anderer Schreibstil, mir hat lediglich die Sonne ein wenig zu doll auf den Kopf geschienen. Das zusammen mit vielen neuen und tiefen Eindrücken ließ mich heute morgen beim Blick in den Spiegel jemanden erkennen, der
neben mir sich steht sitzt.

Bevor ich also über so langweilige Dinge schreibe wie ein absolut spannendes Trainingslager in Bayern mit vielen netten Leuten, jeder Menge Spaß, guten Trainern und dem Gefühl im Bauch, es hat sportlich eine Menge gebracht, muss ich als allererstes von dem Treffen mit meinen zwei Halbschwestern schreiben.

Es war deutlich entspannter als zuerst angenommen, wenngleich es sehr bewegend war. Nicht, weil ich nach 20 Jahren endlich meine Halbschwestern sehe – von denen habe ich zwanzig Jahre nichts gewusst, also habe ich auch nichts vermisst. Nein, die Tatsache, dass mein Vater mir über Jahrzehnte nichts gesagt hat und mich ganz offensichtlich auch angelogen hat, das ist schon hart. Das ist eine Dimension, die ich von ihm bisher nicht kannte. Und die natürlich weitere Zweifel aufwirft. Was ich auch sehr ungerecht fand, ist, dass meine Halbschwestern seit jeher von seinem Doppelleben wussten, ich jedoch nicht. Aber dafür können sie natürlich nichts.

Ich habe mich mit Informationen zu mir vor dem Treffen sehr bedeckt gehalten. Wenngleich ich mir sehr sicher war, dass das alles echt ist, blieben mir bis zuletzt einzelne Zweifel, ob mich eventuell jemand verarscht. Irgendein lustiger Leser, irgendeine der Personen, die von meiner Anwältin mal aufgefordert worden sind, mir keine Pimmelbildchen mehr zu schicken, meine psychisch kranke Mutter oder jemand, der auf junge Frauen mit Querschnittlähmung steht und mich hinterhältig in eine Falle lockt. Nichts von alledem war der Fall, aber meine Vorsichtsmaßnahme, Informationen über mich nur sehr sparsam herauszugeben, hatte dazu geführt, dass sie, sofern mein Vater nichts darüber erwähnt hatte, nicht wussten, dass ich einen Unfall hatte und im Rollstuhl sitze. Das ist zwar fies, aber … sie hatten 20 Jahre einen Wissensvorsprung, ich 20 Tage. Es war auch okay.

Und in der Tat hat mein Vater nichts von meinem Unfall erzählt, sondern hat sogar noch Kontakt, sogar in derselben Regelmäßigkeit wie bisher, etwa einmal pro Quartal. Auch von seiner Trennung und seinem Auszug hat er nichts erzählt. Meine zwischenzeitliche Befürchtung, dass er dort inzwischen wohnen könnte, bestätigte sich (entsprechend) zum Glück nicht. Der Wunsch, mich zu sehen, ging eindeutig von meinen Zwillingsgeschwistern aus, und die beiden haben am Ende auch durchgesetzt, dass sie mich erstmal alleine treffen. Meinen spärlichen Informationen hatte es zur Folge, dass ich im Augenblick meines Auftauchens einen Überraschungsmoment auf meiner Seite hatte, der zwar eher mehr als weniger gemein ist, der aber im Nachhinein vieles von beiden Seiten erheblich entspannt und verkürzt hat.

Ich hatte letztlich Marie als Begleitung mitgenommen und so tauchten wir in einer wunderschönen Stadt auf, etwa 2.000 Jahre alt, mit vielen historischen Gebäuden aber dennoch einer modernen Infrastruktur und daher auch mit dem Rollstuhl gut zu bewältigen. Das Wetter war schön. Wir hatten uns an einem Cafè verabredet, die beiden saßen draußen an einem der Tische, ich erkannte sie anhand der vorher gesehenen Fotos sofort, bei den beiden dauerte es spürbar länger. So lange, dass es mir gelang, mit der Frage: „Ist hier noch frei?“ zunächst ein „Nein“ aus ihnen herauszukitzeln.

Als erstes bekamen wir erzählt, dass die beiden gerade fünf Minuten zuvor noch besprochen hatten, sich pünktlich zum vereinbarten Termin ein großes Eis zu bestellen und wieder zu verschwinden, wenn das aufgegessen ist. Soll heißen: Sie haben mit dem Gedanken gespielt, dass ich dort überhaupt nicht auftauchen würde. Um so mehr freuen sie sich, dass sie mich endlich mal live sehen. Dann kam die aus meiner Sicht geschickte Auflösung meines Überraschungsmomentes: „Wie kommt es eigentlich, dass ich mir dich noch nie im Rollstuhl sitzend vorgestellt habe?“ – „Hat unser Vater davon nie etwas erwähnt?“ – Beide schüttelten den Kopf.

Das coolste war: Es war kein Problem. Kein Mitleid, kein falscher Respekt meinem Fortbewegungsgerät gegenüber, keine Berührungsängste. Völlig unkompliziert. Eine der beiden studiert Psychologie, zusammen mit
ihrer besten Freundin, einer Rollstuhlfahrerin, die sie schon seit der Grundschule kennt – mit angeborener Querschnittlähmung. Das erklärt vielleicht einiges, aber nicht alles. Die andere der beiden hat gerade ihre Laufbahnprüfung bei der Polizei bestanden.

Was soll ich schreiben? Ich muss die ganzen Eindrücke, Geschichten, Fotos und das ganze Gewirr drumherum erstmal verdauen. Es war insgesamt sehr positiv, es gab viel zu erzählen, es gibt eine gemeinsame Wellenlänge, auch einen gemeinsamen Humor – und beide können unheimlich toll zuhören und erzählen. Schnell waren einige Stunden vorbei und wir trennten uns wieder, allerdings wollen die beiden in der nächsten Woche einmal in Richtung Norden aufbrechen. Ich bin ab heute für eine Woche mit einer Kinder- und Jugendfreizeit an der Ostsee (als „Betreuerin“) und vermutlich am Dienstag wollen meine beiden neuen alten halben doppelten Geschwister mich besuchen. Ich freue mich schon sehr darauf. Vorher werde ich aber versuchen, zwischen Sand, Sonnencreme, Schokoeis und Seewasser meinen Schreibstau aufzulösen.

Und fast hätte ich es vergessen: Sie haben sich die Adresse meines Blogs notiert. Und wollten ihn lesen bis zur nächsten Woche. Hoffentlich wollen sie danach mich trotzdem noch näher kennen lernen. Auf die Frage, wie ich die beiden denn nennen soll, sofern ich nicht die realen Namen verwende, sagten sie fast aus einem Mund: „Emma und Paula.“ – „Ah ja. Und wer ist Emma?“ – „Die ältere von uns beiden. Ich bin ein paar Minuten älter“, sagte Emma. Und Paula grinste.

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