Hin und wieder Koma

Eigentlich fahre ich ja immer in der zweiten Klasse im Zug. Allerdings sind in manchen ICE-Zügen die Sitzplätze für Menschen mit Behinderung am Ende des Wagen 9 lokalisiert. Wagen 9 ist eigentlich ein Erste-Klasse-Wagen. Da das Kleinkindabteil genau daneben liegt, relativiert sich die sonst bessere Ruhe der 1. Klasse oft sofort wieder,
aber die Sitze sind wenigstens etwas bequemer. Und man bekommt Tageszeitungen angeboten. Manchmal. In diesem Fall stieg ein Reisender aus und fragte mich, ob ich seine Zeitung haben wollte. Ich bejahte und stolperte über einen Artikel, der meine Augen größer werden ließ.

In London soll ein inzwischen 47jähriger Mann eine hohe Querschnittlähmung vorgetäuscht haben. Er falle zudem regelmäßig ins Koma. Der Schwindel sei aufgeflogen, als die Polizei ihn beim Einkaufen erwischte. Ohne Rollstuhl, ohne die angeblich nötige Beatmung. Der Grund für das ganze Manöver: Angeblich habe er seine Nachbarn um 50.000 Euro betrogen. Als das aufflog und er vor Gericht musste, ließ er sich einfallen, so die Tageszeitung weiter, dass er ab sofort ein wenig pflegebedürftig sei, so dass die Gerichtsverhandlung gegen ihn über die angeblich ergaunerten 50.000 Euro mehrmals verschoben wurde.

Was mich wundert, ist, dass offenbar niemand seinen Unfall mit dem Garagentor, der zu der schweren Beeinträchtigung geführt haben soll, untersucht hat. So eine hohe Querschnittlähmung macht doch eine lange Krankenhausbehandlung nötig. Wie kommt da jemand an ein entsprechendes ärztliches Attest zur Vorlage bei Gericht? Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich will es auch gar nicht wissen. Nur ich denke mir: Wenn man schon so viel unternimmt, dass einem ein Gericht (vorerst) Glauben schenkt (oder schenken muss), wieso lässt man sich dann beim Einkaufen auf zwei Beinen filmen?

Was mich bei der Sache am meisten aufregt, sind die erheblichen Mittel aus Sozial- und Krankenfürsorge, die ihm in den letzten Jahren zugeflossen sind. Ich möchte mich auf das dünne Eis wagen und anhand verschiedener Erzählungen von Freunden und auch aufgrund einer persönlichen Begegnung vor etwa vier Jahren eine Haltung einnehmen, die möglicherweise im ersten Moment befremdet. Nämlich: Meiner Meinung nach muss jeder selbst entscheiden, ob er zu Fuß, auf einem Fahrrad oder im Rollstuhl durch die Weltgeschichte eiert. Genauso wie es mir egal ist, ob jemand rosafarbene oder schwarze Unterhosen trägt, sich die Nippel piercen lässt oder ein dichtes Fell am Rücken hat. Ich habe zwar meine persönlichen Präferenzen und würde selbst bei Bekannten ein zweites Mal hinschauen, aber letztlich ist es eine völlig private Entscheidung, wie sich jemand aus dem Haus wagt und wie sich jemand fortbewegt.

Sie ist es allerspätestens in dem Moment nicht mehr, wo (zu Lasten anderer) getäuscht und Sozialhilfe bezogen wird. Soll heißen: Kauf dir privat deinen Rolli, cruise damit durch die Stadt, triff dich mit Gleichgesinnten, aber spiel mit offenen Karten. Und rechne damit, dass diejenigen nicht so eng mit dir befreundet sein wollen, die sich nicht (mehr) aussuchen können, ob sie mal eben aufstehen wollen, wenn es am Strand ein wenig zu sandig wird. Und akzeptiere, dass eben genau diese Menschen sehr sauer werden, wenn du diejenigen Leistungen, die dafür bestimmt sind, ein Leben mit so extremen Beeinträchtigungen wie einem Halsquerschnitt oder einem Wachkoma zu ermöglichen, für dich ungerechtfertigt in Anspruch nimmst.

Auch wenn es den Staat vermutlich nicht aus dem finanziellen Gleichgewicht bringt, seine Pflegeleistungen grundlos gezahlt und vermutlich auf Nimmerwiedersehen verloren zu haben – es ist eine riesige
Sauerei. Es ist so schon schwer genug, als betroffener Mensch an die vorgesehenen Leistungen zu kommen. Wenn ich sehe, welcher Aufriss mitnichten veranstaltet wird, bevor irgendwas bewilligt wird, wäre ich doch glatt dafür, solche mutmaßlichen Betrüger als Strafe für mindestens fünf Jahre zu einer sozialen Tätigkeit zu verdonnern, in der sie ihr „Wissen“ für wirklich betroffene Menschen einsetzen können.

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