Ein Goldstück

Ich bin aufgeregt! Unsere Baufirma möchte sich gerne eine Zusatzprämie verdienen und bietet an, unser Bauobjekt bereits am 2. Januar (statt bisher am 29. Januar) schlüsselfertig zu übergeben. Bereits das Richtfest war gut 14 Tage früher als eigentlich geplant. Zum Glück halte ich mich da fast völlig raus und vertraue auf Menschen mit Erfahrungen, die raten, von solchen Deals die Finger zu lassen. Es ist ein Vertrag geschlossen, den wir beide einhalten. Es wird nicht mittendrin neu verhandelt. Wenn die Firma freiwillig früher die vereinbarte Leistung abliefert und/oder sie besonders gut abliefert, wird man sich sicherlich erkenntlich zeigen. Aber vertraglich bleibt alles beim Alten.

Wenn ich bedenke, wie lange es auf öffentlichen Bahnhöfen teilweise dauert, bis ein Aufzug eingebaut oder erneuert wird, wundert es schon, dass so etwas im privaten Bereich auch mal in drei Wochen geht. Okay, ein völliger Neubau ist etwas anderes als ein Austausch in einem uralten Bahnhof, zudem, wenn beim Austauschobjekt keine alten Bauzeichnungen mehr vorliegen und beim Umbau Überraschungen eintreten. Aber dennoch: Drei Wochen gegen teilweise über ein Jahr ist schon bemerkenswert. Das heißt konkret: Der Aufzug ist bereits drin. Noch nicht abgenommen, darf also noch nicht betrieben werden. An den Außentüren fehlt noch jeweils eine Blende und am Bedientableau muss noch etwas ausgetauscht werden. Aber er ist drin und funktioniert. Und sieht sehr gut aus.

Bei den eingebauten Fenstern stimmt auch etwas noch nicht, denn es sind im ersten und zweiten Stock zwar bodentiefe Fenster vereinbart worden, allerdings dürfen die nicht auf ganzer Höhe zu öffnen sein. Das heißt konkret: Es war vereinbart, dass die mittig geteilt sind, unten ist es fest, oben geht es zu öffnen. Das Problem wurde gerade vor Ort besprochen, als ich da vorbei kam. Fensterfirma: „Aber so ist es doch viel schöner!“ – Unglaublich, seit wann interessiert der persönliche Geschmack des Fensterfirma-Mitarbeiters? Zum Glück muss ich mich mit solchem Mist nicht rumärgern. In Bad und Küche haben sie das Glas vertauscht, also ist in der Küche jetzt undurchsichtiges Milchglas drin und ins Bad kann man von draußen reingucken und beim Duschen spannern. Aber das ist wohl nur eine Kleinigkeit.

Drollig war auch die Diskussion um die Notwendigkeit einer Gegensprechanlage mit Kamera. Wenn jemand bimmelt, kann man drinnen sehen, was sich gerade vor der Haustür abspielt. Ob das wirklich so sein soll, hatte die Firma gefragt. Immerhin könnte man doch in allen Wohnungen aus mindestens einem Fenster den Haustürbereich einsehen. Aber egal, das sind Kleinigkeiten, überwiegend ist alles in Ordnung und sieht bereits sehr gut aus. Auch der übliche Baustellen-Diebstahl hält sich in Grenzen. Bisher vermissen wir lediglich eine Fensterbank und eine Badewanne. Allerdings haben wir auch jemanden, der sehr genau aufpasst: Jener Nachbar mit dem Ehrenplatz beim Richtfest hat schon drei Mal die Polizei gerufen, weil sich nachts Leute mit Taschenlampen auf dem Baugrundstück herumtrieben.

Seit heute steht auch fest, mit welchen fünf Mietern wir einen Mietvertrag abschließen wollen. Mietbeginn wird der 1. Februar sein. Die Schlüsselübergabe wird einige Tage vorher bereits sein können, sofern die Baufirma tatsächlich vorher fertig wird und alle Abnahmen vernünftig über die Bühne gehen. Es gab ja vor allem im Freundes- und Bekanntenkreis und auch unter einigen Kommentatoren meines Blogs arge Bedenken, ob überhaupt ausreichend Interesse besteht. Ich sage nur: Angespannter Hamburger Wohnungsmarkt. Vier Wohnungen sind mit öffentlichen Mitteln gefördert, auf die vier Wohnungen gab es über zwanzig Bewerbungen. Barrierefreier Wohnraum, den das Land mit öffentlichen Mitteln fördert, darf in Hamburg nur mit Zustimmung der Behörden vermietet werden. Das bedeutet: Jede freie Wohnung wird an das Amt gemeldet und das Amt stellt mehreren Menschen eine Bescheinigung aus, mit der sie sich auf eine bestimmte Wohnung bewerben dürfen. Um so einen Bescheid zu bekommen, muss man bei der Behörde nachweisen, dass man von Obdachlosigkeit bedroht ist oder ähnliche schwerwiegende Gründe vorliegen.

Wir haben uns mit den Menschen, die wir anhand der Bewerbungsunterlagen in die engere Auswahl gezogen hatten, persönlich in einem Cafè in der Hamburger City getroffen. Wir hatten uns aus den über zwanzig Bewerbern insgesamt zehn ausgesucht und nacheinander in das Cafè eingeladen. Es war eine sehr anstrengende weil sehr emotionale Erfahrung. Emotional, obwohl wir, bevor wir nicht alle zehn Bewerberinnen und Bewerber gesehen hatten, keine Zu- oder Absage gemacht haben.

Standardmäßig haben wir einen Einkommensnachweis, eine Selbstauskunft und eine Bescheinigung des aktuellen Vermieters verlangt. Und im persönlichen Gespräch gefragt, warum jemand umziehen möchte. Kam dabei heraus, dass jemand unter sehr großem Druck stand, haben wir auch gefragt, ob der Druck so groß ist, dass er deshalb in eine eher ländliche Gegend zieht. Mehr Verunsicherung musste aber nicht sein, darauf hatten wir uns im Vorfeld geeinigt.

Eine Wohnung geht an eine 24jährige Frau, die sich vor rund einem Jahr bei einem Sturz eine komplette Querschnittlähmung unterhalb des 3. Brustwirbels zugezogen hat. Sie hat zum 1. Oktober einen neuen Arbeitsplatz gefunden, wohnt aber nach wie vor in einer Wohnung, die sie sich vor ihrem Unfall mit ihrem Exfreund angemietet hatte und die nicht barrierefrei ist. Jeden Morgen wird sie von einem Behinderten-Fahrdienst aus dem 4. Stock zu ihrem Auto getragen, jeden Abend wieder nach oben. Sie war bestens auf das Gespräch vorbereitet, hatte Fotos von ihrer jetzigen Wohnsituation dabei. So etwas ist natürlich sehr spannend, weil es den Eindruck vermittelt, wie jemand lebt. Sauber, aufgeräumt, geschmackvoll eingerichtet. Sie wirkte sehr aufgeschlossen, erzählte davon, dass sie die weitläufige Natur lieben würde und sich darauf freue, endlich handbiken zu können, ohne immer erst lange aus der Stadt fahren zu müssen.

Eine Wohnung geht an eine 20jährige Frau, die eine angeborene körperliche Beeinträchtigung (Zerebralparese) hat. Einschließlich einer für die Umwelt deutlich wahrnehmbaren Sprachstörung. Insbesondere „s“, „t“, „ch“ und „sch“ machen ihr erhebliche Schwierigkeiten. Dadurch denken die meisten Leute, sie sei bescheuert, sagte sie. „Beide neue Wohnung brau ä wege fricke Luff keine Sorge ham.“ – Sie war sehr locker drauf: „Ä hab keine Kartoffeln immunn. Dahör senur so an.“ – Für längere Strecken habe sie einen Rollstuhl. Sie habe bereits einen Führerschein, aber noch kein Auto. Nach ihrem Realschulabschluss macht sie aktuell eine Ausbildung in der öffentlichen Verwaltung. Sie hat bis Sommer im Internat gewohnt, stehe nun auf der Straße und sei übergangsweise bei ihren Pflegeeltern untergekommen, wo sie wohnte, bis sie 15 war. Diese seien inzwischen umgezogen, die neue Wohnung ist nicht mehr barrierefrei, sie krabbelt jeden Morgen 25 Stufen runter und abends wieder rauf. Es ist ein wenig risikoreich: Erstes eigenes Geld, noch dazu nur Ausbildungsgehalt. Erste eigene Wohnung, verlockend, ständig Party zu feiern. Aber sie soll eine Chance bekommen und sie machte einen
sehr reifen und vernünftigen Eindruck. Die ehemalige Pflegemutter begleitete sie zu dem Termin und signalisierte, dass sie hilfsbereit zur Seite stünde, wenn es wider Erwarten Probleme geben sollte.

Eine Wohnung geht an eine allein erziehende Mutter mit einem 4jährigen Jungen, der das Down-Syndrom hat. Er saß total lieb die ganze Zeit bei Mama auf dem Schoß und interessierte sich für ihr Handy. Sie habe sich von ihrem Partner getrennt, sie leben aktuell noch in einer Wohnung, wollen dort aber so schnell wie möglich raus. Er habe bereits eine neue Frau, die ihn dort auch besuche, mehr wolle sie nicht ausführen, es sei unerträglich für sie. Sie lebe von Hartz IV, allerdings brachte sie eine Bescheinigung mit, dass die Mietkosten der neuen Wohnung vollständig vom Amt übernommen werden. Ich fragte, ob eine Zweizimmerwohnung nicht zu klein sei. Sie antwortete: „Mein Sohn bekommt ein Zimmer. Mir reicht ein Zimmer mit Küchenzeile und Schreibecke. Und einem Schrankbett. Meine Mutter wohnt fünf Minuten mit dem Fahrrad entfernt, es wäre wirklich ideal. Ich habe so betteln müssen, diesen Schein für dieses Haus zu bekommen, bitte schicken Sie mich nicht weg.“

Eine Wohnung geht an einen allein stehenden Mann, 75 Jahre alt, Beamter im Ruhestand. Er wohne zur Miete im dritten Stock, seine Frau sei vor mehreren Jahren an Krebs verstorben, er habe über 40 Jahre lang bei Wind und Wetter für den Staat geschuftet, sein Rücken sei kaputt und er brauche inzwischen einen Gehwagen und möchte sich für draußen einen E-Scooter anschaffen. Die jetzige Wohnung sei zu groß, es gebe keinen Aufzug, er käme kaum noch raus und nun hätten seine Kinder gesagt, sie würden böse werden, wenn er sich nicht auf die Socken mache. Veränderungen würden von Jahr zu Jahr schwieriger und bevor er in ein paar Jahren ins Heim muss, weil er die Treppe nicht mehr rauf und runter kommt, würde er sich lieber jetzt nochmal komplett neu sortieren wollen. Er fühle sich sonst noch jung. Ob das Haus einen DSL-Anschluss habe, sein Sohn habe ihm gerade erst einen neuen PC geschenkt. Mit Internet. Auf die Frage, ob ihn junge Menschen und Kinder im Haus stören würden, antwortete er: „Leben in der Bude ist genau das richtige für mich. Ich habe selbst Kinder und Enkelkinder. Und in dem Haus, in dem ich jetzt wohne, sind auch Familien mit Kindern.“

Und die fünfte Wohnung? Tja, eigentlich war das nicht geplant, aber wir werden eine der beiden nicht geförderten Wohnungen im Erdgeschoss erstmal vermieten. An einen aktuell 40jährigen allein stehenden Mann im Rollstuhl, den ich seit einigen Jahren kenne. Er hat vor einiger Zeit von seiner Partnerin getrennt und ist in der ehemals gemeinsamen Wohnung unglücklich. Sie liegt mitten an einer Bundesstraße, er findet dort keine Ruhe, die Nachbarn seien unmöglich, werfen Essen aus dem Fenster und zünden im Flur die Papierkörbe an. Er lebt seit jeher sehr zurückgezogen, ist aber sehr nett und ruhig. Er verdient eigenes Geld in Teilzeitarbeit an einem Heimarbeitsplatz, ergänzend kommt das Sozialamt für die Mietkosten auf. Eine größere Wohnung als üblich ist nötig, da er teilweise auch nachts Pflege und Assistenz benötigt.

In die sechste Wohnung werden Marie und ich zusammen einziehen. Jeder wird ein großes Zimmer haben, ein gemeinsames Zimmer mit Küche sowie ein großes Bad mit Badewanne und Dusche sowie ein separates Rolliklo sind mehr als ausreichend. Und bisher ist nicht absehbar, dass wir uns nicht mehr verstehen. Sollten wir uns wirklich mal streiten, können wir uns auch in der Wohnung aus dem Weg gehen. Und im schlimmsten Fall könnte Marie auch nochmal eine Nacht oder zwei bei ihren Eltern schlafen. Wir werden die Wohnung zum Februar parallel auch beziehen, werden allerdings bis mindestens zum Ende des Sommersemesters (Juli 2015) noch am jetzigen Studienort weiter studieren.

Wir haben die vier Bewerberinnen und Bewerber am Abend unseres Gesprächstags angerufen und ihnen erzählt, dass die Wahl auf sie gefallen ist. Der ältere Mann sagte, er freue sich, damit hätte er nicht gerechnet. Die anderen drei brachen entweder in Freudentränen oder in emotionales Geschrei aus. Ich sei ein Goldstück, meinte die allein erziehende Mutter. Sie irrt. Ich bin eine Stinkesocke. Hab ich aber nicht erzählt. Wir haben allen angeboten, dass sie, sofern Ein- und Umbauten vorgenommen werden müssen, die Firmen auch bereits in der Bauphase nach Absprache in das Objekt können. Haltegriffe in Bädern und ähnliches kann ruhig im richtigen Moment geplant und eingebaut werden.

Und die, die es nochmal woanders probieren müssen? Eine junge Frau, ey voll krass ich schwör, hatte sechs Handyverträge in der Selbstauskunft. „Sechs Handys? Das sind vier mehr als ich habe, und ich dachte immer, ich hätte viele“, meinte mein „Kollege“. – „Isch brauch die alle wegen meiner Exboys. Wenn die mir aufn Sack gehn, schalt ich einfach eins aus, weissu?“ – Eine junge Frau wirkte völlig verplant und bekam ständig durcheinander, auf welche Wohnung sie sich gerade bewirbt.
Ein junger Mann im Rollstuhl war mir zu cool, er meinte, er würde die Wohnung bekommen, das hätte das Amt ihm schon bestätigt und was der Scheiß mit einem Bewerbergespräch solle. Ein anderer junger Student im Rollstuhl war völlig bekifft und wollte sich die Kaution sparen, indem er auf dem Bau hilft. Eine Frau um die 30 kannte ich schon vom Sport und da hatte sie zuletzt bei mir keinen guten Eindruck hinterlassen. Daran änderte sich auch bei diesem Gespräch nichts. Und ein junger Mann wäre noch mit in die Auswahl gekommen, allerdings hatte er nur 800 Euro brutto aus Gelegenheitsjobs und ein Leasingauto – wie auch immer er das angestellt hatte, mir war das zu unsicher.

Wie gesagt, ich bin aufgeregt. Irgendwie bin ich nun ein Stückweit dafür verantwortlich, dass die Leute ab dem 1. Februar nicht auf der Straße pennen müssen. Sie kündigen ihre Wohnungen. Sie freuen sich. Ziemlicher Druck. Aber es wird schon schiefgehen.

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