Cygnus olor

Männer können schon liebevolle Menschen sein. Wenn ich so über Philipp nachdenke, weiß ich, was mir in den letzten Jahren gefehlt hat. Nicht, dass Marie oder ihre Eltern mich nie verwöhnt hätten. Das meine ich nicht. Ich meine, dass es schon etwas Besonderes ist, wenn jemand seinen kompletten Arbeitstag um Stunden nach hinten verschiebt, nur, um mit mir frühstücken zu können. Und frische Brötchen mitbringt. Zum Beispiel.

Männer können aber auch sehr verspielt sein. Wie kleine Kinder. Da ich Kinder mag, gefällt mir natürlich auch ein verspielter Philipp. Es ist keine nervige Verspieltheit, wie bei jenen Typen, die ungefragt erstmal alle Schalter und Hebel betätigen müssen und im Auto kein Lied zu Ende hören können, sondern permanent auf „Weiter“ klicken. Sondern eher eine jugendliche Verspieltheit. Zum Beispiel wollte er mit mir zusammen trainieren. Ich habe angesichts des schönen Wetters langsam (sehr langsam, denn großartig anstrengen möchte ich mich nach meiner letzten Infektion noch nicht) wieder mit dem Training begonnen. Sehr technisch erstmal, viel Gymnastik (recken, strecken, dehnen, pupsen) und
so – und dann ein paar Kilometer im inzwischen fast eingestaubten Rennrolli. Ja, ich kann es noch.

Philipp wollte unbedingt dabei sein, hatte ein Fahrrad mitgebracht. Und guckte und beobachtete und war ganz still und fragte irgendwann, ob er mich mal was fragen dürfte. Oloret mihi. Ich rechnete mit einem „Darf
ich auch mal ausprobieren, wie man mit dem Ding fährt?“ und überlegte schon, welchen Stuhl er sich dafür mal ausleihen könnte, wenn wir festgestellt haben, dass er in meinen nicht reinpasst. Stattdessen kam: „Darf ich mal deinen Po anfassen?“ – Irgendwie süß. Dass er vorher fragt. „Jetzt sofort oder später?“ – „Später reicht.“ – Schade.

Ich weiß ja inzwischen, dass eng anliegende Sportklamotten auf viele Menschen reizvoll wirken. Sowohl auf jene, die da drin stecken, als auch
auf jene, die andere darin sehen. Nicht umsonst heißen Leggings ja auch
Wunschhosen, schließlich kann man darin der Frau jeden Wunsch von den Lippen ablesen. Mein Problem ist, dass ich diesen Reiz nicht so stark verspüre. Mich nervt es eher, wenn dieses vollsynthetische Zeug mich so auflädt, dass ich ständig eine gewischt kriege oder mir meine Haare zu Berge stehen. Andererseits hatte ein Exfreund auch schon so einen Faible
und ich muss sagen: Es gibt wohl Schlimmeres. Praktisch ist auf jeden Fall, dass sie keine Flüssigkeit aufsaugen (zum Beispiel Schweiß) und nicht in den Speichen hängen bleiben.

Jedenfalls habe ich mich am Ende auf eine Liege gelegt und zu Philipp
gesagt: „Du darfst mir gerne die Schultern massieren.“ – Konnte er gut.
Und ich glaube, es hat ihm richtig Spaß gemacht. Ein wenig seltsam war für mich, dass er nicht wusste, wo die Schultern sind. Ich wusste schon vor der Schule, dass der Popo nicht zu den Schultern gehört. Aber ich wollte auch nicht besserwisserisch rüberkommen… Leider mussten wir ziemlich schnell aufhören, weil die Liege gebraucht wurde von anderen Rennradlern, die kurz nach uns ankamen.

Demnächst sind wir zum Kochen verabredet. Eingekauft dafür haben wir schon. Marie wird auch dabei sein – und das funktioniert bislang auch alles recht gut. Allerdings nicht beim Nachtisch. Den es hoffentlich bald gibt. Ich bin so neugierig, ich möchte so gerne und fühle mich so untervö … ähm … hungrig! Aber er lässt sich viel Zeit. Einerseits finde ich das sehr gut. Aber im Moment bin ich gerade irgendwie andererseits.

Männer können aber auch sehr höflich sein. Ich glaube, die Male in meinem Leben, in denen mir ein Mann (von offiziellen Anlässen mal abgesehen) Blumen geschenkt hat, lassen sich an einer Hand abzählen. Ich
habe tatsächlich einen Moment ganz leise überlegt, ob das noch modern ist. Und noch leiser, ob ich schon in dem Alter bin, in dem man einer Frau Blumen schenkt. Und sie dann in einer großen Vase auf den Tisch gestellt. Und freue mich, sie immer wieder zu sehen und an ihn erinnert zu werden.

Männer können jedoch auch sehr einfühlsam sein. Was ich an Philipp bewundere, ist, wie sehr meine körperliche Einschränkung bisher allenfalls im Hintergrund seiner Aufmerksamkeit stand. Ich habe endlich mal beim jemandem, den ich neu kennenlerne, uneingeschränkt das Gefühl, ich bin Jule und nicht (zumindest für einen Moment lang) die Behinderte.
Klar ergibt sich das eine oder andere Thema mal. Aber es ist ausgewogen. Und irgendwie: Schön.

Männer können aber auch eifersüchtig sein. Philipp ist es zum Glück nicht, aber als wir noch kurz an einem See saßen und dem Sonnenuntergang
zugeschaut haben, schwante mir erneut etwas. Oloret mihi. Wie schön, dass Cygnus olor nicht Gift und Galle spucken konnte. Letztlich bin ich mir nicht sicher, ob das Flattervieh auf Philipp, auf mich oder auf die Bank eifersüchtig war, auf der wir saßen. Jedenfalls kam Majestät mit einer riesigen Bugwelle von der anderen Seeseite herüber geschwommen.

Da Schwäne ja ab März brüten, vermute ich mal, dass da letztlich jemand Angst vor Eierdieben im Rollstuhl hatte. Rollstühle scheinen auf Schwäne sowieso anziehend zu wirken. Zuerst haben wir gedacht, das ist nur Säbelrasseln, als man dann aber zischend und mit den Flügeln schlagend aus dem Wasser auf uns zu trabte, haben wir uns mal rasch entfernt. Als plötzlich dann noch zehn Kilogramm nasser Wasservogel an Philipps Jacke hingen und sich darin verbissen hatten, setzte es einen gezielten Kick. Den Moment, in dem Cygnus olor überlegte, warum er mitten am Tag Sterne sieht, nutzten wir zur Flucht.

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