Wellenlänge

Kleine und große Freaks gibt es überall. Im Norden wie im Süden. So hat ein junger Mann aus meiner neuen Nachbarschaft noch nicht bemerkt, dass ich ihn vom Balkon aus sehen kann, wenn er auf der Bank in einer Grünanlage sitzt und sich einen runterholt. Das macht er jeden zweiten bis jeden dritten Abend. Es ist dunkel, er beobachtet genau, ob irgendwoher Leute kommen … und dann legt er los. Ich habe das jetzt schon mehrmals beobachten können. Er ist einige Meter weg, ich tippe mal auf 300 Meter, aber man kann trotz der Dunkelheit im Schein einer Laterne erkennen, was er dort macht. Vermutlich möchte er gar nicht, dass ihn jemand entdeckt, vermutlich möchte er eher das Gegenteil. Und das Gegenteil blüht ihm zu Hause. Keine Ahnung.

Das finde ich ein halbes Prozent besser, als wenn mein Nachbar im Aufzug furzt. Ja, in der Kabine. Nicht, während ich daneben stehe, aber wenn ich nach unten fahre, um den Müll wegzubringen, er hoch fährt und ich anschließend den Aufzug wieder rufe, dann ist das ziemlich eindeutig zuzuordnen. Finde ich. Widerlich.

Mit mir zusammen studiert eine 25jährige Frau. Sie studiert nicht Medizin, ich habe sie beim Schwimmen kennengelernt. Ich habe im Rahmen des Hochschulsports in der Schwimmhalle trainiert, wir waren in derselben Bahn, sie fragte mich beim Rausklettern, ob ich Hilfe bräuchte. So kamen wir ins Gespräch, unter anderem darüber, dass ich auch draußen trainiere und gerne in diesem Jahr noch einen (Para-) Triathlon absolvieren würde. Sie sagte, sie würde auch gerne draußen trainieren. Lange Rede, kurzer Sinn: Wir haben uns mehrmals verabredet und zusammen draußen trainiert. Zu zweit im See. Ausdauertraining, ich konnte ihr noch ein paar Tipps für ihren Kraulstil geben, ich finde sie nett, sie mich wohl auch.

Und sie erzählte mir von einer Erkrankung, die sie plagt. Eine Psychose. Sie hört Stimmen und sieht Bilder. Immer mal wieder, wenn sie aufgeregt ist. Woher ihre Halluzinationen kommen, weiß niemand so genau, zum ersten Mal sind sie mit 14 Jahren aufgetreten. Sie hat das gut im Griff, meint sie, manchmal ein wenig zu gut. Es kann sein, dass sie auf manche Fragen gar nicht erst reagiert, weil sie gerade denkt, dass sie Stimmen hört. Dass sie richtige Stimmen den Halluzinationen zuordnet, käme aber nicht oft vor. Ich finde das voll krass, vor allem, weil sie mir das auf Anhieb sehr ausführlich erzählte und auch erklärte. Sie meinte: „Ich verheimliche das nicht, es gehört zu mir. Aber meistens erwähne ich nur einmal die Diagnose. Dass ich jemandem die Bilder genau beschreibe, soweit sie überhaupt konkret zu beschreiben sind, kommt eher nicht vor. Außer bei Ärzten, als ich stationär in der Klinik war oder bei meinem ambulanten Psychiater. Aber deine Fragen sind so interessiert, so neugierig, so ernsthaft und so wertfrei. Weißt du schon, was du später werden willst? Interessieren dich Neurologie und Psychiatrie?“

Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich habe, auch ohne Starallüren, das Gefühl, gut mit Menschen reden zu können. Also insbesondere habe ich schon oft bemerkt, dass Menschen mir sehr schnell etwas anvertrauen, von dem sie sagen, dass sie es sonst nicht erzählen. Vielleicht wäre es passend, später einmal beruflich in einem besonderen Bereich zu arbeiten. Allerdings: Den ganzen Tag nur Gespräche zu führen, kann ich mir irgendwie auch nicht vorstellen. Zum Glück muss ich mich heute beinahe noch nicht festlegen. Denn bis nach dem 13. Semester ist alles gleich. Erst danach kann man sich durch eine vier- bis sechsjährige Facharzt-Ausbildung spezialisieren. Aber: Ich bin gefragt worden, ob ich nicht promovieren möchte. Ich müsste mich jetzt noch nicht entscheiden, aber ab dem nächsten Semester sollte ich mal Gedanken daran verschwenden.

Ehrlich gesagt: Mich reizt das sehr. Nicht, weil ich einen möglichen Doktortitel als Ausgleich für meine Behinderung sehe oder diesen für mein Ego brauche. Sondern weil ich ganz große Lust hätte, während meines Studiums auch an einer Sache zu forschen. Selbst Ergebnisse auf eigene Fragestellungen zu finden. Und damit meine ich zum Beispiel Themen, für die ich vermutlich nirgendwo einen Proff finden werde. Themen, die ich vielleicht später noch vertiefen könnte. Vielleicht sogar etwas, was mit Behinderung und Inklusion zu tun hat. Oder mit der Wellenlänge, auf denen Menschen, die sich verstehen und vertrauen, kommunizieren.


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