Dublin und Zoey

Zoey. So nenne ich sie mal. Zoey bedeutet „Leben“ und der Name ist Programm. Und falls jemand fragt: Das Ypsilon habe ich drangehängt, damit nicht jemand „Zö“ liest. Ich musste mir neulich nämlich im Zug über eine Stunde lang mit anhören, wie eine ältere Frau, geschätzt auf etwa 70 Jahre, mit ihrer Freundin per Handy telefonierte. In einem Großraumwagen, in dem eigentlich das Telefonieren verboten ist. Und da die ältere Dame nicht mehr so recht hörte, gelang mir wiederum das Weghören nicht. Sie sprach ausführlichst über einen Roman, den sie gerade las. Dieser spielte in Dublin, der Hauptstadt von Irland.

Man kann vielleicht darüber diskutieren, ob man Städtenamen in der jeweiligen Landessprache aussprechen muss. Als sie allerdings Überlegungen anstellte, dass die Deutschen mit den Iren gemeinsam hätten, dass ihre Hauptstädte auf „lin“ enden, wobei es bei einem Vergleich der Einwohnerzahlen eher „Dublinchen“ heißen müsste, wagte ich
einen zweifelnden Blick durch die Sitzreihen nach hinten. Marie murmelte leise: „Weißt du denn, wie die dort hergestellte irische Schokolade heißt?“ – Ich guckte sie mit halb fragenden, halb genervten Blick an und überlegte einen Moment. Dann sagte sie: „Kleiner Tipp: Es ist die kleine Schwester der wahrscheinlich längsten Praline der Welt: Duplinchen.“ – Auweia.

Zoey ist zwölf. Sie ist vor fünf Jahren beim Spielen auf dem Spielplatz verunglückt. Sie hatte sich an eine Seilbahn gehängt und bekam von einem Freund zum Ende des Seils so viel Anschwung, dass sie sich nicht mehr halten konnte, losließ und im hohen Bogen gegen einen Pfeiler krachte. Seitdem hat sie einen inkompletten Querschnitt im unteren Brustwirbelbereich, etwa in Höhe des Bauchnabels.

Ich wurde auf Zoey im Schwimmbad aufmerksam. Das ist inzwischen mehrere Wochen her. Ich kraulte meine Bahnen und sah irgendwann aus dem Augenwinkel eine Frau mit einem Kind auf dem Arm neben meinem Rollstuhl stehen. Das passiert hin und wieder mal, aber meistens sind Leute, die sich neugierig das leere Teil am Beckenrand ansehen, nach spätestens meiner übernächsten Bahn wieder verschwunden. In diesem Fall hielt ich mich acht Bahnen später am Beckenrand fest, überlegte einen Moment, wieso jemand ein zwölfjähriges Kind auf dem Arm trug, und fragte dann: „Na? Steht der im Weg?“

„Nein, nein, keineswegs. Wir schauen nur völlig begeistert zu, wie Sie das ohne den Einsatz Ihrer Beine alles hinkriegen. Ich habe zu meiner Tochter gerade gesagt: ‚Ich würde vermutlich untergehen!’“ – „Naja, zum Kraulschwimmen braucht man die Beine ja nicht unbedingt. Es ist zwar vorteilhaft, sie einsetzen zu können, aber mit ein wenig Übung klappt es auch ohne.“

Ich erfuhr, dass Zoey auch im Rollstuhl sitzt. Mich wunderte aber, dass die Mutter sie trug und die ganze Zeit auf dem Arm hielt. Das Mädchen sagte keinen Ton. Sie trug einen zu klein geratenen pinkfarbenen
Inkontinenz-Badeanzug mit eingenähtem Rüschen-Kleidchen, und aus meiner
Perspektive sah ich am Beinabschluss Teile einer Schwimmwindel unter dem Ding hervorscheinen. Zoey hatte ihren Kopf an die Schulter der Mutter gelegt und beobachtete mich, ohne ein Wort zu sagen. Ihre Haare waren zu einem Zopf aufwändig zusammengeflochten. Zwei pinke Haarspangen
hielten weitere Haare aus dem Gesicht. Sie wirkte müde. Für einen Moment lang überlegte ich, ob sie möglicherweise auch kognitive Einschränkungen haben könnte.

Hatte sie aber nicht. Inzwischen, mehrere Wochen später, kann Zoey schwimmen. Zumindest schafft sie eine Bahn ohne Hilfe. Manchmal dreht sie sich noch auf den Rücken, wenn es ihr unterwegs zu anstrengend wird,
aber manchmal schafft sie auch eine Bahn Brustschwimmen in einem Stück.
Wir haben immer mal wieder zusammen geübt und Zoey ist sehr ehrgeizig.

Und sehr anhänglich. Wie ich die Mutter verstanden habe, hat sie sehr
wenig Kontakt zu anderen Menschen im Rollstuhl. Warum das so ist, weiß ich noch nicht. Aber es bringt mit sich, dass sie alles selbst ausprobieren und herausfinden muss. Wie komme ich vom Boden in den Rolli? Wie bleibt mein Sitzkissen im Schwimmbad trocken? Wie ziehe ich mir im Sitzen selbst die Hose über den Po?

Die Mutter sagte in dieser Woche zu mir, dass ihre Tochter in den letzten Wochen in einigen Bereichen um Jahre erwachsener geworden sei, so käme es der Mutter vor. Einerseits eine erschreckende Entwicklung, meint die Mutter, andererseits eine längst überfällige. Mit zwölf Jahren
sollte ein Kind sich alleine an- und ausziehen. Wenn es das kann. Und Zoey kann es. Inzwischen.

Auch den scheußlich-pinken Kleidchen-Badeanzug haben wir inzwischen ersetzt gegen etwas sportliches Schwarzes. Funktioniert genauso gut und sieht nicht so behindert aus wie das andere Ding. Wie einfach es doch ist, die Mama zu überstimmen, sobald es jemanden gibt, der ins gleiche Horn stößt…

Wir haben uns verabredet, dass Zoey in den nächsten Wochen ein oder zwei, vielleicht auch drei Nächte bei Marie und mir schlafen wird. Es mag sehr befremdlich wirken, aber es gibt eine Sache, die möchte Zoey auch alleine können: Abführen. Wie wir das mit der nötigen Diskretion und Wahrung ihrer Intimsphäre hinbekommen, müssen wir noch überlegen. Aber Zoey wünscht sich nichts sehnlicher, als mit zwölf Jahren endlich ohne die Hilfe der Mutter auszukommen. Ich bin mir sicher, dass sie es schaffen wird. Denn einen Anfang hat sie bereits gemacht: Mir einen langen Brief geschrieben, in dem es einzig und allein um diesen Wunsch geht.

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