Bauchweh und nächtliches Schwimmen

Was kann man gegen Schreibstau tun? Richtig: Schreiben. Es gibt noch etwas zu schreiben, das zwar zeitlich nicht mehr so ganz passt, aber für mich so wichtig ist, dass ich es auf jeden Fall in meinem Tagebuch hinterlassen und nicht einfach so vergessen möchte. Während meines Trainingslagers in Bayern ist natürlich noch etwas mehr passiert als Training und das Kennenlernen meiner Halbschwestern.

Es war das Ende eines langen Trainingstages, eines der letzten, es wird abends bereits deutlich früher wieder dunkel, wir älteren Mädels hatten eine anstrengende Einheit im Rennrolli hinter uns und ich saß in dem Teil und kämpfte mit Bauchkrämpfen. Soll heißen: Ich hatte meine Hände auf meinen Unterbauch gedrückt und versuchte, mich möglichst nicht zu bewegen, sondern abzuwarten, dass das wieder aufhört. Ich stand auf einer Rasenfläche am See (Rasen, damit der Stuhl nicht ständig weiterrollt), und während alle anderen bereits in Richtung Dusche verschwunden waren und Tatjana die Rennrollis für die Nacht in die Sporthalle manövrierte, versuchte ich mich abzulenken. Direkt neben mir war ein See. Haubentaucher tauchten trotz einsetzender Dunkelheit, Krähen krähten, Grillen grillten und Stinkesocke … lassen wir das. Ich versuchte herauszufinden, ob ich ein Ernährungsproblem oder ein Flüssigkeitsdefizit hatte – meine Tage waren eigentlich nicht dran und normalerweise täten die auch nicht so weh. Genug Flüssigkeit hatte ich eigentlich auch in mir (und nicht nur Wasser), vermutlich also doch die Kantinenkost.

Tatjana sprach mich an, ob ich nicht langsam auch mal duschen gehen wollte. Ich ließ mich aus dem Rennrolli ins Gras purzeln, warm genug war es noch, legte mich mit angewinkelten Beinen auf den Rücken in eine Art
Schonhaltung und wartete weiter darauf, dass die Bauchkrämpfe aufhören.
Vielleicht musste ich ja nur mal pupsen und alles wäre wieder gut? Ich starrte minutenlang in den Nachthimmel. Aus den Minuten wurde mindestens eine Viertelstunde. Erst jetzt merkte ich, dass sich ein älterer Teilnehmer aus einem anderen Team ein Stück weiter neben mir ebenfalls ins Gras gelegt hatte. Er hielt nach den Sternen Ausschau, die aber, bis auf einen, noch nicht zu sehen waren. Warum lag der neben mir im Gras? Wollte er was von mir? Falls ja, wäre es vielleicht nicht so toll, hier rumzupupsen. Falls das denn überhaupt passiert und der Grund für die Bauchkrämpfe ist. Ich wagte einen Blick in seine Richtung – nee, der ist rund 20 Jahre älter als ich, der will nichts von mir.

Plötzlich fing er an, sich auf dem Rasen liegend zu rollen, und zwar in meine Richtung und so lange, bis er mich anstieß und dann meinte: „Upps! Tschuldigung! Da liegt ja jemand!“ – Jaja, so ein Zufall. – „Na? Was kugelst du denn hier rum?“ – „Ich hab mich gesucht.“ – „Und? Hast du dich gefunden?“ – „Nein. Aber dich.“ – Ach echt?! Autschn. So ein cooler Anmachspruch. – „Was machst du denn hier so alleine nachts auf einer dunklen Wiese? Sterne zählen? Oder hast du dich gezofft mit deinen Mädels?“ – „Nee, weder noch.“ – „Liebeskummer?“ – „Auch nicht.“ – „Einsam?“

Was sollte ich sagen? Ich habe Bauchschmerzen und würde mich freuen, wenn ich in den nächsten drei Minuten einmal laut furzen könnte? Nicht gerade ladylike. Da ich nicht antwortete, tat er es: „Also einsam. Hmm, was machen wir denn dagegen?“ – „Alles, nur nicht rumbaggern.“ – „Oh, das wird schwierig. Aber hast du gerade ‚alles‘ gesagt? Du solltest etwas vorsichtiger sein mit dem, was du sagst. Ich könnte ja jetzt auch ein Böser sein und das als Einladung verstehen.“ – „Einladung wozu?“ – „Kannst du dir aussuchen. Die letzten Leute sind gerade aus der Dusche raus in Richtung Jugendherberge.“

Ach du Scheiße. Was passiert hier eigentlich gerade? Ich liege im Dunkeln alleine mit einem mir fast völlig unbekannten Typen an einem verlassenen See – und der Typ legt Wert darauf, kein Böser zu sein. Hoffentlich ist er wirklich Rollifahrer und hat nicht auf diese Situation gewartet, ist plötzlich nicht mehr behindert und verge… – keine Panik. Wo ist mein Rolli? Tatjana hat doch nicht etwa den Rennrolli in die Halle gestellt und mir meinen Alltagsrolli nicht rausgeschoben? Ist die irre? Soll ich jetzt zur Dusche robben oder was?

Die haben mich vergessen. Ohne Handy liege ich in verschwitzten Trainingsklamotten mit einem fremden Typen am See und warte auf … die Bauchschmerzen sind weg. Vor lauter Aufregung. Herzklopfen. – „Ich hätte
ja Lust, noch ne Runde im See zu baden“, meinte er. „Kommst du mit?“

Was mach ich denn jetzt?! Aufwachen? Nein, kein böser Traum. Irgendwas antworten? Und dann hört er an meiner Stimme, dass ich Angst habe? Und wartet vermutlich nur drauf?

Einmal tief durchatmen. Es gibt überhaupt keinen Anhaltspunkt dafür, dass er was komisches vor hat. Er hat sich regulär angemeldet, die Leute aus seinem Team kennen ihn (hoffentlich) … er fragte: „Ja oder nein? Na komm, das Wasser ist warm. Oft ist das Wasser abends wärmer als die Luft. Das ist ein tolles Gefühl.“ – „Gehst du oft nachts baden?“ – „Ja, meistens alleine. Manchmal aber auch mit Freunden. Oder mit netten Frauen, die einsam am See liegen und auf mich warten.“ – „Ich hab nicht auf dich gewartet!“ – „Na komm, was ist los. Hast du Schiss? Ich tu dir nichts. Ich kann dir auch deinen Stuhl holen und wir fahren zurück zur Jugendherberge. Jetzt sofort. Dann entgeht dir aber das schöne warme Wasser und jede Menge Spaß.“

Ich gab mir einen Ruck. „Schwimmen.“ – Ich rutschte auf dem Po die paar Meter zum Ufer. Hielt die Füße ins Wasser, ließ mich, Füße voran, über die Kante rutschen und war drin. Plumps, platsch, spritz, bibber, frisch, herrlich. Der Typ kam hinterher gerutscht bis zur Kante. „Angezogen?“ – „Ja, dachtest du nackt? Dann hab ich doch hinterher den ganzen Sand im Arsch. Kommst du jetzt rein?“

Ich überlegte gerade, ob ich hier jemals alleine wieder raus kommen würde oder ob ich fünfzig Meter weiter über den Steg rausklettern musste. Dann war auch er im Wasser. „Herrlich!“, meinte er. Wir schwammen bestimmt eine Viertelstunde mit genügend Abstand, um uns nicht in die Quere zu kommen, dann kletterte ich wieder aus dem Wasser und schaffte es auch auf Anhieb an jener Stelle, die ich vor einer Viertelstunde noch für zu steil gehalten hatte. Der Typ kletterte auch aus dem Wasser, schmiss sein Sitzkissen aus seinem Rollstuhl, setzte sich triefnass hinein und holte mir meinen Rolli aus den Umkleiden.

Als wir beide dann in der hell erleuchteten Dusche waren, sah ich dann auch seine Beine. Die Muskeln waren so zurückgebildet, dass er damit unmöglich laufen konnte. Als er sich auszog, sah ich dann auch noch eine nette Narbe vom 12. bis zum 6. Brustwirbelkörber auf der Wirbelsäule … ja, ist ja gut. Stinkesocke hat zu oft schlecht geträumt. Der Typ war harmlos, wir haben zusammen geduscht, er hat darauf bestanden, mir den Rücken einzuseifen – es war einfach nett. Lustig, ungewöhnlich, nett. Leider war es der letzte Abend, an dem wir was gemeinsam machen konnten. Ich hätte es gerne wiederholt.

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