Wenn ich als Rollstuhlfahrerin mit einem ICE fahren möchte, sollte ich das mindestens 48 Stunden vorher bei der Mobilitätshotline der Bahn anmelden. Der übliche Dialog zwischen der Dame auf der anderen Seite de Telefonleitung und mir: „… habe ich soweit aufgenommen. Wann werden Si vor Ort sein?“ – „Ich schlage vor, ich stehe bei Ankunft des Zuges auf dem Bahnsteig auf Höhe der Eingangstür zum Wagen 9.“ – „Oh nein, das is viel zu spät. Treffen ist mindestens 20 Minuten vorher und dann am besten am Service-Point in der Wandelhalle.“ – „Meinen Sie, ich finde alleine nicht das richtige Gleis?“ – „Ich muss das hier so eintragen, sonst wird die Anfrage abgelehnt. Und das wollen wir ja vermeiden, nicht? Also 20 Minuten vor Abfahrt des Zuges am Service-Point.“
Also stehen Marie und ich 20 Minuten vor Abfahrt des Zuges am Service-Point. Wer nicht da ist, ist der Bahn-Mitarbeiter. Nachdem wir 10 Minuten gewartet haben und uns gerade auf den Weg zum Bahnsteig machen wollen, taucht er plötzlich auf. „Sind Sie Frau … und Frau …? Brauchen Sie Hilfe, soll ich Sie schieben?“ – „Nein, danke.“ – „Dann treffen wir uns in 10 Minuten auf Höhe des Wagens 9?“ – „Wäre für uns okay.“ – „Dann bis gleich. Ich nehme mal meine Mütze ab, sonst sprechen mich auf dem Weg dorthin noch so viele Leute unterwegs an und das wäre doch blöd, wenn ich zu spät komme. Ich nehme die Treppe und Sie fahren Aufzug, ja?“ – „Sie können auch mit uns im Aufzug fahren.“ – „Nein, danke, ich kann ja laufen. Aber ich muss meine Mütze abnehmen, sonst komme ich vor lauter Auskünften nicht mehr rechtzeitig zum Zug.“
Seine Sorgen möchte ich nicht haben. Im Zug angekommen trafen wir au den Chef des Zugteams. Ein auffallend groß gewachsener Mann schätzungsweise Mitte 40, blond, erinnerte mich ein wenig an Hape Kerkeling, nicht nur vom Aussehen. Auf unseren (reservierten) Plätzen saßen zwei Frauen, geschätzt 65 Jahre alt, und unterhielten sich angeregt. Ungezogenerweise unterbrach ich die Unterhaltung: „Entschuldigung, ich glaube, wir haben eine Reservierung für die Plätze auf denen Sie sitzen.“ – Die Frauen redeten einfach weiter und strafte mich im Reden nur mit einem Blick, der so viel bedeuten sollte wie: „Was willst du halbe Portion denn?“
Drei Sätze später grätschte ich erneut rein: „Hallo? Könnten wir das mal bitte klären?“ – Diesmal bekam ich eine Antwort. Eine patzige: „Da gibt es nichts zu klären. Wir sitzen hier, Sie können sich jawohl einen anderen Platz suchen.“ – „Entschuldigung, Sie sitzen auf den Rollstuhlplätzen. Und das sind die einzigen in diesem Zug. Würden Sie sich bitte woanders hinsetzen? Wir haben hier reserviert.“ – Keine Antwort, sie setzten einfach ihre Unterhaltung fort. Marie und ich guckten uns blöd an. Schräg dahinter stand ein junger Mann, die Arme verschränkt, das Schauspiel aus sicherer Entfernung betrachtend. Hilfloser Gesichtsausdruck. Marie rollte zu Hape und bat ihn um Hilfe.
Hape machte kurzen Prozess: „Einen schönen guten Morgen, die Damen. Ihre Fahrkarten und Ihre Platzreservierungen hätte ich gerne mal gesehen, bitte. Oh, wenn Sie mir da bitte folgen wollen, Sie haben ein Ticket zweiter Klasse und Sie haben sich gerade ein bißchen in die erst Klasse verirrt. Sind das Ihre Gepäckstücke hier? Soll ich Ihnen kurz tragen helfen?“
Und tschüss. Der Zug fuhr los, kurz danach seine Stimme aus dem Lautsprecher: „Meine Damen und Herren, ich wünsche Ihnen einen guten Morgen. Wundern Sie sich bitte nicht, wir halten in Harbung noch einmal kurz an. Irgendwie hat die Lok nicht genug Wumms im Bauch. Früher hätte man einfach ein paar Kohlen nachgelegt, heute müssen wir anhalten und die Elektronik neustarten.“
Gelächter im ganzen Wagen. Leider brachte der außerplanmäßige Zwischenhalt nicht den gewünschten Erfolg. Wir waren gerade wieder losgefahren, als erneut eine Durchsage kam: „Verehrte Fahrgäste, der Reset unserer Antriebseinheit hat mehr Fragen aufgeworfen als Antworten zur Verfügung standen. Bevor das noch schlimmer wird, haben wir uns entschieden, mit verminderter Leistung weiterzufahren. Für Ihre Anschlusszüge lege ich bei den Kolleginnen und Kollegen jede Menge gute Worte ein, aber keine Hand ins Feuer. Garantieren kann ich nur, dass Sie heute trotz Überlänge keinen Aufpreis zahlen müssen, wir sind ja hier schließlich nicht im Kino. Bitte kommen Sie jetzt bloß nicht alle einzeln zu mir gelaufen, ich sage Ihnen rechtzeitig vor jedem Halt Bescheid, welche Züge wo auf Sie warten. Ich wünsche Ihnen trotz allem eine angenehme Reise.“
Und das war nicht der letzte Spruch. Kurz vor Göttingen: „Liebe Muttis und liebe Papis, ich brauche einen kleinen Moment Ihrer Aufmerksamkeit. Auf meinem Schoß sitzt ein kleiner Junge, der zwar seinen Namen nicht weiß, dafür hat er aber jede Menge andere tolle Sachen zu erzählen. Sag mal ‚Hallo‘ ins Telefon.“ – Eine Kinderstimme krähte: „Hallo Mama! Wo bist du?“ – Wieder gröhlte der ganze Wagen. Und dann: „Liebe Mama, auch wenn Sie Ihr Kind noch nicht vermissen, falls Sie diese Stimme kennen, holen Sie den kleinen Ausreißer bitte in Wagen 9 bei mir ab! So, sag mal ‚Tschüss‘ bevor wir auflegen! Nee? Na gut. Der kleine Spielzeug-ICE ist gerade spannender.“
Und rund zwei Stunden später noch einen: „Verehrte Fahrgäste, die Abfahrt des Zuges verzögert sich noch auf unbestimmte Zeit. Bedanken Sie sich bei dem Herrn, der die letzte Tür blockiert und halb Kassel schnell noch in den Zug lässt.“
Das war doch mal ein lustiger Mitarbeiter. Vermutlich findet das Unternehmen das nicht lustig, schließlich hat er auch keine einzige Ansage auf Englisch wiederholt, aber Marie und mir hat es Spaß gemacht. Und die Zugfahrt zum Triathlon war sehr viel angenehmer als die Fahrt mit dem Auto. Tatjana stand nämlich unter anderem mit unseren Sportgeräten stundenlang im Stau. Ohne Klimaanlage… Was wären wir ohne sie?