Handarbeit

Früher gehörte zum Medizinstudium angeblich noch nicht so viel Praxis wie heute. Dennoch könnte es viel mehr sein. Okay, mein Praktisches Jahr kommt ja noch, aber ich persönlich habe das Gefühl, ich
lerne mehr, wenn ich Theorie und Praxis gleichzeitig vermittelt bekomme, statt erst die komplette Theorie zu büffeln und später alles verknüpfen zu müssen. Aber das ist keine Kritik am System, zumal es unter Garantie auch 100 gute Gründe gibt, warum das Studium genau so und
nicht anders aufgebaut ist. Ich erfahre aber auch, dass unterschiedliche Hochschulen sich im Rahmen der Möglichkeiten unterschiedlich für einen frühzeitigen höheren Praxisanteil engagieren.

In diesem Semester erfreue ich mich an einem persönlichen praktischen
Schwerpunkt in der Chirurgie. In einem Lehrkrankenhaus, also einem Krankenhaus, das selbst nicht zur Universität gehört, aber aufgrund eines Vertrages mit der Uni ihre Studenten ausbilden darf. Sägen, Bohren, Hämmern, Schrauben, Kleben, Stricken, Häkeln, Nähen und Basteln –
die ganze Welt der Handarbeit, live und in Farbe. Ich darf inzwischen auch schonmal den Tupfer festhalten … nein, das wäre jetzt ungerecht. Ich lerne täglich dazu, vor allem bei der Erkenntnis, dass Personal sehr
knapp sein kann.

Meine Wirkungsstätte ist zur Zeit eine Aufnahme. Stinkesocke wird abgehärtet für das spätere Leben. Chirurgische Notfälle sind natürlich nochmal was ganz anderes als internistische. Wenn da ein Motorradfahrer mit offener Schädelfraktur und frisch amputiertem Bein eingeliefert wird, vergesse ich schon mal gerne für fünf bis sechs Sekunden das Atmen. Nicht, dass ich damit zurzeit allzu viel zu tun hätte, aber der Anblick ist schon schaudrig.

Nicht oft passiert es, aber manchmal kommt es dennoch vor, dass die Aufnahme an ihre erste Kapazitätsgrenze stößt. Unglücksfälle und einzelne Schwerverletzte werden vorher angekündigt, die Verteilung solcher personalintensiven Notfälle auf unterschiedliche Kliniken in der
Regel gesteuert. Aber wenn es einen Unfall mit vielen Verletzten gibt oder zeitgleich zwei oder drei heftige Ereignisse passieren, kann es schonmal sein, dass der Bär steppt. So war es heute. Normalerweise können gleichzeitig vier Notfälle in dem Krankenhaus direkt behandelt werden, davon maximal zwei Schwerverletzte zur gleichen Zeit. Mit „Notfälle“ sind hier diejenigen gemeint, die nicht warten können. Für ambulante Patienten, die selbst in die Notaufnahme kommen, gibt es natürlich weitere Kapazitäten – oder sie müssen eben warten.

Die Rettungsleitstelle kündigte einen Verkehrsunfall mit mehreren Schwerverletzten an und schickte zwei Schwerstverletzte sowie einen Leichtverletzten zu uns. Der Hintergrunddienst (Bereitschaft, Sationsärzte) war bereits alarmiert, da bereits zwei Schockräume mit als
akut lebensbedrohlich eingestuften Patienten belegt waren. Es wurde die
Aufnahme bis auf weiteres bei der Leitstelle abgemeldet, so dass nach den drei zu erwartenden Patienten keine weiteren Notfälle eingeliefert werden. Wie gesagt, das kommt nicht oft vor, aber es ist wohl auch nicht
sooo ungewöhnlich.

Mit dem Taxi kam dann eine Frau um die 75, ihren Mann im Schlepptau. Er habe sich beim Heimwerken verletzt. Schwer verletzt, wie sich schnell
herausstellte. Keine Minute später, die drei Verletzten des Verkehrsunfalls waren vermutlich noch gar nicht auf dem Weg, kamen drei Männer mit lautem Gebrüll reingestolpert. Mir lief es eiskalt den Rücken
runter. Einer hatte eine Bauchverletzung durch einen Messerstich, einer
der anderen beiden war erheblich an den Händen verletzt und der dritte war der Fahrer. Was genau los war, wusste niemand, aber man sei schonmal
ins Krankenhaus gefahren. Der Mann mit der Bauchverletzung war leichenblass, schweißnasses Gesicht, hatte die Arme über die Schultern seiner Kumpel gelegt und wurde mehr geschleift als dass er noch selbst ging. Auf dem Fußboden gab es eine nicht unerhebliche Blutspur. Und dann
ging es rund.

Der Mann kam gleich in den nächsten Schockraum und natürlich wurde die Polizei gerufen. Mehr Sorge machte aber der Versorgungsengpass. Der Chefarzt ordnete eine höhere Alarmstufe nach einem Notfallplan an, was zwei wesentliche Folgen hatte: Dienstfreie Mitarbeiter wurden über den Pförtner angerufen und in die Klinik beordert, und der normale Aufnahmebetrieb wurde eingestellt. Das heißt: Alle rund 30 Patienten, die sich im Wartebereich stapelten, mussten die Aufnahme verlassen und wurden, sofern es eher Kleinigkeiten waren, entweder gebeten, eine Notfallpraxis aufzusuchen oder zum Hausarzt zu gehen. Wer nicht weggeschickt wurde, sollte in einem Aufenthaltsraum warten, der zu diesem Zweck extra geräumt wurde. Ich sollte mit zwei Mitarbeiterinnen mitgehen und bei der Versorgung der verbliebenen Patienten helfen. Ein Behandlungsraum neben einer Station wurde dafür zweckentfremdet, nach zwanzig Minuten kam eine Ärztin, die eigentlich dienstfrei hatte.

Ich will nicht behaupten, dass ich in diesem Behandlungsraum heute irgendwas Chirurgisches lernen konnte. Die Patientinnen und Patienten wurden im Galopp durch die Behandlung geführt, alle waren froh, wenn ich
nicht nerve und mich im Hintergrund aufhalte. Was ich aber gelernt habe: So eine Maßnahme hat auf Menschen eine sehr emotionale Wirkung. Weniger auf mich, mehr auf die Leute, die wegen eines eingewachsenen Fußnagels die 112 wählen. Von den ehemals rund 30 Patienten verblieben ganze acht, die wirklich dringend Hilfe brauchten. Der Rest checkte nach
einem kurzen Gespräch, ob wirklich ein Notfall vorliege, wieder aus. Ich will nicht behaupten, dass ich Menschen nicht ernst nehme, wenn sie gesundheitliche Probleme haben. Aber wenn jemand in eine Notaufnahme kommt, weil er sich beim Briefe schreiben am Papier geschnitten hat, dann ist irgendwas falsch. Ich weiß nur noch nicht, was.

Marie erzählte mir heute von einer Patientin, die als Notfall kam, weil sie wissen wollte, ob in ihrem Bauch ein Junge oder ein Mädchen wächst. Nachdem die Ärztin drei Mal gefragt hat, ob die Patientin irgendwelche akuten Probleme hätte, kam heraus, dass die junge Dame noch
nicht mal einen Schwangerschaftstest gemacht hatte. Ihre Regel war nach
sexueller Aktivität lediglich überfällig. Seit zwei Tagen…

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