Einen an der Waffel

Der frühe Vogel fängt den Wurm. Das gilt an meiner momentanen Uni mehr als anderswo. Soll heißen: Wer nicht am ersten Vorlesungstag persönlich zur rechten Zeit am rechten Ort ist, ärgert sich mitunter ein halbes Jahr über langweilige oder stressige oder nervige Praktikumsplätze, bekommt seine Kurse nicht oder nicht bei seinen Lieblingsprofs oder so ähnlich. Man ist ja verwöhnt. Oder benötigt auch mal etwas barrierefreies. Entsprechend waren Marie und ich mehr als pünktlich aufgestanden und standen mehr als früh genug vor der richtigen Tür. Weil ich wusste, dass ich gleich anschließend in ein Lehrkrankenhaus müsste, um mich dort persönlich vorzustellen, fuhren wir sogar extra mit dem Auto – was ich sonst nie mache.

Ich bekam, was ich haben wollte, schnappte mir meine Unterlagen und war auf dem Weg zu dem besagten Lehrkrankenhaus, als mir mal wieder etwas in die Quere kam. Ich habe lange überlegt, ob ich das überhaupt noch schreibe, denn so langsam wird es auch mir schon langweilig. Aber ein Tagebuch ist ein Tagebuch ist ein Tagebuch ist ein Tagebuch und wer sich nicht schocken lassen will, liest halt was anderes.

Ich befuhr mit etwa 30 km/h eine Straße in einem Wohngebiet, fuhr auf eine T-förmige Einmündung zu. Das heißt: Von rechts mündete eine Straße ein, ich wollte geradeaus weiter. Links war ein Garagenhof, der bewegte
sich nicht. Von vorne kam mir ein weißer Lieferwagen, ein Sprinter, entgegen, der aus seiner Sicht nach links abbiegen wollte. Somit würde er meinen Weg kreuzen und müsste mich zuerst fahren lassen. Dachte ich mir so und bremste nicht. Er hatte eine ziemliche Geschwindigkeit drauf und dass er links abbiegen wollte, merkte ich erst, als ich bereits mitten in dieser sehr weit gefassten Einmündung war. Und dass diese Einmündung sehr weit gefasst war, ließ mir noch einen anderen Gedanken in den Kopf schießen: Abknickende Vorfahrt.

Das sah doch jetzt, mitten auf dieser Einmündung, sehr nach einer abknickenden Vorfahrtstraße aus. Die Straße ist hier sehr viel breiter als es eben noch der Fall war. Hatte ich das Verkehrszeichen übersehen, das mich zum Vorfahrt gewähren oder sogar Halten aufgefordert hatte? Es war nur ein Gedankenblitz, aber der sagte mir: Socke, du bist nicht bei der Sache. Du denkst an deinen Praktikumsplatz. Ich sah den Lieferwagen auf mich zukommen und bremste reflexartig. Keine Chance. Ein lauter Knall, keine Idee, wohin ich gerade geschoben und gedreht werde – und ob ich überhaupt wach bin oder das alles nur ein Traum ist.

Nein, es ist wohl doch kein Traum. Front-, Seiten und Sitzairbags sind ziemlich heiß, wenn sie einen begrüßen, irgendwas qualmt, im Auto fliegt Staub, als hätte irgendwer eine Tüte Mehl platzen lassen und der Motor ist aus. Ein Blick aus dem rechten Seitenfenster lässt mich erkennen, dass ich einen halben Meter neben einem geparkten Fahrzeug zum Stehen gekommen bin. Links sehe ich nichts. Eingeklemmt bin ich nicht, alle Körperteile sind noch dort wo sie hingehören, den Kopf habe ich mir anscheinend nicht gestoßen und ich sehe auch kein Blut. Schöne Scheiße.

Den beiden Leuten aus dem Sprinter war hoffentlich auch nichts passiert. Aber die saßen ja wesentlich höher und hatten auch noch mehr Knautschzone. Da fährt man nun fast sechs Jahre unfallfrei und sammelt Prozente – um die dann wegen einer kleinen Unachtsamkeit auf einen Schlag zu verlieren. „Das hast du ja super hingekriegt, Stinkesocke“, dachte ich mir so. Aber genau aus diesen Gründen gibt es eine Versicherung und absichtlich habe ich das ja nun nicht gemacht. Ich ärgerte mich, dass ich das Verkehrszeichen einfach übersehen haben musste und dachte mir leise: Wer weiß, was du vorher schon alles übersehen hast, bevor dich jemand unsanft gestoppt hat. Dabei habe ich mich immer so sicher gefühlt. Und immer anderen den Rat gegeben, sich bloß nicht ablenken zu lassen beim Fahren. Aber wenigstens hat sich damit das Problem mit den knarzenden Geräuschen im Auto erledigt…

Jemand öffnete die Beifahrertür. „Alles in Ordnung bei Ihnen?“, fragte er mich. Ich dachte mir so: „Alles nicht. Die Situation ist etwas peinlich.“ – Ich antwortete: „Ja, danke, mir scheint nichts passiert zu sein. Ich komme nur nicht aus dem Fahrzeug.“ – „Mein Sohn kommt schon angelaufen, sollen wir Sie eben rausziehen? Ist das ein Rollstuhl hier auf dem Beifahrersitz?“ – „Ja, genau.“

Der Sohn arbeitet bei der Freiwilligen Feuerwehr, wie sich später herausstellte. Er ging gleich sehr beherzt an die Sache Socke, schickte Papa zur Seite, hob den Rollstuhl vom Sitz, brachte den Beifahrersitz in Liegeposition, schob meinen Sitz so weit es ging nach hinten, fasste mir unter den Armen hindurch und zog mich über die Mittelkonsole auf den Beifahrersitz, anschließend nach draußen. „Nimm du mal die Beine“, sagte er zu seinem Vater. Die beiden setzten mich auf einen Parkplatz, ich lehnte mich an ein geparktes Auto. Eine Frau brachte mir eine Jacke und eine Wolldecke. Irgendwie war ich ein wenig benommen, aber mir war weder übel noch spielte mein Kreislauf verrückt. Ich war überhaupt nicht aufgeregt, aber völlig durcheinander. Weinen musste ich nicht. Ich dachte mir nur so: „Lass die mal machen. Fünf Minuten lang musst du jetzt mal nicht alles im Griff haben.“

Ein Mann kam zu mir, kniete sich aber nicht hin, sondern redete von oben auf mich ein. In gebrochenem Deutsch fluchte er irgendwas. Ich guckte nach oben, verstand nicht, was er von mir wollte, und guckte wieder auf die Straße ins Leere. Einen Moment lang laberte er noch weiter, dann wurde er von einer Frau weggeschickt. Die Frau fragte, ob es mir gut ging. „Naja, blöde Situation. Aber ich fühle mich gut. Mir tut auch nichts weh.“ – „Ich bleib jetzt mal bei Ihnen sitzen, der Mann redet mir ein wenig zu viel auf Sie ein. Es kommt auch gleich ein Arzt für Sie, der checkt Sie mal durch.“ – Jaja. Macht mal.

Es dauerte eine ganze Zeit, dann kam die Polizei. Eine Frau in Uniform bekam gleich brühwarm erzählt: „Sie gehört zu dem Fahrzeug hier. Wir haben sie aus dem Auto geholt und hier erstmal hingesetzt.“ – Sie hockte sich zu mir und fragte: „Ihnen geht es aber sonst soweit gut? Oder kann ich gerade was für Sie tun? Ein Arzt ist schon  unterwegs hierher, der müsste jeden Moment eintreffen.“ – „Mir geht es gut.“

Der Fahrer aus dem Sprinter laberte wieder. Die Polizistin unterbrach ihn: „Von Ihnen hätte ich jetzt gerne erstmal einen Ausweis. Pass oder ähnliches. Sie sind gefahren?“ – „Ja.“ – „Ihnen geht es aber soweit auch gut? Dann gehen wir mal ein Stück weiter und dann erzählen Sie mir mal bitte, wie das passiert ist.“

Plötzlich kam Hektik auf. Die beiden Uniformierten liefen die Straße entlang und brachten auf dem Rückweg einen weiteren Mann mit zurück. „Wer von Ihnen ist jetzt gefahren? Und warum erzählen mir die Zeugen was anderes und weisen uns auf einen Mann hin, der sich hinter parkenden Autos versteckt hat und vor uns wegläuft? Das ist doch alles sehr verdächtig, finden Sie nicht?“

Was ging denn hier schon wieder ab?! Ich bekam das alles nur halb mit. Ich war damit beschäftigt, mich nicht aufzuregen. Unterbewusst. Zwei Leute hoben mich auf eine Trage, rollten mich in einen hell erleuchteten Rettungswagen. Eine Frau stellte sich als Ärztin vor, wollte mir was für meinen Kreislauf geben. Die Polizistin klopfte an die Seitentür: „Könnt ihr bitte, bevor ihr Medikamente spritzt, einmal Blut zapfen?“

Ich wurde angestochen, wurde gefragt, ob ich Schmerzen hätte. „Spüren Sie alles? Können Sie bitte einmal mit den Füßen wackeln?“ – „Ich bin querschnittgelähmt.“ – „Nein, keine Panik.“ – „Doch“, antwortete ich. – „Wie kommen Sie darauf? Spüren Sie Ihre Beine?“ – „Ich bin querschnittgelähmt, seit ich 15 bin.“ – „Ach, jetzt habe ich das verstanden. Dann nehmen wir Sie aber auf jeden Fall mit in die Klinik und checken Sie einmal durch, okay?“

Lange nicht mit dem Rettungswagen gefahren. Andere machen das ein Leben lang nicht, bei mir ist es schon das … zum Zählen reicht es nicht mehr. Die Ärztin schrieb während der Fahrt, nach gefühlten fünf Minuten waren wir da. Ich wurde in einen Schockraum geschoben. Ein Sanitäter schob meinen Rollstuhl hinterher. Nach einer ersten Übergabe wurde ich in eine Röhre geschoben, wurde acht Mal gefragt, ob ich mit dem Kopf irgendwo angestoßen sei, dann hieß es, ich solle noch zwei Stunden warten, bis mein Kreislauf sich wieder normalisiert hätte, dann könnte ich nach Hause.

Wo mein Handy ist, wusste ich nicht. Meine persönlichen Sachen, insbesondere Papiere, Portmonee und Schlüssel, waren weg. Ich lag in einem Aufwachraum, war an ein nerviges Pulsoximeter angeschlossen und begann, mich zu langweilen. Neben mir lag eine Frau und schnarchte laut. Plötzlich kamen die Polizistin und der Polizist rein, hatten mein Portmonee, Schlüssel und Handy dabei und fragten mich, wie es mir ginge.
„Ich kann wohl in der nächsten Stunde nach Hause.“ – „Okay. Können Sie sich an den Unfall erinnern?“ – „Ich möchte zur Sache heute nicht aussagen. Ich fühle mich nicht ausreichend fit und möchte mich auch erst mit meinem Anwalt besprechen.“ – „Das ist Ihr gutes Recht. Stellen Sie denn Strafantrag?“ – „Auch das erklärt mein Anwalt für mich. Ich möchte zur Sache nicht aussagen.“ – „Ein Strafantrag ist nicht unbedingt eine Aussage zur Sache. Ich würde Ihnen auch dringend raten, einen Anwalt zu nehmen. Für uns wäre es wichtig, zu wissen, ob Sie sich an den Fahrer erinnern können. Wir haben vor Ort zwei Personen angetroffen und deren Einlassungen decken sich nicht mit den Aussagen der Zeugen. Wissen Sie noch, wie der Fahrer ausgesehen hat? Können Sie den beschreiben?“

„Auch das wäre doch eine Aussage zur Sache“, erwiderte ich, inzwischen deutlich genervt. Die Polizistin  antwortete: „Es wäre wichtig, diese Aussage von Ihnen so schnell wie möglich zu bekommen. Vielleicht können Sie gleich einmal mit Ihrem Anwalt telefonieren. Einer der beiden Rumänen hat nämlich keine Fahrerlaubnis und möglicherweise liegt hier eine Straftat vor. Wir ermitteln also sowieso.“

Habe ich mit meiner peinlichen Aktion etwa dazu beigetragen, einen Ganoven buchstäblich aus dem Verkehr zu ziehen? Dann hätte dieser unsanfte Stopp ja wenigstens noch etwas Gutes. Aber gerade dann sollte ich nicht ohne Anwalt aussagen. „Wir haben Ihre Geldbörse durchsucht und die Daten Ihres Führerscheins und der Zulassungsbescheinigung aufgenommen. Bitte schauen Sie einmal, ob ansonsten noch alles drin ist.“ – Ansonsten heißt, dass sie den Führerschein sichergestellt haben? Oder gleich eingezogen? Ich guckte in mein Portmonee. Nein, der war noch da. Geld war auch noch drin. „Scheint alles vollzählig zu sein.“ – „Ihr Fahrzeug steht bei …, von denen haben wir eine Karte hier. Da müssten Sie sich baldmöglichst drum kümmern, das kostet sonst unnötig Standgebühren.“ – „Nicht sichergestellt?“, dachte ich mir leise und hielt die Klappe.

„Also, kontaktieren Sie bitte schnellstmöglich Ihren Anwalt, damit wir zur Frage des Fahrers vielleicht heute noch eine Aussage bekommen.“ – „Ja“, versprach ich. Und fragte: „Wie geht es denn jetzt für mich weiter?“ – „Sie werden jetzt erstmal gesund, reden mit Ihrem Anwalt und dann sollten Sie sehen, dass Sie den Schaden schnellstmöglich der gegnerischen Versicherung melden. Das andere Auto ist zum Glück in Deutschland versichert, also wird es da wohl keine Schwierigkeiten geben. Die Sachlage ist aufgrund der Zeugenaussagen und der Spuren am Unfallort eindeutig. Die Frage, wer gefahren ist, ist nur für die strafrechtlichen Ermittlungen relevant, weil hier möglicherweise ein Fahren ohne Fahrerlaubnis und eine Unfallflucht in Betracht kommen. Das wird Ihr Anwalt Ihnen aber genauer erklären.“

Ich verstand nur Bahnhof. Wieso gegnerische Versicherung? Hatte der Sprinter mich so weit rumgeschoben, dass die nicht mehr wussten, von wo ich kam? War das möglich? Aber würde ich dann so fies sein und das nicht
richtig stellen? Nein. Aber wenn ich zur Sache was sage, dann wirklich nur über einen Anwalt. Eisernes Gesetz, hat mir Frank eingetrichtert. Gerade, wenn man sich möglicherweise etwas zu Schulden kommen lassen hat.

Ich rief Marie an. „Und? Hast du den Platz bekommen?“, fragte sie. Achja, da war ja was. Ich antwortete: „Keine Ahnung, nein. Ich bin da nicht angekommen.“ – Sie wollte mich abholen. Wir fuhren mit dem Taxi nach Hause und als allererstes bat ich den Fahrer, an der Unfallstelle vorbei zu fahren. Als wir auf die Einmündung zukamen, sah man aus der Entfernung schon die Reste des Bindemittels auf der Fahrbahn. Ich guckte auf die Beschilderung und da traf es mich wie ein Schlag: Keine abknickende Vorfahrt. Keine abknickende Vorfahrt! Keine abknickende Vorfahrt!!!

Das bedeutet: Rechts vor links. Ich bat den Taxifahrer, anzuhalten. Ich fragte: „Sagt mal, wer hat hier Vorfahrt, wenn von vorne einer kommt, der geradeaus weiterfahren will?“ – „Das ist eine ganz beknackte Ecke hier“, sagte der Taxifahrer. „Hier war früher mal eine abknickende Vorfahrtstraße. Aber seit hier Tempo 30 ist, gilt hier Rechts vor Links. Viele heizen hier einfach durch und so wie das hier aussieht, hat das auch kürzlich hier wieder gescheppert. Da liegen noch Scherben an der Seite und hier das Bindemittel. Jahrelang standen hier auch Schilder ‚Vorfahrt geändert‘, aber die sind seit einiger Zeit weg. Offenbar haben das noch immer nicht alle begriffen.“

Marie guckte mich an. Ich schüttelte den Kopf. Dann hatte ich es also doch nicht verkackt. Zumindest nicht so ganz. Mir fiel ein Stein vom Herzen und ich musste augenblicklich lachen. Der Taxifahrer muss gedacht
haben, ich hätte einen an der Waffel. Habe ich ja irgendwie auch. Glaube ich.

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