Keine Sonderrechte

Kaum rolle ich durch einen Supermarkt, ist ein neuer Beitrag fällig. Ich soll Maries Mutter eine kleine Flasche Rum für einen Kuchen herausholen. Während sie mit Marie nebenan durch einen Bioladen turnt, flitze ich durch einen Discounter, stehe inzwischen in der schier endlosen Schlange vor der Kasse. In der anderen Reihe steht in viel zu kurzen Jogginghosen eine Frau mit unvorteilhafter Frisur, knetet in ihren Händen eine Tüte Gummibären.

Um den Hals trägt sie ein Schlüsselband einer nahe gelegenen Einrichtung für geistig behinderte Menschen. Sie wippt auf und ab, fängt
an, die Wartezeit zu überbrücken, indem sie sich selbst ein Liedchen vorsingt. Der englische Text ist nicht zu verstehen, aber die Melodie kommt mir bekannt vor. Dann endlich kommt ein junger Mann, der eine zweite Kasse öffnen will. In atemberaubender Lautstärke freut sich diese
Frau, diesen Mitarbeiter zu sehen: „Guten Tag, machst du eine zweite Kasse auf?“, brüllt sie quer durch den Laden. Und mit „Brüllen“ ist wirklich „Brüllen“ gemeint. Würde man das Piepen der Scanner vielleicht mit einer Lautstärke von 2 bewerten und das Kreischen jener Alarmanlage,
die losgeht, wenn jemand unerlaubt den Notausgang öffnet, mit 10, dann brüllt Madam mit etwa Neundreiviertel. Umstehende Leute gehen erschrocken ein bis zwei Schritte zur Seite, fast alle drehen sich um und starren sie an. Die Frau wird nicht etwa rot, sie interessiert die Aufmerksamkeit scheinbar gar nicht, sondern sie singt einfach ihr Liedchen weiter. Schaut tief durch die Folie ihrer Gummibärchen-Tüte und
sagt laut: „Na Klausi, pass auf, du bist gleich weg.“ – Ihre Selbstsicherheit möchte ich haben.

Endlich bin ich am Transportband angekommen, lege meine Rumflasche auf selbiges und warte. Hinter mir knutschen zwei Frauen, geschätzt um die 40 Jahre alt. Eine nimmt einen Lolly aus dem Regal, drückt auf einen
Knopf und bringt selbigen damit zum Leuchten. Sie hält mir das Ding vor
das Gesicht und grinst verschmitzt. „Na, Interesse?“ – „Meinst du, ich finde meinen Mund besser, wenn mein Essen im Dunkeln leuchtet?“

Ihre Freundin sagt: „Die Lampe dadrin wird benötigt, falls auf Toilette mal kein Licht ist.“ – Die andere der beiden Frauen antwortet, während sie das Ding wieder ins Regal packt: „Auja, lass uns was zu Naschen mit zum Kacken nehmen, dann ist es nicht so langweilig.“ – Das wiederum hört die bis eben noch singende Frau an der Nachbarkasse und klärt lautstark auf: „Auf Klo wird nicht gegessen, das ist voll igelhaft.“ – Ein junger Mann steht vor mir und versucht krampfhaft, sein
Lachen zu unterdrücken. Ob ich ihm einfach mal den Lolly anbieten sollte?

Endlich bin ich dran. „Ihren Ausweis bitte“, verlangt die Kassiererin. Mir fällt alles aus dem Gesicht. Das ist jetzt nicht ihr Ernst. „Habe ich gerade nicht dabei. Ich bin aber schon 22.“ – Sie räumt
demonstrativ meine Rumflasche neben ihren Drucker und sagt: „Und tschüss.“ – Bevor ich was erwidern kann, scannt die Frau die Artikel der
beiden Frauen hinter mir. Wirklich zu freundlich.

„Moment mal bitte, hier ist mein Autoschlüssel“, sage ich und halte ihr mein Schlüsselbund hin. Sie erwidert: „Begleitetes Fahren gibt es schon mit 17, trotzdem darfst du mit 17 noch keinen Alkohol kaufen. Auf Wiedersehen!“

Ich fühle mich ja geschmeichelt, dass mich jemand fast sechs Jahre jünger schätzt, und klar, die Kassiererin trägt die Verantwortung, aber warum muss das ausgerechnet dann sein, wenn ich mein Portmonee nicht dabei habe? Wie 17 sehe ich nun wirklich nicht mehr aus. Es hilft nichts. Ich rolle zurück zum Parkplatz, treffe Maries Mutter und bitte sie, mich zu begleiten. Sie verdreht die Augen, geht mit mir zur Kasse, wo die Rumflasche noch immer steht. Als der nächste Kunde fertig ist, spreche ich die Kassiererin an: „Entschuldigung, könnte ich jetzt vielleicht kurz meine Flasche haben?“ – „Stellen Sie sich bitte hinten an, ja?“ – „Echt mal“, ergänzt die Kundin, die gerade dran ist. Wirft Maries Mutter einen bitterbösen Blick zu und sagt: „Nur weil sie im Rollstuhl sitzt, hat sie keine Sonderrechte. Und jetzt gehen Sie zur Seite und halten Sie den Betrieb nicht auf.“

Ich gucke Maries Mutter an. Maries Mutter guckt mich an. Schüttelt mit dem Kopf und geht raus. Ich rolle schweigend hinterher.

Schlagwörter:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert