Ein Tag beim Arzt

Ein letzter freier Tag, bevor die Uni wieder los geht. Leider dauert es noch, bis ich verbindlich weiß, ob ich den schriftlichen Teil bestanden habe. Das wird zentral ausgewertet und man lässt sich Zeit… Allerdings kenne ich ja meine Antworten und habe sie bereits vergleichen
können, und danach sieht es sehr gut aus. Zwei Fragen, bei denen ich überhaupt nicht wusste, was ich ankreuzen sollte, und geraten habe, werden wohl rausgenommen, weil die Aufgabenstellung falsch war. Bei der einen waren in einer Zeichnung Dinge gemalt, die es an der Stelle gar nicht gibt. Also ungefähr so wie: „Kann der Mensch bei Schnupfen auch durch die zweite Nase einatmen?“

Es ging zwar um das Knie und nicht um die Nase, aber das hier zu erklären, würde Absätze füllen. Von daher erzähle ich lieber etwas spannenderes: Marie und ich durften am letzten Freitag erneut bei Maries
Mutter in der Praxis helfen, da dort zur Zeit fast alle Mitarbeiterinnen krank sind. Eine hat ihre Erkältung fast überstanden und arbeitet bereits wieder, aber eine Person alleine schafft das nicht.
Hinzu kommt, dass zwei Praxen in dem Stadtteil zur Zeit wegen Krankheit
oder Urlaub geschlossen sind. Ab 8.00 Uhr ist die Praxis geöffnet, ab 9.00 Uhr ist Sprechzeit – und um 8.00 Uhr standen und saßen bereits über
20 Leute vor der Tür. Marie rief mich um 8.15 Uhr an, ob ich zum Helfen
kommen könne – ihre Mama und sie drehen jetzt schon am Rad.

Als ich um kurz vor 9 Uhr dort auftauchte, standen die Leute bis draußen. Die Mitarbeiterin an der Anmeldung meinte schon zu allen, die nichts wirklich dringendes hatten: „Kommen Sie bitte gegen 14 Uhr wieder.“ – Unser erster Job: Alles, was irgendwie mit Labor zu tun hatte. Einige kamen zur Kontrolle des Blutdrucks, einige zur Kontrolle des Blutzuckers, bei anderen sollte Blut abgenommen werden. Einige sollten vor Ort in einen Becher pinkeln, damit der Urin mit einem Teststreifen kontrolliert werden konnte. Alles unspektakuläre Dinge, die
aber unheimlich zeitaufwändig sind, gerade wenn die Patientinnen und Patienten nicht mehr so gut zu Fuß sind und Minuten brauchen, bis sie vom Wartezimmer ins Labor gegangen sind. Alle streckten bereitwillig ihre Arme aus oder hielten mir oder Marie ihr Ohr hin, das war echt toll. Jedes Mal, wenn Maries Mutter hin und her rannte, steckte sie einmal kurz den Kopf um die Ecke.

Einen älteren Herren, der von uns Blut abgenommen bekam, traf sie draußen auf dem Gang. Das kurze Gespräch bekamen wir mit, auf plattdeutsch. Er ist schon in den hohen Achtzigern, mit weißem Oberhemd,
Jacket, Krawatte, polierten Schuhen, und spricht Maries Mutter zwar immer mit „Frau Doktor“ an, duzt sie dabei aber. Sie duzt dann natürlich
auch. Er sagte zu ihr: „Da hast du dir aber zwei Perlen an Bord geholt.
Deine Kleine ist ja schon so erwachsen, ich weiß noch genau, wie sie mit der Schultüte in der Hand in der Zeitung war. Wann steigt sie fest bei dir mit ein?“ – „Das dauert noch zehn, zwölf Jahre.“ – „Was? Bis dahin lieg ich schon unter der Erde.“ – „Ach Quatsch, bei unser guten Pflege wirst du 100 Jahre alt.“ – „Wenn ich die beiden Hübschen sehe, fühl ich mich gleich 10 Jahre jünger. Muss nur aufpassen, dass mein Herz
nicht aus dem Takt kommt.“ – „Das lass mal deine Frau nicht hören.“ – „Die ist sowieso böse mit mir. Hab letzten Freitag beim Stammtisch ein bißchen zu tief ins Glas geschaut.“ – „Bring ihr doch mal paar Blümchen mit nach Hause.“ – „Davon haben wir doch den ganzen Garten voll.“ – „Stammtisch ist auch jeden Monat. Lass dir mal einen Tipp geben von einer Frau.“ – „Meinst du wirklich?“ – „Hilft immer, wenn sie von Herzen
kommen. Oder du führst sie am Wochenende mal zum Essen aus. Soll schönes Wetter werden, da kann man vielleicht schon draußen sitzen.“ – „Aber…“ – „Aber verzeiht dir nicht. Nun gib dir mal einen Ruck und schenk ihr ein wenig von deinem Herzen. Glück ist die beste Medizin und nach paar Tagen Streit ist doch auch mal wieder gut auf deine alten Tage. Nutzt die Zeit, die ihr zusammen habt, für schöne Dinge.“

Marie und ich guckten uns an. Marie nickte kurz und machte eine Miene
a la „wo sie recht hat, hat sie recht“, bevor der nächste Patient zum Blutabnehmen rein kam. Als wir den Laborstau abgearbeitet hatten, bat uns Maries Mutter, uns in einem der beiden Sprechzimmer zu zweit breit zu machen und alle Patientinnen und Patienten anzunehmen, die mit Erkältungskrankheiten im Wartezimmer saßen. Wir sollten dann die Anamnese abfragen, also seit wann welche Auffälligkeiten und Symptome da
sind, was schon gemacht wurde, nach Fieber und Allergien (Penicillin?) fragen, Blutdruck messen und dann in Hals und Ohren schauen sowie die Lunge abhören und die Lymphknoten im Kopf- und Halsbereich abtasten. Maries Mutter behandelte in der Zwischenzeit im anderen Sprechzimmer einen weiteren Patienten, kam aber bei jedem unserer Patienten später dazu und ließ sich von uns kurz beschreiben, was wir festgestellt hatten
und hörte selbst auch nochmal die Lunge ab. Da Maries Mutter nicht darauf warten musste, was der Patient erzählte, bis er sich ausgezogen hatte etc., ging das natürlich wesentlich schneller. Und, bevor das wieder jemand fragt, natürlich wurden die Patienten von der Mitarbeiterin darauf hingewiesen, dass wir nur Studentinnen sind. „Sie können, wenn Sie wollen, jetzt zu unseren Praktikantinnen rein, die nehmen heute alle Erkältungen an, tippen schonmal alles in den Computer und hören Sie schonmal ab, die Frau Doktor kommt dann später dazu. Sie können aber auch warten, bis Sie direkt bei Frau Doktor dran sind. Das dauert dann aber etwas, da sind noch Leute vor Ihnen. Wollen Sie warten?“

Alle, die gefragt wurden, wollten zu uns. Wir haben uns mit Mundschutz und immer neuen Handschuhen hoffentlich alle Erreger vom Hals
gehalten. Die Arbeitsweise klappte recht gut. Einige Leute erzählen ja endlos: „Vor zwei Wochen hab ich dreimal hinter einander geniest, aber ich dachte, das wäre Heuschnupfen, dann zitterte plötzlich mein Augenlid, aber das hat wohl damit nichts zu tun. Vorletzte Woche bin ich
noch joggen gewesen, da taten mir meine Beine schon so weh, das war bestimmt ein Vorbote. Dann hab ich mir Holunderblütentee gekocht und ein
wenig von dem Akazienhonig reingerührt, aber dann hat es mich plötzlich
erwischt. Und dann bin ich mal früh ins Bett und dachte, hoffentlich ist es dann vorbei, aber nächsten Morgen bin ich mit Halsweh aufgewacht.“ Und so weiter. Immer, wenn wir am richtigen Zeitpunkt angekommen waren, gaben wir Maries Mutter einen kurzen Pieps über das Computernetzwerk und kurz danach, wenn sie mit ihrem Patienten fertig war, kam sie zu uns rein. Wir sollten immer schon sagen, was wir machen würden, und eigentlich war das recht überschaubar. Maries Mutter meinte,
dass wir ihr eine sehr große Hilfe seien. Unser Problem ist nur, dass wir kaum Erfahrungen mit Krankheiten haben, also erstmal nur wissen, wie
ein gesunder Körper funktioniert und bisher natürlich kaum Kontakt zu kranken Menschen hatten.

Dennoch war eine Patientin dazwischen, in den Siebzigern, konnte ohne
Hilfsmittel gehen, wenn auch etwas verlangsamt, bei der merkte ich sofort, dass sie nicht nur eine Erkältung hatte. Sie meinte, sie habe seit Beginn der Erkältung sehr große Schwierigkeiten, Luft zu holen, sie
habe bestimmt eine Bronchitis. Laut Kartei war sie seit Jahren nicht beim Arzt gewesen, wohl immer gesund. Sie sah irgendwie schon so komisch
aus, blass und irgendwie wirkte ihr Gesicht leicht geschwollen. Sie meinte, es gehe ihr seit drei, vier Tagen sehr schlecht, sie schlafe im Sitzen, weil sie im Liegen ständig husten müsse, scheiß Reizhusten, meinte sie. Sie habe Kräuterbonbons dagegen gelutscht. Als ich ihre Lunge abhörte, hörte man irgendwie … nichts. Ob sie mal husten könnte, fragte ich sie. Sie verneinte das. Marie hatte schon ihre Mama angepiepst, die in dem Moment reinkam. Marie erzählte ihrer Mutter kurz,
was die Patientin beschrieben hatte. Nahm ihr Stethoskop, drückte es ihr auf den Rücken, ich drückte meins daneben, wesentlich weiter unten, als ich zuletzt versucht hatte, was zu hören. Man hörte nichts. Maries Mutter sagte laut: „Mal richtig tief ein- und ausatmen, Frau […]. Nicht nur so auf Sparflamme.“

Holla, die Waldfee. Was für ein Lärm. Das gluckerte und brodelte in ihrer Lunge, dann hustete sie etwas und hatte den ganzen Mund voll Sekret. „Nicht runterschlucken, Frau […], spucken Sie das mal hier in die Schale.“ – Sie fing an zu würgen. Maries Mutter: „Das hört sich nicht gut an, Frau […], gar nicht gut. Da kann ich hier auch nichts für Sie tun. Ich mache Ihnen eine Einweisung fertig für das Krankenhaus.“ – Sie wollte diskutieren. – „Nein, das nützt jetzt alles nichts, Sie müssen ins Krankenhaus. Sie haben die ganze Lunge voller Wasser. Wenn wir da jetzt nichts machen, ersticken Sie bald. Das muss jetzt erstmal untersucht werden und wahrscheinlich müssen Sie danach Tabletten nehmen,
wenn Sie wieder zu Hause sind.“ – Sie wollte diskutieren, ob sie sofort
ins Krankenhaus müsse oder vielleicht Montag hinfahren könnte. – „Sie müssen da jetzt hin, sofort, bis Montag überleben Sie das nicht. Ich rufe Ihren Mann an, Frau […], machen Sie sich keine Sorgen. Das findet sich alles und vielleicht sind Sie nächste Woche schon wieder zu Hause. Bleiben Sie mal hier sitzen, ich komme gleich wieder.“

Zeigte auf mich und sagte nur: „Mitkommen.“ – Ich rollte mit Maries Mutter nach draußen. Sie ging ans Telefon und wählte die 112. „77jährige
Patientin, weiblich, mit fulminantem Lungenödem, noch ansprechbar“, sagte sie dem Disponenten und reichte das Telefon an ihre Mitarbeiterin weiter. Bei „noch ansprechbar“ schwante mir Böses. Und wie ja jeder weiß, ziehe ich solche Dinge magisch an. Maries Mutter legte mir einen Notfallkoffer auf den Schoß und schleppte ein mobiles Sauerstoffgerät sowie ein tragbares EKG-Gerät ab. Sie legte der Patientin einen Zugang in die Handvene, klebte das EKG auf. Sie bekam Sauerstoff unter die Nase
und kam auf eine Sättigung von 94%.

Kurz danach war der Rettungdienst vor Ort. Die beiden Sanitäter waren
anfangs noch recht lustig drauf. Die Frau setzte sich auf die Trage, wurde hochgehoben. „Oberkörper bleibt immer oben“, sagte Maries Mutter zu den beiden. Kaum war sie auf der Trage, wurde sie von einer Sekunde auf die nächste bewusstlos, der Puls ging zunächst auf 45, dann auf <
24 runter – mit entsprechend begleitetem Lärm durch die angeschlossenen
Geräte, anders als bei unserem Praktikum auf der gastroenterologischen Station.
Schaum lief ihr aus dem Mund. „Intubieren, absaugen, und falls mal jemand Zeit für eine Herzdruckmassage hätte“, sah man Maries Mutter das „P“ in den Augen stehen. Marie und ich guckten uns an. Dass das von einer Sekunde auf die nächste so umkippen kann, hätten wir nicht vermutet. Wir hielten uns im Hintergrund. Ich kürze es ab: Es gelang Maries Mutter, massenweise Sekret aus der Lunge abzusaugen. Nach 3 x 30 Herzdruckmassagen und entsprechenden Medikamenten über die Vene schlug das Herz sofort wieder regelmäßig mit einem Puls von etwa 70. Als sie nach fast 20 Minuten soweit stabil und versorgt war, dass sie abtransportiert werden konnte, traf auch endlich mal der Notarzt ein.

Das Sprechzimmer sah aus wie ein Saustall von dem ganzen Verpackungsmüll und Zellstoff und so weiter. Maries Mutter sah aus wie aus dem Wasser gezogen. Schweiß lief ihr in Strömen durch das Gesicht, ihr Hemd war zwischen den Brüsten und unter den Armen großzügig durchtränkt. Sie setzte sich auf einen Stuhl, ihre Hände zitterten. Marie nahm sie in den Arm. „Hast du gut gemacht, Mami. Ich bin so stolz auf dich.“ – „Was für eine Scheiße. Mensch, war das nun nötig? Hätte sie
nicht mal einen Tag eher kommen können? Warum warten die immer alle bis
zur letzten Sekunde?“

Als wir ins Wartezimmer kamen, war dort Totenstille. Mindestens zwei Dutzend Augen guckten uns fragend an. Maries Mutter sagte laut: „Sie wird es überleben.“

Allgemeines seufzen. Was allerdings jetzt noch kommt, zieht einem die
Schuhe aus. Maries Mutter hatte kurz geduscht und sich frische Sachen angezogen, bevor die nächste Patientin aufgerufen wurde. Wir sollten an der Anmeldung helfen. Plötzlich kam Maries Mutter raus, stapfte ins Wartezimmer, ging einen etwa 25jährigen Mann an. „Haben Sie hier gerade erzählt, dass es ein Fehler der beiden Praktikantinnen gewesen wäre, der
dazu geführt hat, dass die Frau mit dem Notarzt weggebracht werden musste?“ – Marie und ich guckten uns mal wieder an und glaubten, unseren
Ohren nicht zu trauen. – „Haben Sie oder haben Sie nicht?“ – Der Mann stammelte: „Ich habe gesagt, dass es so aussieht, als wenn.“ – „Raus. Sofort.“ – „War ja klar, dass Sie sie in Schutz nehmen. Dürfen Sie mich überhaupt ablehnen?“ – „Raus! Sie sind wohl schief gewickelt. Und kaum als Notfall hier reingekommen. Lassen Sie sich hier nicht wieder blicken.“ – Erneut starrten alle möglichen Leute erschrocken durch den Raum. Als er draußen war, sagte Maries Mutter: „Die Patientin war seit Tagen in einem lebensbedrohlichen Zustand. Meine Leute haben das sofort erkannt und mich gerufen. Dadurch konnte der Patientin geholfen werden. Sie hat hier, bevor sie umgekippt ist, keinerlei Medikamente bekommen. Damit liegt auch kein Behandlungsfehler vor, wie der Wichtigtuer hier behaupten wollte.“ – Sagenhaft. Aber wie schon gesagt und bereits bekannt, ich ziehe sowas an.

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