Wie einst die Inklusion entstand

Ich habe heute schon wieder dazugelernt. Ich weiß, man lernt täglich dazu. Manchmal nur ein wenig, manchmal auch ein wenig mehr, wie zuletzt bei den Nebenwirkungen von Midazolam.
Der Brocken ist noch nicht mal seit einer Woche in meinem Kopf, da kommt schon ein neuer, noch größerer Brocken durch die Pipeline. Langsam
wird es selbst mir unheimlich.

Ich habe dazugelernt, wie in Deutschland der Begriff „Inklusion“ entstanden ist!

Und zwar nicht im Soziologie-Kurs. Da kam Inklusion tatsächlich dran,
allerdings war der Kurs schon im vorklinischen Teil des Studiums, und der liegt schon etwas länger zurück. Nein, beim Stöbern im Internet stolperte ich über ein aktuelles Interview mit einem hochrangigen Funktionär des deutschen Behindertensports. Aber der Reihe nach.

Ich hatte bis eben geglaubt, Inklusion und Exklusion sind zwei zentrale Begriffe aus der Soziologie, mit denen beschrieben wird, wie Menschen zusammenleben. In einer bedeutenden wissenschaftlichen Theorie aus den 1990er-Jahren gliedert sich das gesellschaftliche Zusammenleben in diverse, von einander abgegrenzte Bereiche. Menschen sind kein eigener Baustein dieser Bereiche, sondern nehmen je nach individuellen Bedürfnissen an ihnen teil. Diese Teilnahme an einem dieser Bereiche nennt man „Inklusion“. Eine wesentliche Aussage dieser Theorie ist, dass
eine „Inklusion“ in einen Bereich nur möglich ist, wenn die Teilhabe an
einem anderen Bereich aufgegeben wird (Exklusion).

Unser Proff hatte das mal ganz oberflächlich beschrieben mit den Worten: „Sie können nicht im Operationssaal mal eben Ihre Posaune rausholen und während einer Gallenstein-OP ein Liedchen blasen. Raus aus
der Medizin, rein in die Musik! Und beim anschließenden Gottesdienst nehmen Sie die Tröte lieber auch nicht in die Hand, es sei denn, Sie sind gefragtes Mitglied des Orchesters und wollen die Veranstaltung musikalisch untermalen. Dann sind Sie aber eben vorwiegend aus musikalischen Gründen dort, nicht so sehr aus religiösen. Ansonsten: Raus aus der Musik, rein in die Religion!“

In der neueren soziologischen Forschung und insbesondere in der aktuellen Politik und der Sozialarbeit wird der Begriff „Inklusion“ zunehmend verwendet, um vollständige gesellschaftliche Teilhabe, also gelungene gesellschaftliche Solidarität zu beschreiben. Diese neue Verwendung steht im deutlichen Widerspruch zu der ursprünglichen Theorie, nach der eine Inklusion einer einzelnen Person in alle (Teil-) Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ja eben überhaupt nicht möglich ist. Auf jeden Fall nicht zeitgleich.

In aktuellen Forschungen versucht man, herauszufinden, warum Menschen
unterschiedliche Möglichkeiten haben, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Im Bezug auf Menschen mit Beeinträchtigungen spricht man in der Politik seit 2009 von einer Behinderung, wenn das Wechselspiel von Barrieren der Umwelt und einer persönlichen Beeinträchtigung die gesellschaftliche Teilhabe erschwert oder (in Bereichen) unmöglich macht. Das müssen ausdrücklich nicht immer nur bauliche Barrieren sein.

Die Forderung nach der Inklusion aller Menschen (genauer eigentlich nach der Möglichkeit der Inklusion aller Menschen) bedeutet für mich auch, Barrieren abzubauen, die der Möglichkeit
der Inklusion eines Menschen in einen gesellschaftlichen Bereich im Wege stehen. Das Ziel der UN-Behindertenrechtskonvention zur gleichberechtigten Teilhabe aller Menschen am Leben in der Gesellschaft und die sich aus der Unterzeichnung Deutschlands ergebende politische Forderung nach der Möglichkeit der Inklusion der Menschen in alle
Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ist aber eindeutig mehr, als als
(privilegiertes) Mitglied einer Gesellschaft einem Menschen „Zutritt zum Club“ zu verschaffen. Ich verschließe mich dabei jedoch keineswegs der Ansicht, zur Inklusion gehöre auch das Einladen, das Zugänglichmachen eines gesellschaftlichen Bereichs durch die bereits dort Teilnehmenden.

Wenn der Inhalt der UN-Konvention in der gesellschaftspolitischen Debatte jedoch zunehmend auf das Wort „Inklusion“ subsumiert wird, muss Inklusion mehr sein, als der Bau von Aufzügen und allenfalls halbherzige
Versuche, ein Schulsystem neu zu ordnen. Ich bekomme zumehmend den Eindruck, wesentliche Grundsätze wie Selbstbestimmung, Nichtdifferenzierung, Nichtdiskriminierung sind oftmals gar nicht so recht verstanden oder zumindest nicht verinnerlicht worden. Ich habe auch den Eindruck, sie kommen nur sehr schleppend in der Gesellschaft an
und fallen auch in der täglichen Debatte und im täglichen Leben zunehmend wieder hinten runter.

Vielleicht verstehe ich ja das Papier grundlegend und permanent falsch – was ich natürlich auch niemals ausschließen kann – und meine Sichtweise ist Asche. Aber wenn, wie gesagt, das ganze Papier auf den Begriff „Inklusion“ subsumiert wird, dann muss „Inklusion“ auch zwingend
die Selbstbestimmung durch den einzelnen Menschen beinhalten. Und damit
gehört zur „Inklusion“ immer zwingend etwas, was nur der einzelne beeinträchtigte Mensch selbst, also aus eigenem Willen und eigenem Antrieb, veranstalten kann. Entsprechend ist das Beseitigen einer Stufe dann zwar ein wesentlicher und wichtiger Beitrag, der Inklusion möglich macht – Inklusion betreibt der Stufenbeseitiger damit aber eben noch nicht. Und erst recht dann nicht, wenn er stattdessen eine Horde Rollstuhlfahrer in einen Kinosaal trägt. Das ist zwar nett, aber allenfalls Integration. Inklusion ist, wenn die Tür aufgeht und der Rollstuhlfahrer kurz vor seinem Platz noch einmal umdreht, weil noch Werbung läuft und er das meist dreieckig geformte Maismehl-Salzgebäck mit Käsesoße vergessen hat.

Ich sage nicht, dass ich die Dienste eines Menschen, der mich in den Saal trägt, nicht schätze. Aber ich möchte selbst entscheiden, ob ich getragen werden möchte (oder lieber zu Hause bleibe), ich möchte rechtzeitig wissen, dass mich jemand auf den Arm nimmt, und ich möchte schon gar nicht, dass das jemand „Inklusion“ nennt. Schon gar nicht dann, wenn eben „Inklusion“ stellvertretend für alle Bemühungen steht, die gesellschaftlichen Rechte von Menschen mit Beeinträchtigungen umzusetzen. Und es geht eben auch nicht, dass ein „Träger“ mit seinen freundlichen Diensten möglicherweise noch für ein inklusives Kino wirbt und vielleicht noch öffentliche Zuschüsse abgreift.

Das Beispiel mit dem Träger war in Bezug auf die öffentlichen Zuschüsse natürlich überspitzt. Aber ich glaube, dafür umso deutlicher. Zurück zu dem, was ich heute dazugelernt habe: Wie in Deutschland der (sozialpolitische) Begriff „Inklusion“ entstanden ist. Nämlich durch ein
Missverständnis.

„Damals, als die UN-Behindertenrechtskonvention das Licht der Welt erblickte, war in der Originalversion von ‚inclusion‘ die Rede. Das Problem in Deutschland war, dass dieses Wort hier keine Entsprechung hatte. Man sagte bis dato ‚Integration‘ [oder] auch ‚Teilhabe‘. ‚Integration‘ ist im englischsprachigen Raum aber für das Migrationsthema reserviert. Also hat man im Deutschen einfach das ‚c‘ durch ein ‚k‘ ersetzt und den Begriff ‚Inklusion‘ geboren, der angeblich
für eine neue Philosophie steht und ein etwas weiterreichendes Ziel meint als ‚Integration‘.“

Aha. Hm. Da haben wir in unserer Sprache einen neuen Begriff für eine
alte Sache erschaffen, weil in einer anderen Sprache unser Begriff etwas anderes bedeutete. Kommt sowas häufiger vor?

Ich habe keine Ahnung. Ehrlich. Aber wie sich der Begriff durchgesetzt hat, das weiß ich nun auch, das habe ich nämlich heute auch
gleich dazu gelernt: „Die UN-Behindertenrechtskonvention hat in Deutschland ja Gesetzescharakter, dem kann sich der [Behindertensport] natürlich nicht entziehen.“

Nochmal: Hm. Da kommt ein Gesetzestext daher und ändert die sprachlichen Gewohnheiten! Das finde ich faszinierend. Eine Gesellschaft, in der viele Menschen Raub und Einbruchdiebstahl nicht auseinander halten können, gewöhnt sich innerhalb von fünf Jahren komplett an einen neuen Begriff, den ein gesetzesähnlicher Text aufgrund
eines Missverständnisses vorgibt! Könnte das was mit dem sensiblen Thema „Behinderung“ an sich zu tun haben?

Ich weiß es nicht. Ich habe mir die erste deutsche (bis heute verbindliche) Fassung der UN-Konvention mal angesehen. In dem Text kommt
nicht ein einziges Mal das Wort „Inklusion“ oder „inklusiv“ vor. Jetzt bin ich doch ein wenig verwirrt und auch überfragt. Ich gebe auf, packe alle Texte zur Seite und werde mich jetzt bei wolkenlosem Himmel und 17 Grad noch etwas sportlich betätigen und zusammen mit Marie noch eine große Runde mit dem Handbike drehen. Einfach nicht so viel nachdenken, sondern „machen“.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert