Budgetkonferenz Für Maria

Die Woche begann mit einem Gespräch über das persönliche Budget vo Maria, aus dem sie ihre Pflege und Assistenz finanziert. Das zuständig Sozialamt (oder besser die dortige Sachbearbeiterin) hatte alle Beteiligten, also die Krankenkasse, die Pflegekasse, einen Amtsarzt, eine Sozialarbeiterin, einen Vertreter unseres Wohnprojekts und Maria z einem runden Tisch eingeladen, um über „die Notwendigkeit der Weitergewährung von Leistungen nach Ablauf des Bewilligungszeitraums“ z sprechen.

Dass Frank dort mit auftaucht, war klar. Maria hatte außerdem mich gebeten, sie als Vertrauensperson zu begleiten. Die bisherigen Termine waren mir noch in schrecklicher Erinnerung. Frank war vor dem Termin schon auf 180, weil die Sozialarbeiterin vorher ein amtsärztliches Gutachten in Auftrag gegeben hatte, das allerdings nach Aktenlage erstellt wurde und Maria nicht lesen durfte. Auf mehrfache Nachfrage bekam Maria die Antwort, dass das Gutachten erst am Gesprächstermin eröffnet werde. Frank fand das unmöglich, er meinte, man muss ihr als Betroffene die Möglichkeit geben, sich auf das Gespräch vorzubereiten.

Die Leute von der Kranken- und Pflegekasse kannten wir schon von einem der letzten Male, die Sozialarbeiterin war auch dieselbe, allerdings war der Amtsarzt ein anderer. Ein Mann, geschätzte vierzig Jahre alt, nicht sehr groß, aber sehr kräftig gebaut, auf dem Kopf kaum Haare, sehr sonnengebräunt. Was mir erst später auffiel: Er hatte unter seinem Sweatshirt kein Oberhemd, dafür aber eine Krawatte. Und die war auch nur mit einem einfachen Knoten zusammengebunden. Es sah aus, als gäbe es eine Dienstvorschrift, nach der er bei Publikumsverkehr eine Krawatte umzubinden hat – und die hatte er damit erfüllt.

So standen wir mit acht Leuten in einem Treppenhausflur und warteten auf die Mitarbeiterin mit dem Schlüssel. Irgendwann kam eine Frau, geschätzte dreißig Jahre alt, mit einer Akte unter dem Arm, begrüßte uns. Sie habe Anfang des Jahres die Sachbearbeitung übernommen und freu sich, dass alle erschienen seien. Sie schloss den Raum auf, guckte vorsichtig um die Ecke. „Der ist frei, aber ich fürchte, wir müssen da erstmal aufräumen. Vier Leute mit Rollstuhl sprengt die Pläne des Architekten, der dieses Haus gebaut hat. Ich schlage vor, wir nehmen einen Tisch weg und räumen ein paar Stühle in die Ecke.“

Der Mitarbeiter von der Krankenkasse zog sein Jacket aus, stopfte mi den Worten „nicht, dass ich mich hier noch stranguliere“ seine Krawatt in den Kragen seines Hemdes und krabbelte unter den Tisch, um irgendwelche Verstrebungen zu lösen. Dann trugen der Arzt und der Krankenkassenmitarbeiter zwei Teile des Konferenztisches an die Seite und stapelten sie in der Ecke. So war genug Platz für alle, vor allem für Marias E-Rolli, der natürlich nicht so wendig ist wie ein handbetriebener Aktivrolli. Die neue Sachbearbeiterin stellte sich noch einmal für alle vor und meinte, es sollte jeder noch einmal kurz sagen, wer er ist und in welcher Funktion er heute hier ist.

Als das beendet war, ging die erste Frage der Sachbearbeiterin an Maria: „Wie geht es Ihnen?“ – Maria antwortete kurz und knapp: „Vielen Dank, sehr gut.“ – Woraufhin die Frau von der Pflegekasse sagte: „Das muss ich gleich kommentieren: Mit Verlaub, das sieht man Ihnen an. Sie sehen sehr vital aus.“

Die Sachbearbeiterin vom Sozialamt sagte: „Ich kenne Sie ja nicht vo früher, aber insgesamt scheint es mir doch so, als wenn Sie das alles gut im Griff haben und sich in der Wohngruppe wohl fühlen. Ist das so?“ „Ja, auf jeden Fall. Kein Vergleich zu dem Pflegeheim, in dem ich vorher war. Ich komme mir vor wie ein völlig anderer Mensch.“

„Schildern Sie mal ein wenig, wie Ihr Tag aussieht und wie Sie das mit der Hilfe koordinieren, bitte.“ – Maria schilderte.

„Sie haben ein Gutachten eingeholt, das mir seit heute vorliegt“, sagte sie zur Sozialarbeiterin. „Es wäre schön, wenn wir das nächstes Mal etwas eher bekommen könnten.“

Frank holte Luft, aber Maria war an dieser Stelle schneller. Auch wenn sie eher leise, langsam und verwaschen spricht, ging sie nicht unter: „Genau. Das fände ich auch schön. Ich möchte mich auch vorbereiten und mag sowas nicht als Überraschungs-Ei.“ – Während die bisherige Sachbearbeiterin eher ihrer Sozialarbeiterin beigestanden hätte, wurde hier schnell deutlich, wer den Hut trug: „Nächstes Mal als bitte etwas eher. Die Betroffene hat das Recht, ihr Gutachten vorher z lesen, dem werden wir hier bitte auch gerecht“, sagte sie und guckte der Sozialarbeiterin mit strengem Blick in die Augen. Die träumte eher gleichgültig vor sich hin.

Der Arzt guckte sich das Gutachten an. „Im Grunde steht da aber auc nur das drin, was wir hier auch schon gesehen haben. Ihnen geht es gut Sie kommen zurecht. Sie haben mit den Mitteln gut gewirtschaftet, Sie sind mit Hilfsmitteln und Therapie optimal versorgt, wobei ‚optimal‘ natürlich relativ auf ihre Behinderung zu sehen ist, aber ich wüsste nicht, was man besser machen könnte, oder fällt Ihnen noch etwas ein?“

Maria schüttelte den Kopf. Ihre langen lockigen Haare verdeckten ihr vor Aufregung knallroten Wangen. Dann sagte der Arzt: „Dann müssen wir das hier nicht künstlich aufblähen. Ich unterschreibe, dass das aus medizinischer Sicht so weiter gehen soll wie bisher, und dann würde ich gerne zu meinem nächsten Termin aufbrechen, wenn es keine Einwände gibt.“

Die Sachbearbeiterin vom Sozialamt fragte in die Runde: „Wir würden die Leistung wie bisher weitergewähren, wenn die Pflege- und die Krankenkasse keine neuen Ideen haben.“ – „Haben wir nicht“, sagte der Krankenkassenmitarbeiter, der inzwischen seine Krawatte wieder auf dem Hemdkragen geholt hatte. Die Mitarbeiterin der Pflegekasse schüttelte den Kopf.

„Dann machen wir Nägel mit Köpfen, kurz und schmerzlos. Sie bekommen von uns einen Bescheid, ich schlage vor, den Zeitraum auf zwei Jahre anzusetzen, irgendwelche Einwände?“ – Allgemeines Kopfschütteln. „Sie müssen einmal im Vierteljahr wie gehabt die Belege einsenden, Sie müsse uns mitteilen, wenn sich was ändert, aber das steht alles nochmal im Bescheid. Und dann drücke ich Ihnen die Daumen, dass das alles weiter s gut klappt, bedanke mich und wünsche Ihnen einen guten Heimweg.“

Halten wir fest: Es steht und fällt mit den Leuten, die den Fall bearbeiten. Sollte nicht so sein, ist aber so. Diese Sozialamts-Mitarbeiterin war wirklich auf Zack. Auf dem Handrücken trug sie den nicht völlig abgewaschenen Stempelabdruck einer St.-Pauli-Diskothek, in der sie vermutlich am Samstagabend war. Vielleicht hätten wir die bisherige Mitarbeiterin vorher auch mal dorthin schicken sollen…

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