Anna

Ich muss darf gerade eine Schwimmgruppe für Kinder anleiten. Kinder mit körperlichen Einschränkungen, wohlgemerkt. Sie machen normalerweise bei einem Sportkollegen das Training, aber der war den gesamten Januar nicht einsatzbereit und hatte mich gebeten, ihn zu vertreten. Nein, ich habe das Rettungsschwimmabzeichen in Silber nicht, daher dürfte ich auch nicht alleine mit den Leuten in der Halle sein, aber an den Nachbarbahnen sind entsprechend qualifizierte Trainer, so dass das vorher auf der Verwaltungsebene geklärt wurde und ich meine volle Motivationskraft über die Kinder schütten durfte…

Schade, dass ich so wenig Zeit habe. So eine Aufgabe könnte ich mir schon regelmäßig vorstellen. Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist etwas ganz tolles. Finde ich. Ich weiß, es gibt Menschen, die mögen keine Kinder. Ich kenne sogar Menschen, bei denen das so ist. Das kann ich zwar akzeptieren, aber nicht verstehen.

Ich habe schon mehrmals ausgeholfen, aber richtig selbst ganz alleine eine Trainingseinheit für eine Gruppe gegeben, das hatte ich nicht. Und wenn ich jetzt erzähle, welchen Schiss ich davor hatte und wie gut es nach den ersten 10 Minuten lief, würde ich mich zu sehr selbst loben. Das liegt mir nicht. Aber den Kindern und Jugendlichen muss es gefallen haben, denn dass ich auch in dieser Woche noch einmal die Einheit gebe, war ihnen erst bekannt, als ich in der Tür auftauchte. Und die Reaktion war eindeutig: Ich kam vor lauter Rollstühlen, die plötzlich um mich herum wuselten, nicht mal mehr in den Raum. Guck mal hier, guck mal da, alle wollten mich begrüßen, eine hatte neue blinkende Vorderräder, eine andere eine neue Schwimmbrille, die nächste darf nun doch mit auf ein Trainingscamp und freut sich schon riesig, weil ich auch dabei bin – das Gekrähe um mich herum war so aufgeregt, dass eine etwa 18jährige Schwimmerin, Fußgängerin aus einem anderen Verein, mich lachend mit den Worten begrüßte: „Wenn ich groß bin, werde ich auch Trainerin.“

Und dann war da noch … ich nenne sie mal … Anna. Anna ist 14, angeborener Querschnitt, wirkt auf den ersten Blick wie ein Porzellanpüppchen. Nachdem ich die Horde zum Umziehen schickte, blieb Anna zurück. Anna sei, so sagte mir die begleitende Mutter, früher gerne geschwommen. Wasser sei ihr Element gewesen als Kind. Nach mehreren „unangenehmen Zwischenfällen“ beim Schulschwimmen ist sie nicht mehr ins Becken zu bekommen. Das gehe jetzt schon seit mehreren Jahren so, es gab wohl vor einigen Monaten eine Aktion, bei der sich der Vater an einem Sonntagmorgen zwei Stunden lang mit ihr an den Beckenrand gesetzt und auf sie eingeredet habe. Aber auch das konnte ihr nicht helfen. Das einzige, wozu es geführt hätte, wären jede Menge Tränen und noch mehr Distanz. Und nun? Die Mutter, so sagte sie, habe die Hoffnung, dass Anna „sich das nochmal überlegt“, wenn andere Leute dabei sind. Der Tipp mit dem Schwimmen im Behindertensportverein kam vom Kinder- und Jugendmediziner. Nach ellenlangen Diskussionen zu Hause habe sie eingewilligt: „Ich kann es mir ja mal angucken.“

„Wie jetzt angucken?“, fragte ich provozierend. „Kannst du schwimmen? Dann schwimm doch gleich mit!“ – Die Mutter verzerrte das Gesicht, als erwarte sie einen Heulkrampf der Tochter, und wollte mir mit einem schüchternen Kopfschütteln signalisieren, dass das wohl der falsche Weg sei. Und ab da war eigentlich alles klar. So sehr ich fürsorgliche Mütter schätze und großen Respekt vor ihrer Leistung habe, die sie über Jahre mit ihren Kindern vollbringen, so sehr zeigt es immer wieder, wann die Fürsorge die Selbständigkeit einschränkt. Anna hatte das Kopfschütteln nicht gesehen, weil sie schüchtern auf ihre Knie schaute und antwortete: „Ich hab keine Badesachen dabei.“ – Ich konterte fies, lächelnd: „Extra nicht mitgenommen, damit nichts Unvorhergesehenes passiert, oder wie?“ – Anna guckte zu mir hoch. Das war der Moment, auf den ich gewartet habe. Sie schaute mir in die Augen. Und ich antwortete:„Kriegst einen Badeanzug von mir. Ich hab zwei mit. Und zwei Handtücher hab ich auch. Was sagste jetzt?“, grinste ich sie an.

Nichts sagte sie. Sie guckte nur. Mit großen Augen. Ich strich ihr über die Schulter und sagte mit ruhiger Stimme: „Du kannst auch einfach zugucken. Ich will dich nicht bedrängen.“

Und nun meldete sich die Mutter zurück: „Das mit dem Ausleihen wäre auch nicht so gut. Meine Tochter (!) hat keine Kontrolle über ihre Blase.“ – Immer wieder. Immer wieder kommt dieses Thema von den Eltern quasi beim Kennenlernen. Es ist wie eine Seuche. Ich hätte meinen Eltern die Hölle heiß gemacht. Vielleicht. Vielleicht hätte ich mich auch nicht getraut. So wie Anna. Anna guckte wieder auf ihre Knie.

Volles Risiko: Entweder habe ich jetzt gleich die Mutter extrem gegen mich und sie haut mit Anna ab, dann hätte ich versagt. Oder Anna bekommt Vertrauen in mich, dann hätte ich bei derjenigen das erreicht, was diejenige, die jetzt einen vor den Bug bekommt, von mir wollte. Nur wird sie es erst später merken, und genau das ist das Risiko. Ich sagte zu Anna: „Ich schlage vor: Für die Bemerkung schicken wir deine Muddi jetzt mal zwei Stunden an die frische Luft und wir beide rollen inzwischen in die Halle. Du setzt dich auf die Wärmebank und ich muss mit ins Wasser, da sind ja noch einige jüngere dabei und auch welche, die noch nicht so gut schwimmen. Nach der Stunde überlegst du dir, ob du nächste Woche wiederkommen willst. Was hältst du davon?“

Anna guckte ihre Mutter an. Ich guckte bewusst nur zu Anna. Und legte nach: „Komm, zugucken kannst du auch ohne Muddi. Dich beißt da keiner und den anderen erzählen wir einfach, du willst nur mal unverbindlich schauen, ob das was für dich sein könnte. Okay? Auf, das ist deine Chance.“

Anna sagte nichts. Die Mutter sagte auch nichts. Ich sagte: „Okay. Machen wir so. Wir sehen uns in zwei Stunden wieder, hast du ein Handy, dass du Muddi im Notfall anrufen kannst, wenn sie dich früher abholen soll?“ – Anna nickte. Ich sagte: „Auf geht’s. Achso, falls sie es sich jetzt doch noch überlegen sollte und spontan nach einer Stunde ins Wasser möchte, hätten Sie als Erziehungsberechtigte aber nichts dagegen, oder? Nur rein prophylaktisch, nicht dass es, wenn, daran scheitert, dass ich kein Einverständnis habe.“

Anna antwortete: „Ich will nicht ins Wasser.“ – „Das hab ich verstanden, du musst auch nicht ins Wasser, niemand zwingt dich hier zu irgendwas, aber ich will mich absichern für den Fall der Fälle, sonst bekomme ich den Ärger und das wollen wir ja nicht.“ – „Wenn, wäre es okay, aber wir gucken ja heute nur“, meinte die Mutter.

An der Kasse: „Sie kommt mit auf unsere Liste, sie guckt aber heute nur zu.“ – Okay. Ich rollte mit ihr in einen freien Gruppenumkleideraum und fing an, mich umzuziehen. Ich machte meine Tasche auf, holte den zweiten Badeanzug raus und warf ihr den zu. Sie warf ihn zurück: „Vergiss es, ich schwimm nicht mit!“

Ich antwortete: „Brauchst du ja auch nicht, nur willst du mit Mütze und Jacke da rein? Da sind über 30 Grad in der Halle. Nach 10 Minuten bist du gar!“ – Anna lachte und fing an, ihre Jacke auszuziehen. Ich warf ihr den Badeanzug nochmal zu. Sie feuerte ihn lachend zurück. „Jetzt hör mal auf, dich über mich lustig zu machen!“ – „Lustig machen? Wer von uns beiden lacht denn hier?“

Der nächste Schritt. Ich musste mich beeilen, damit die Kinder und Jugendlichen, die auf mich warten mussten, eben nicht zu lange warteten. Ich sagte: „Ich habe übrigens auch einen Querschnitt. Nur mal so am Rande. Mit allem, was dazu gehört. Einschließlich Blasenlähmung. Bei deiner Mutter klang es vorhin so, als sei das ein Problem. Für mich ist das keins. Darf ich fragen, ob deine Angst vor dem Schwimmen damit zu tun hat?“

Sie antwortete knapp: „Ja.“ – „Ja, ich darf fragen oder ja, es hat damit zu tun?“ – „Beides.“ – „Haste mehr als acht Mal ins Becken gekackt oder was?“ – „Quatsch, igitt.“ – „Gepinkelt? Das sieht doch keiner.“ – „Auf einem Handtuch aber schon.“ – „Naja, aber danach steht man doch nicht auf, noch dazu wenn blöde Leute in der Nähe sind.“ – „Ich habs ja nicht mal gemerkt und es war auch nur ein bißchen. Ich war ja zehn Minuten davor auf dem Klo. Aber ich war noch trocken und bin ins Wasser, und dann ging das Getuschel los, warum in der Mitte von dem Handtuch auf meinem Rolli ein Fleck ist. Und dann haben mich Mitschüler im Wasser untergetaucht, weil sie mich waschen wollten. Und das so lange, bis ich nachher schon Wasser eingeatmet hatte und wirklich Panik hatte, dass ich ertrinke. Ich wollte danach nicht mehr zur Schule und habe ihretwegen sogar später die Schule gewechselt.“

Tränen kullerten über ihr Gesicht. Ich rollte zu ihr, nahm sie in den Arm. Sie umklammerte mich fest. Ich zog sie seitlich zu mir auf den Schoß, streichelte ihr über die Haare. „Das sind solche Wichser. Was anderes kann man dazu nicht sagen. Für mich ist es aber jetzt nur so: Willst du ein Leben lang deswegen nicht mehr ins Wasser? Diese Wichser sind hier nicht. Heute nicht und sowieso sonst auch nicht. Hier sind nur Leute, die selbst einen Querschnitt haben. Oder CP oder sonstwas. Ich wette mit dir, dass du hier auch dumme Sprüche kriegen würdest, aber keinen einzigen, der böswillig gemeint ist. Weil alle wissen, warum das so ist, selbst wenn sie nicht selbst betroffen sind. Viele davon sind noch viel jünger als du. Du musst hier wirklich keine Angst haben.“

Ich angelte mit dem langen Arm den schon mehrmals hin und her geworfenen Badeanzug. Hielt ihn an zwei Fingern hoch und zwischen mein und ihr Gesicht. In dem Moment, als sie ihn mit ihren vertränten Augen sah, sagte ich: „Hm? Gib dir einen Ruck. Zieh ihn an, komm mit rein, setz dich an den Beckenrand, plansch da ein bißchen rum und sag einfach, du warst lange Zeit draußen und musst dich erst wieder dran gewöhnen. Von mir aus auch noch was mit dem Kreislauf, du willst erstmal abwarten. Ich sage einfach, sie sollen dich in Ruhe lassen. Mach es für dich. Ich bekomme nichts dafür, von mir aus kannst du dich auch eine Stunde im Klo einsperren – du bist hier, weil du für dich was regeln willst. Und jetzt ist die Chance. Keiner kennt dich, Muddi ist weg … überleg es dir.“

Ich kürze ab. Während meine fünfzehn Racker das Wasser durchpflügten, saß Anna auf dem Beckenrand, bis zu den Knien im Wasser, und zählte für die einzelnen Schwimmer die Bahnen. Und wurde ein ums andere Mal geduscht, als die eine oder andere Wende nicht so geschmeidig ablief wie sie es eigentlich sollte. Und nach einer Stunde war es soweit. Ich hielt bei ihr an und fragte, ob sie einmal ganz rein will. Sie könne sich an mir festhalten, ich würde sie nicht untertauchen. „Du gehst nicht mit dem Kopf unter Wasser, das verspreche ich dir“, sagte ich. Ihre Reaktion: „Was sollen die anderen von mir denken? Ich boxe jetzt meinen Schweinehund an die Seite und dann schwimme ich einmal auf die andere Seite.“ – „Gleich einmal ganz rüber oder erstmal nur eine kleine Runde hier am Rand?“ – „Ich boxe mich da jetzt durch. Einmal rüber. Ich bin doch keine Mimose. Und ich kann das eigentlich auch.“ – „Okay, ich schwimme direkt hinter dir und bleibe in deiner Nähe.“

Ich kürze noch einmal ab. Nach einer weiteren halben Stunde kam die Mutter in die Halle. Aufgeregt, barfuß, die Hose hochgekrempelt. Weil ihre Tochter seit 90 Minuten weder ans Handy ginge noch auf SMS antworte. Wo sie denn wäre. Tja. Im Wasser. Schwimmend, tauchend, Bauchlage, Rückenlage, wie ein Delfin. Und die Mutter zu mir vom Beckenrand: „Das ist mir ja schon fast peinlich, dass wir so einen Aufstand gemacht haben ihretwegen.“ – „Freuen Sie sich erstmal leise. Wir treffen uns am Ausgang in der Sitzecke. Warten Sie dort, und glauben
Sie mir, das ist das Beste.“

Nach dem Schwimmen zogen wir in den anderen Gruppenumkleideraum, in dem die anderen sich umzogen, um. Anna musste erzählen, woher sie kam, wo sie vorher geschwommen war, und sie erzählte. Einschließlich der Geschichte mit dem Handtuch. Was alle schockierte, aber nicht wegen des Handtuchs, sondern wegen der Reaktion der Mitschüler. Eine achtjährige meinte: „Du bist jetzt meine Freundin, und wenn die dich nochmal ärgern,
sagst du mir Bescheid und dann helfe ich dir. Und ihr helft alle mit“, bestimmte sie über den Rest der Gruppe. Und dann musste auch noch die Geschichte zum Besten gegeben werden, bei der sich jemand im Schwimmbecken übergeben hatte.

Anna wird in diese Gruppe vielleicht noch ein oder zwei Mal kommen, aber eigentlich ist sie zu alt. Und aus Schwimmersicht zu wenig fit. Aber wir haben eine andere Gruppe für sie gefunden, in der sie mit Sicherheit viel Spaß haben wird. Und vielleicht diese Sportart für sich entdeckt. Ihre Angst vor dem Wasser hat sie allerdings überwunden. Ich hoffe, dass das einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat. Und alleine das war einer der Momente, die mir wieder ganz viel Kraft für den bis zur Prüfung doch recht lästigen Alltag geben.

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