Eine Seefahrt, Tag 4

Selbstverständlich gibt es auch von den letzten Stunden auf dem Mittelmeer noch einiges weniges zu erzählen. Die zweite Mottoparty, überschrieben mit „Schlafen“, verlief wesentlich entspannter als die dominante am Abend davor. Marie und ich gingen mit Matthias im Schlafanzug schwimmen, oder genauer gesagt, legten wir uns entsprechend bekleidet in drei Schwimmreifen und ließen uns im Vorbeipaddeln am Boot immer weider neue Getränke in die Getränkehalter stellen. Andere fanden ziemlich schnell heraus, dass „Schlafen“ ja auch „Miteinander schlafen“ heißen könnte und übten sich darin. Um Mitternacht wurden noch drei Raketen abgefeuert und kurz nach Mitternacht packten sich die beiden behinderten Mottopartymuffel ins Bett und wurden erst wieder vom Frühstücksduft geweckt, während das Schiff schon unterwegs zu unserem Hafen war. Unsere beiden Flieger sollten noch am Vormittag abheben – und
idealerweise waren wir gut in der Zeit.

Zum Abschied sagte Shane, dass Marie und ich übrigens für die nächste
Yachtfahrt erneut eingeplant sind. „Allerdings würde ich mich freuen“, sagte Shane, „wenn ihr dann auch mal eine Nacht mit mir verbringt. Also wir zu dritt. Denkt mal drüber nach!“ – „Machen wir“, versprach Marie. Also dass wir darüber nachdenken. Wir bedankten uns artig bei ihr, umarmten sie zum Abschied und checkten ein.

Kaum war ich wieder auf deutschem Boden gelandet, hatte mich mein Alltag wieder. Okay, es ist noch Feiertag, aber auf dem Wasser schien der Idiotenmagnet nicht so stark zu sein wie an Land. Ich stand mit meiner Tasche an der Bushaltestelle, als es plötzlich einen Knall gab. Ich erschrank, konnte nicht ausmachen, woher der Knall gekommen war – es
hätte auch eine extrem laut zugeschlagene Autotür sein können. Ich hatte das fast schon abgehakt, als eine Frau zu schreien begann. Derart laut und aufgeregt, dass ich mich, ohne nachgedacht zu haben, entschied,
dorthin zu rollen und sie zu beruhigen. Ich vermutete, dass sie vielleicht jemandem mit dem Auto aufgefahren war und nun abdrehte, vielleicht einen beruhigenden Beistand brauchte. Das Geschrei kam von einem geschätzt 14 Jahre alten Mädchen, das wild herumsprang und immer wieder, sich mit den Händen auf den Knien abstützend, halb in die Hocke ging. Beim näheren Hinsehen bemerkte ich, dass ihre Kleidung zerissen und ihre nackten Füße völlig verdreckt waren, dass sie am linken Schienbein blutete und im Gesicht eine Schnittwunde hatte.

Der Inhaber eines türkischen Imbiss brachte einen Stuhl heraus, stellte ihn dem Mädchen hin. Ohne ein Wort setzte das immernoch schreiende Mädchen sich auf den Stuhl. Er kippte eine Kiste Wassermelonen in seinen Laden und stellte die Kiste so vor den Stuhl, dass das Mädchen, immernoch schreiend, ihr Bein darauflegen konnte. Ich erreichte das Mädchen und versuchte, es zu beruhigen: „Hallo, beruhig dich mal, was ist los mit dir?“ – „Ich hab solche Schmerzen!“ – Ein Mann
sagte: „Sie ist vom Auto angefahren worden, hier der BMW.“ – Ein BMW stand einige Meter weiter im Fahrstreifen. Eine sehr vorneh gekleidete Frau stieg aus. Ich versuchte weiter, sie zu beruhigen. „Okay, wie heißt
du denn? Magst du mir mal deinen Namen sagen?“ – „Lea“, schluchzte sie.
Ich fragte sie weiter: „Ich bin Jule. Hast du denn mitbekommen, wie das
passiert ist?“ – „Ich bin auf die Straße gelaufen und dann hat es geknallt.“ – „Bist du hingefallen?“ – „Das weiß ich nicht. Meine Mama soll kommen. Sie wohnt da vorne, klingel mal bitte bei …“

Ich sprach einen Mann an, der neben mir stand und glotzte, ob er dort
bitte klingeln könnte. Und einen anderen, ob er bitte einen Krankenwagen rufen könnte. Lea sagte: „Ich will keinen Krankenwagen.“ – „Lea, du blutest am Bein. Es ist besser, wenn sich das mal ein Doktor anguckt und das desinfiziert und ein Pflaster drauf macht.“ – Der Typ fragte: „Soll ich einen Krankenwagen rufen? Ich meine, wenn sie doch nicht will?“ – Ich funkelte ihn an: „Ja! Dringend.“ – „Ich geh aber nur zum Doktor, wenn meine Mama mitkommt.“ – „Die kommt mit“, versprach ich,
nicht wissend, was uns gleich blühte. Ich bat Lea: „Lea, kannst du dich
mal bitte vorsichtig hier unten hinlegen? Guck mal, dein Schienbein blutet und das müssen wir hoch legen, okay? Das ist besser.“

Lea legte sich auf den Boden. Der Imbissbesitzer brachte eine Wolldecke nach draußen und legte sie Lea unter den Kopf. Ich legte ihre Beine auf den Stuhl. So langsam beruhigte sie sich, begann tierisch zu zittern, wimmerte nach wie vor laut. Der Imbissmann brachte eine zweite Decke zum Zudecken. Ich fauchte den Mann an: „Haben Sie da jetzt angerufen?“ – Er diskutierte: „Ich hab mal Erste Hilfe am Kind gemacht, sollten wir ihr nicht ein bißchen Wasser zu trinken geben?“ – „Sie sollen einen Krankenwagen anrufen, Himmel, Arsch und Zwirn.“ – Ich wühlte mein Handy raus. Setzte mich aus dem Rollstuhl nach unten neben sie auf den Fußboden, nahm ihre Hand. Nach dem zweiten Tuten gab es eine
Verbindung: „Feuerwehr und Rettungsdienst, wo ist der Notfallort?“ – „In der …straße, direkt vor dem Imbiss …“ – „Was ist passiert?“ – „Ein Kind, etwa 14 Jahre, weiblich, wurde von einem Auto angefahren.“ – „Ist das Kind ansprechbar?“ – „Im Moment ja, es hat aber einen Schock sowie mehrere oberflächliche Verletzungen und vermutlich ein Schädelhirntrauma.“ – „Sind weitere Personen verletzt?“ – „Nein.“ – „Ist
jemand eingeklemmt?“ – „Nein.“ – „Woher wissen Sie, dass das Kind einen
Schock hat?“ – „Typische Symptomatik.“ – „Sind Sie ausgebildeter Ersthelfer?“ – „Medizinstudentin.“ – „Versuchen Sie, das Kind auf die Erde zu legen und die Beine erhöht zu lagern. Geben Sie dem Kind nichts zu essen und nichts zu trinken. Hilfe ist unterwegs. Ich verständige auch die Polizei.“

Um das Kind herum hatte sich eine Traube von mindestens 30 Leuten gebildet. Ich sagte laut: „So, alle, die jetzt hier nichts zu suchen haben, gehen bitte weiter. Hier gibt es nichts zu gaffen.“ – Ein Typ sagte: „Ich habe das genau gesehen, ich bin Zeuge!“ – „Dann gehen Sie doch einfach ein paar Meter weiter und warten dort auf die Polizei.“ – Lea plapperte: „Ich will nicht ins Gefängnis. Ich spüre meine Füße nicht
mehr. Ich will nicht in den Rollstuhl. Meine Mutter soll kommen. Bist du gefahren?“, fragte sie eine Frau, die neben uns stand. Sie antwortete: „Ja, du bist mir ohne zu gucken einfach vor das Auto gelaufen!“ – Ich antwortete: „Nun lassen Sie mal gut sein, das klärt sich alles. Kinder kommen auch nicht ins Gefängnis und in den Rollstuhl musst du auch nicht.“ – Dann kam die Mutter angelaufen, wie von der Tarantel gestochen: „Was ist mit meinem Kind?“ – Der Mann, der Lea schon
Wasser geben wollte, sagte: „Sie ist ohne zu gucken auf die Straße gerannt und wurde von dem BMW angefahren!“ – Die Mutter brüllte: „Wieso rennst du einfach so auf die Straße, ich habe dir 1000 Mal gesagt, dass du nur über die Ampel gehen sollst.“ – Die Frau war so aufgedreht, und meckerte immer weiter, dass ich brüllen musste, um mir Gehör zu verschaffen. „Meinen Sie, dass bringt jetzt was? Jetzt lassen Sie sie doch einfach mal in Ruhe. Lea, darf ich mal deinen Puls fühlen?“

Aus der Entfernung war Lalülala zu hören. Gegenüber war eine Uhr am Gebäude angebracht. Drei Minuten waren vergangen. Rettungswagen und Polizei hielten direkt neben uns. Eine Sanitäterin kam zu uns. „Was ist passiert?“ – Lea hatte sich gerade etwas beruhigt, fing nun wieder an zu
weinen. Im gleichen Moment hielt noch ein Fahrzeug. Der Notarzt. Auch er fragte sofort, was passiert sei. Ich sagte: „Das ist Lea, sie wurde von dem BMW dort angefahren, ist gestürzt, kann sich aber nicht erinnern. Hat vermutlich ein Schädel-Hirn-Trauma und sicherlich einen Schock. Dazu oberflächliche Verletzungen am linken Schienbein und hier im Gesicht. Klagt über starke Schmerzen und gibt an, ihre Füße nicht mehr zu spüren.“

Lea wurde auf die Trage gelegt und in den Rettungswagen geschoben. Der Imbissbesitzer bekam seine Decken zurück. Ich kletterte wieder in meinen Stuhl. Der Notarzt kam aus dem Rettungswagen und fragte mich: „Haben Sie gesehen, ob sie mit dem Kopf gegen das Auto geschlagen ist? Oder auf den Asphalt?“ – „Nein, ich habe den Unfall selbst nicht beobachtet. Aber sie hatte sofort eine Erinnerungslücke. Und eben einen schweren Schock.“ – „Sind Sie Ärztin?“ – Ich schüttelte den Kopf: „Medizinstudentin.“ – Er fragte: „Sind Sie ein Querschnitt?“ – Ich nickte. Er drückte mir seine Hand auf die Schulter und meinte im Weggehen: „Hut ab.“ – Na das ging ja mal runter wie Öl. Aber dann: Die Mama wollte nicht mit ins Krankenhaus. „Da ist sie selbst Schuld, außerdem bekommen wir morgen Besuch und ich habe einen Braten in der Röhre. Ich kann da im Moment nichts für sie tun. Und ich habe ihr oft genug gesagt, sie soll nicht auf die Straße rennen.“ – Könnte meine Mutter sein.

Entschuldigung, aber wie %&$*!? muss man sein? Und das dann auch noch laut vor der Polizei und vor dem Unfallgegner zu sagen? Egal, nicht
meine Baustelle. Ich habe mich um Lea gekümmert so gut es ging, alles weitere zeigt sich. Ich wurde gebeten, auf die Verkehrspolizei zu warten, die dann noch den Unfall aufnehmen würde. Bis die endlich kam (auch mit Lalülala), dauerte es fast eine Stunde. Und wie es mein Magnet
so will, kommt das bestimmt vor Gericht und ich werde als Zeugin zur Hauptverhandlung geladen. Um dann nur sagen zu können, dass ich den Unfall selbst nicht gesehen habe.

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