Der grüne Ball unter meinem Bett

„Na Jule, wie fühlt man sich so als Mutmacher?“, hörte ich heute noch vor dem ersten Guten-Morgen-Gruß. Auf mein Stirnrunzeln tippte mein Mitbewohner auf die Titelseite der heute erschienenen Ausgabe des Magazins „Menschen“ der Aktion Mensch für das 1. Quartal 2013.

Wer die Mutmacher sind, von denen im Heft die Rede ist?

– Pozzo di Borgo, eins der beiden Vorbilder für den Film „Ziemlich beste Freunde“
– Die Macher von „Leidmedien.de“, die sagen, was Journalisten beim Thema Behinderung beachten sollten
– Samuel Koch, der während der Sendung „Wetten, dass …?“ verunglückte
– Ulla Schmidt, die ehemalige Bundesministerin und neue Bundesvorsitzende der Lebenshilfe
– Jule Stinkesocke!

Nein? Doch!Ja, es kam überraschend, als ich vor einigen Wochen davon erfuhr und gebeten wurde, mich auf drei DIN-A4-Seiten des Magazins zu verewigen. Ich habe es gerne getan und mir die Geschichte von einem gespenstischen grünen Ball ausgedacht, der mich am Vorabend meines Unfalls zu Hause besucht. Ich gebe zu, es gehört schon eine gehörige Portion Übermut dazu, so etwas zu schreiben. Aber davon habe ich ja bekanntlich genug.

Online kann man die Geschichte übrigens auch lesen, und zwar auf der Webseite des Magazins „Menschen“ (als MP3 anhören) unter „Spezial“ – mehr verrate ich nicht.

Wie macht eine Rollstuhlfahrerin eigentlich einen Knicks? Egal. Ich bedanke mich jedenfalls für diese Auszeichnung und … ja, ich bin schon stolz. Als ich heute meiner Psychologin eine Mail mit dem Link geschickt habe, schrieb sie mir vom Handy einigermaßen sprachlos zurück: „Donnerwetter! Meinen Glückwunsch!“

Die Kugel unter dem Bett

Erzählerin:
Sie nennt sich Jule Stinkesocke und sie möchte anonym bleiben. In ihrem Internet-Tagebuch schreibt die Studentin über ihr Leben im Rollstuhl und dies so fesselnd, dass es im Rahmen der Block Awards der Deutschen Welle in diesem Jahr von 65.000 Lesern zum besten deutschsprachigen Block gewählt wurde.
Seit sie im Alter von 15 Jahren von einem Auto überfahren wurde, ist Juli Stinkesocke querschnittgelähmt. Fast ein Jahr lang lag, sie nach dem Unfall im Krankenhaus, dort begann sie ein Internet-Tagebuch zu schreiben, zunächst nur mit einer Hand am Touchscreen.
Von allen Angehörigen und früheren Freunden verlassen, fand sie nicht zuletzt durch das Interesse und den Zuspruch ihrer Leser zurück ins Leben.
Sie, die selbst viel Kraft durch den virtuellen Austausch mit anderen Menschen sammelt, macht durch ihr Blog zahlreichen Menschen Mut.
In einem fiktiven Dialog der kurz vor dem Unfall stattfindet, lässt die heute 20jährige hier die späteren Ereignisse Revue passieren.

Unheimlich ist es.
Dieses grünliche Schimmern unter meinem Bett.
Drei Mal habe ich jetzt schon nachgesehen, aber da ist wirklich nichts zu entdecken.
Und doch, jedes Mal, wenn ich meine Nachttischlampe wieder aus mache, schimmert da wieder etwas.
Es scheint als würde irgendetwas unter meinem Bett phosphoreszieren.
Ich halte den Atem an.
Unter meinem Bett tappst etwas.
Ein Tier?
Aber wie sollte das hierher reingekommen sein?
In den ersten Stock, ausgerechnet unter meinen Bett?
Im Augenwinkel sehe ich eine grüne Kugel, nicht größer als ein Fußball.
Mit kurzen Armen und kurzen Beinen hat eine Schirmmütze auf und lächelt mich an.
Ich kneife mir in den Oberschenkel.
Nein, ich bin wach.
Nicht rumschreien jetzt, okay, sagt der grüne Fußball mit gedämpfter Stimme.
Ich tue dir nichts.
Ich bin ein guter.
Sag mir wer du bist.
Völlig perplex antworte ich.
Ich bin Jule.
Ich bin 15 Jahre alt, fast 16.
Nach den Sommerferien gehe ich in die 11. Klasse.
Wo ich wohne weißt du ja schon, dass hier ist mein Zimmer.
Meine Eltern schlafen nebenan.
Soll ich sie holen?
Der grüne Fußball scheint sich für mich zu interessieren.
Nicht nötig.
Hast du Hobbies, einen Freund, Haustiere?
Reiten.
Ich bin fast jeden Tag im Stall.
Ich kümmere mich um Daisy.
Das ist das Pferd einer Frau, in Blankenese.
Ich darf Daisy auch reiten.
Sie ist ein wunderbares Tier.
Ich liebe sie über alles.
Haustiere habe ich aber keine.
Ich hätte zwar gerne einen Hund, aber meine Mutter, keine Chance.
Der Fußball lässt nicht locker.
Und einen Freund?
Einen Freund habe ich nicht.
Ich finde zwar einen Typen aus meiner Schule toll, aber er mich wohl nicht.
Das ist voll ungerecht.
Die meisten meiner Freundinnen haben schon einen Freund und schwärmen immer, wie schön das ist, wenn man verliebt ist und so.
Willst du wissen, wann du deinen ersten Freund hast?
Bist du Hellseher oder was?
Es gibt keine Hellseher.
Es gibt auch keine leuchtend grünen Fußbälle mit Schirmmütze.
Also von daher soll ich dir jetzt von deiner Zukunft erzählen oder nicht.
Ok, erzähl.
Also pass auf.
In vier bis fünf Jahren hast du mit drei Typen was versucht, aber der wirklich richtige war noch nicht dabei.
Die ersten beiden findest du zwar echt toll.
Mit dem einen landest du sogar im Bett, aber das hält immer nur ein paar Monate und endet mit einer Enttäuschung.
Und an den dritten kommst du nicht wirklich ran und irgendwann gibst du auf.
Na, das sind ja tolle Aussichten.
Dafür hast du aber viele enge Freundschaften.
Hab ich heute schon.
Nee, hast du nicht.
Von den angeblichen Freundinnen, die du heute hast, ist in einem Jahr keine einzige mehr da.
Und anhand deiner neuen Freundschaften wirst du über kurz oder lang erkennen, dass deine jetzige Leute alle nur oberflächliche Beziehungen mit dir führen. Du bist ein oberflächlicher Mensch, Jule, du hast eine farblose Persönlichkeit.
Und du hast eine leuchtend grüne Persönlichkeit?
Dieses schnippische Verhalten, wenn dich jemand kritisiert wirst du auch ablegen.
Du wirst in den nächsten Jahren sehr viel reflektierter.
Und du wirst sehr intensiv erfahren, dass es Menschen gibt, die dich so mögen, wie du bist, egal wie du bist.
Ich weiß, dass es diese Menschen gibt, meine Eltern, meine Großeltern, überhaupt meine Familie, die mögen mich so wie ich bin. Und mal ganz ehrlich jetzt, so schlimm und böse bin ich doch nicht.
Du bist ein liebes Mädchen, Jule, manchmal sogar zulieb, harmoniebedürftig, artig, gut erzogen.
Aber absolut unreif und unreflektiert.
Und auf deine Familie kannst du nicht zählen.
Wenn es wirklich drauf ankommt, kannst du deine Leute in der Pfeife rauchen.
Schlimmer noch!
Du wirst in den nächsten Jahren einsehen müssen, dass es besser ist, dich von deiner Familie zu trennen und den Halt anzunehmen, den dir deine Freunde bieten.
Willst du mir Angst machen?
Ich glaube dir nicht.
Bisher konnte ich immer mit meinen Eltern reden und einen Weg finden.
Ich habe nie etwas wirklich Schlimmes angestellt und wenn ich irgendeinen Kummer hatte, konnte ich damit immer zu ihnen kommen. Oder wenigstens zu meiner Oma.
Noch ist deine Mutter ja auch nicht psychisch krank, zumindest nicht so ausgeprägt, dass es sich im Alltag zu gravierend bemerkbar macht, dass sie in die Psychiatrie muss und einen Betreuer bekommt.
Und noch trinkt dein Vater ja auch nicht.
Er hat seinen Job, ihr habt dieses kleine, aber sehr gemütliche eigene Haus mit Garten, du besuchst deine Großeltern regelmäßig und erzählst ihnen vom Reiten und von der Schule.
Aber schon in einem Jahr wirst du hier nicht mehr wohnen, dein Vater wird wegziehen, in eine andere Stadt.
Ach, jetzt schlägt es aber dreizehn.
Ich habe meine Eltern lieb.
Du kommst hier rein und machst Stunk, was soll das, was willst du von mir?
Deine Eltern haben dich auch lieb, Jule. Aber sie werden schon bald mit dir völlig überfordert sein.
Und zwar so weit, dass sie keinen Draht mehr zu dir finden.
Es wird der Tag kommen, an dem dein Vater dich verprügelt, so sehr, dass deine Freunde die Polizei und die Notarzt rufen. Und täusche dich bitte auch nicht zu sehr über deinen Vater, denn der hat noch eine zweite Familie und weitere Kinder mit einer anderen Frau. Das verheimlicht er dir und deiner Mutter.
Der grünleuchtende Ball seufzt, ich frage erstaunt: Du wirst mir sagen, ich hätte noch Geschwister?
Ja, sehr liebe sogar. Die wirst du auch kennenlernen, sie werden dich sehr mögen und du sie auch.
Und es gibt noch viel mehr positive Dinge.
Du wirst schon mit 17 an den Führerschein haben.
Begleitetes Fahren mit 17, was ist daran so besonders? frage ich.
Der grüne Ball antwortet, nein, kein begleitetes Fahren.
Du bekommst eine vollwertige Fahrerlaubnis. Du gehörst zu den ganz wenigen Menschen, die bereits mit 17 alleine Autofahren dürfen. Und du darfst auch überall parken, im eingeschränkten Halteverbot und so.
Und außerdem bekommst du eine kostenlose Jahreskarte für den kompletten Hamburger Verkehrsverbund.
Für alle Busse, alle S und U-Bahnen, und sogar für die Hafenfähren.
Ach, was rede ich, nicht nur für den Hamburger Verkehrsverbund, sogar deutschlandweit darfst du in allen Nahverkehrszügen, Bussen und Bahnen kostenlos fahren.
Und eine Freundin darfst du auch noch kostenlos mitnehmen.
Jaja, spinn weiter.
Ok, du hast gut Kohle auf deinem Konto.
Und du bist berühmt, ein wenig zumindest.
Lasst mich raten, ich komm ins Finale von Deutschland sucht den Superstar und kriege mit 18 meinen ersten Plattenvertrag.
Nee, völlig anders.
Du schreibst ein Internetblog und erreichst ohne jeden Suchmaschineneintrag, ohne jedes Listing, ohne Werbung und ohne Unterstützung, mehrere Tausend Leser. Pro Tag.
Du wirst von hunderten Stammlesern abonniert und dein Werk wird 2012 zum besten deutschsprachigen Block gewählt.
Sagt der grünleuchtende Ball und wird vor lauter Stoll sogar ein wenig größer.
Toll.
Und worüber schreibe ich, möchte ich wissen.
Du schreibst ein Tagebuch über dein Leben.
Du schreibst über Themen, die dich bewegen, über den Umgang von Menschen miteinander, über deine Beziehungen zu anderen Menschen, über deine Schule, später über dein Studium, deinen Sport, einfach über alles, über alltägliches und besonderes.
Zum Beispiel, wie du einer jungen Frau das Schwimmen beibringst, oder dass du dir auf dem Heimweg in die Hosen gemacht hast.
Bäh, das mache ich nicht und wenn dann schreibe ich darüber ganz sicher nichts im Internet.
Das ist doch endpeinlich.
Und wieso sollte es überhaupt jemanden interessieren, ob eine junge Frau Schwimmen lernt.
Der Ball antwortet.
Das interessiert sehr sogar, weil die meisten Deiner Leser, das der jungen Frau nicht zugetraut hätten, sogar die Eltern der jungen Frau nicht, die stehen am Beckenrand, der Vater weint vor Rührung.
Das begreife ich jetzt nicht.
Apropos Vater.
Was ist denn Deiner Meinung nach der Grund, warum meine Eltern den Draht zu mir verlieren?
Werden meine angeblich falschen Freunde mich ins Verderben stürzen?
Alkohol, Drogen, Kriminalität, Prostitution oder etwa extreme politische Ansichten?
Flaschenwerfen beim Schanzenfest, Brandsätze auf die Polizei?
Oder werde ich wiederholt beim Sprayen erwischt und treibe mich und meine Eltern in den finanziellen Ruinen?
Nein, nichts dergleichen. Du selbst wirst keine Schuld tragen und hast auch nur sehr wenig Einfluss darauf, was mit dir passiert.
Das wird sogar mal ein Gericht feststellen. Müssen.
Aber genauer kann ich dir das nicht sagen, denn ich darf als leuchtende Kugel nur die Zukunft vorhersagen, sie jedoch nicht beeinflussen.
Damit ist der Moment gekommen in dem mir der Geduldsfaden reißt.
Ich schnauze ihn an.
Gar nichts weißt du.
Du bist ein Wichtigtuer, kommst unaufgefordert hier rein und versuchst mich zu erschrecken, aber mir reicht es jetzt.
Ich klettere aus meinem Bett und versetze dem Ball einen solchen Tritt, das er mitsamt seiner Schirmmütze aus dem bei der Sommerhitze weit geöffneten Zimmerfenster fliegt.
Noch im Fliegen ruft er: Und sei immer schön vorsichtig, wenn du über die Ampel gehst, hörst du?

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