Bismarck Und Der Kinderrollstuhl

Wenn man mit einer Tüte gebrannter Tonsillen in der Hand Norddeutschlands größtes Volksfest, den Hamburger Dom, verlässt und die Helgoländer Allee in Richtung Landungsbrücken hinunter rollt, lädt der Alte Elbpark je nach Tageszeit mal mehr, mal weniger zu einem Besuch ein. Aber egal, ob man dorthin abbiegt oder nicht, selbst von der Helgoländer Allee sieht man das abends hell beleuchtete, knapp 35 Meter hohe Denkmal zu Ehren des Reichskanzlers Bismarck. Ob man das Ding als Denkmal oder als Mahnmal dort stehen lässt oder derzeit wartet, bis es wegen Baufälligkeit umkippt, möchte ich nicht diskutieren, Fakt ist, dass es dieser Typ war, der in Deutschland vor ziemlich genau 130 Jahre die gesetzliche Sozialversicherung eingeführt hat, wie uns unser Dozent auf einer Exkursion durch tonnenweise Hundekacke und Glasscherben erklärte. Angeblich mehr aus einer Not und aus seinem Streben nach Mach heraus als aus sozialer Fürsorge – aber letztlich ist sie da, wie noch heute fast jeder an seiner neuerdings mit Bildchen versehenen Plastikkarte in seinem Portmonee überprüfen kann.

Wir leben heute in einem Sozialstaat. Und das ist mit Sicherheit gut so. Manchmal ist dieser Sozialstaat aber auch zum Verzweifeln. Dann nämlich, wenn es jemandem so ergeht wie einer neuen Sportkameradin, die mit 14 Jahren mit dem Fahrrad gestürzt ist, als ein Autofahrer sie beim Abbiegen übersehen und umgebügelt hat. Der Autofahrer ist abgehauen, konnte auch nicht ermittelt werden. Der Vater der Sportkameradin ist privat krankenversichert, da er selbständig ist. Dadurch entgeht dem Kind, das natürlich nie gefragt wurde, wie es sich versichern möchte, sogar der Rollstuhl. Ja, richtig gelesen: Rollstühle sind in dem vom Vater gewählten Tarif nur minimal abgesichert, das heißt, von dem günstigsten auf dem Markt erhältlichen Aktivrollstuhl, der mit rund 3.000 € zu Buche schlägt, übernimmt deren private Krankenkasse gerade mal 20%. Und eigentlich bräuchte sie wegen ihrer sehr hohen Lähmung ein sehr leichtes Modell, für das die gesetzliche Krankenkasse in einer Einzelfallentscheidung locker 5.000 bis 6.000 € auf den Tisch legen würde. Sie muss also ihren Vater bitten, ihr einen Rollstuhl zu kaufen. Und was sagt der? Das Geld haben wir nicht.

Im Moment fährt sie mit Sofies altem Rollstuhl, der ihr aber nur mit ganz viel Fantasie passt.

Nur damit wir uns richtig verstehen: Mir ist sehr wohl bewusst, dass diese Familie nie in die gesetzliche Krankenversicherung eingezahlt hat Folglich ist es auch richtig, dass sie keine Leistungen daraus bekommt Wo ich aber sehr viel Nachbesserungsbedarf sehe, ist die Tatsache, das es Kinder und Jugendliche in diesem Sozialstaat gibt, deren Grundbedürfnisse (und wir reden hier von einem Rollstuhl, der diesem Mädchen ermöglicht, das Bett zu verlassen) nicht befriedigt werden können, weil ein Vater den „falschen“ Tarif gewählt hat.

Es gibt ja viele Diskussionen, ob die JAE-Grenze (die bewirkt, dass für monatlich maximal 4.350 € der Beitrag zu zahlen ist, egal wieviel jemand verdient) in dieser Form und dieser Höhe sinnvoll ist, ob privat Krankenversicherungen überhaupt sinnvoll sind, ob nicht alle Menschen grundsätzlich eine gesetzliche Grundversicherung haben sollten – das ist kaum zu überblicken und dazu habe ich wegen der Komplexität auch keine in wenigen Worten darstellbare Meinung. Aber zu einem habe ich sie: Ich bin der Meinung, Kinder und Jugendliche sollten bis zu ihrem 18. (oder bis zum Ende der ersten Ausbildung und damit der elterlichen Unterhaltspflicht) in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert sein, sofern sie noch nicht über die Eltern dort familienversichert sind. Mit dem Mindestbeitrag von 70 € monatlich, den die Eltern oder notfalls die Sozialhilfe zu zahlen hat.

Alternativ könnte ich mir vorstellen, dass der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung für Kinder in privaten Krankenversicherungen verpflichtend ist. Wie dann die Beiträge angepass werden müssen, würde sich zeigen. Was aber nicht sein kann, ist dass Kindern und Jugendlichen der Rollstuhl fehlt, weil das nicht versichert ist und der Vater kein Geld hat.

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