Eine Rheinfahrt mit Tanz

Als kleine Entschädigung für den gestrigen hektischen Praktikumstag
durfte ich heute noch einmal ins Krankenhaus. Allerdings nur zu einem speziellen Patienten. Ich nenne ihn mal Gerd. Gerd ist 51 Jahre alt, ist
allem Anschein nach vor zwei Monaten mit seinem Auto gegen einen Kleinlaster gedonnert, als er als Geisterfahrer auf der Autobahn unterwegs war. Er soll nachts bei Regen im Baustellenbereich für seine Richtung eine dritte Spur aufgemacht haben, an einer Stelle, wo laut Polizei nur zwei Spuren pro Richtung eingerichtet waren. So erzählt es die Schwester. Gerd ist Familienvater, war auf dem Weg von der Arbeit nach Hause, ist seit 25 Jahren verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder. Beide Kinder besuchen den Vater täglich, beide können sich das überhaupt
nicht erklären und erzählen ständig, sie seien regelmäßig mit dem Papa Auto gefahren, auch lange Strecken. Er sei stets vorbildlich gefahren, sie hätten im Auto geschlafen während der Fahrt – sie seien geschockt.

Gerd war lebensgefährlich verletzt eingeliefert worden, lag mehrere Wochen im künstlichen Koma. Aktuell wird er, obwohl er seit zwei Wochen wieder wach ist, noch immer intensivmedizinisch betreut. Er ist ansprechbar und ich habe ihn bislang immer in jeder Hinsicht orientiert erlebt, als ich zusammen mit einem Chirurgen zwei, drei Mal nach seiner Unterschenkelfraktur geschaut hatte. Er redete ganz normal, fragte nach den nächsten Therapieschritten, gab über alles mögliche Auskunft.

Heute sah ich ihn wieder, wieder zusammen mit einem Arzt. Der Arzt begrüßte ihn, Gerd gab eine sehr zögerliche Antwort und begann sofort, den Arzt verbal anzugehen. Wer er sei, ständig kämen hier fremde Leute ins Zimmer, er solle ihn in Ruhe lassen. Irgendwie wirkte Gerd aber auch
verängstigt. Ich guckte den Arzt an, der nickte mir zu, ich versuchte mein Glück. „Hallo Herr …, wir kennen uns doch aus der letzten Woche. Ich wollte mal nach Ihnen schauen, wir haben uns doch so nett unterhalten.“ – „Ah, gut, dass Sie kommen. Ich erinnere mich an Sie, oder genauer gesagt an Ihren Rollstuhl. Im Moment kann ich mir kaum Gesichter merken. Aber an Ihren Rollstuhl erinnere ich mich.“ – „Das ist
doch okay. Ich sage Ihnen auch gerne nochmal meinen Namen.“ – Er wiederholte meinen Namen, griff nach meiner Hand, umklammerte fest mein Handgelenk und zog mich zu sich heran. „Können Sie was für sich behalten?“, fragte er mich.

„Na klar“, flüsterte ich zurück. Er sagte: „Gut. Ich will Ihnen mal was erklären. Ich bin nämlich verschleppt worden. Und ich werde abhauen.
Später. Ich habe mich mit ein paar Freunden verabredet, wir werden eine
Schifffahrt auf dem Rhein machen. Wir haben zu viert zwei Kabinen, ich hoffe, dass ich mit Georg zusammen in eine Kabine komme, die anderen beiden sind mir zu anstrengend. Die Frauen bleiben zu Hause. Können Sie mir Geld leihen? Irgendwie habe ich mein ganzes Geld verloren. Ich überweise es Ihnen nächste Woche zurück.“

Für zwei Sekunden war ich sprachlos, dann sagte ich: „Klar. Wieviel brauchen Sie?“ – „Na so 100 Euro sollten es schon sein. Wir wollen ja vielleicht auch mal tanzen gehen.“ – „Wenn Sie meine Hand loslassen, kann ich mal in mein Portmonee schauen, denn, oh, wie ich vermutet habe,
es sind nur Münzen drin. Aber ich könnte sonst gleich was am Automaten ziehen. Meinen Sie denn, dass Sie beim Tanzen was bezahlen müssen oder haben Sie nicht sogar ‚all inclusive‘ gebucht? Meine Eltern waren vor paar Wochen auf dem Rhein, da war Tanzen mit drin.“ – „Die hatten ein anderes Unternehmen. Wir haben bei einer ungarischen Firma gebucht, das war ein Geheimtipp. Aber leider ist da Tanzen nicht mit drin. Haben Sie die 100 Euro?“

Ich wiederholte: „Wie gesagt, ich habe gerade nur Münzen und müsste zum Automaten und da was ziehen.“ – „Wollen Sie mich verarschen? Sie kommen hier her und haben nur Münzen im Portmonee? Wovon bezahlen Sie denn Ihre Miete?“ – „Die wird abgebucht. Ich brauche kaum Bargeld, ich zahle meistens mit Karte. Aber es ist ja kein Problem, um die Ecke ist ein Geldautomat.“ – „Der hat doch bestimmt schon geschlossen. Sind Sie echt so knapp bei Kasse, dass Sie keine Scheine dabei haben? Ich fasse es nicht, wie lange kennen wir uns schon? Zwei Jahre, drei? Und ich dachte immer, Sie kämen einigermaßen über die Runden.“ – „Es ist halt alles nicht mehr so einfach wie früher, die Zeiten ändern sich.“ – „Ja, schlimme Zeiten, darum will ich ja auch weg hier.“ – „Und das Wetter? Ist auch nicht mehr das, was es früher mal war, oder? So früh schon so dunkel, es wird Winter.“ – „Nein, es soll morgen nochmal warm werden, haben sie in den Nachrichten gesagt.“ – „Oh, das ist schön, dann könnte ich morgen ja vielleicht nochmal grillen mit ein paar Freunden. Ich muss
dann auch mal weiter, noch ein paar Sachen einkaufen.“ – „Ach, können Sie mir Margarine mitbringen?“ – „Einen Becher oder mehr?“ – „Nö, so zwei oder drei, falls meine Frau was backen will. Schauen Sie mal, ob da
was im Angebot ist.“ – „Mach ich.“

Kaum war ich mit dem Arzt wieder auf dem Flur und die Tür war hinter uns zu, sagte er: „Das gibt ein dickes Sternchen.“ – Ich fragte: „Was ist mit dem Mann?“ – „Okay, kein Sternchen. Wonach sieht es aus?“ – „Delir, Psychosyndrom. Aber warum?“ – „Überlegen Sie mal.“ – „Postoperativ möchte ich eigentlich ausschließen nach sechs bis acht Wochen. Künstliches Koma ist auch seit zwei Wochen vorbei. Ich habe gelernt, sowas geht nach zwei Tagen los und ist entweder nach zwei Tagen
wieder vorbei oder muss medikamentös behandelt werden. Die letzten Male
war er aber vollkommen orientiert. Wie passt das alles zusammen?“ – „Keine Ahnung.“ – „Was sagt denn der Psychiater dazu?“ – „Falsche Frage.“ – „Wieso falsche Frage?“ – „Ich Chirurg, Sie Studentin. Psychiatrie ist nicht meine Baustelle.“ – „Sie wollten doch aber gerade Sternchen verteilen, wie lautet denn nun die richtige Antwort?“ – „Nicht
zu viel nachfragen. Müssen Sie noch lernen.“

„Als Studentin…“, fing ich einen Satz an, kam aber nicht weiter, da Chirurgus sich durch das Treppenhaus abseilte. Und mich dumm stehen ließ. Stinkesocke möchte wieder mal die Welt retten. Ich erinnere mich noch an die Alpträume, die ich nach meinem Koma gehabt habe. Ich weiß, dass das eine sehr schlimme Zeit war, in die sich Menschen, die das nicht selbst miterlebt haben, kaum hineinversetzen können. Ich weiß nur nicht, ob ich das zu eng oder die behandelnden Ärzte das zu locker sehen. Einerseits widerstrebt es mir, das einfach so abzuhaken, andererseits möchte ich nicht als diejenige gelten, die alles dramatisiert. Ich bin mal wieder hin- und hergerissen.

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