Ein Fernglas und ein Milan

Das Wetter ist schön und so sind wir am Wochenende … genau, an der Ostsee. Marie, ihre Mama, ihr Papa und ich wühlen im Garten. Immerhin ist es trocken, so dass ich mich nur wie ein kleines Schlamm-Monster fühle. Während die Frauen sich um Blumen und Beete kümmern (wo kommt so schnell so viel Unkraut her?), baut Maries Papa mit ein paar Freunden eine Holzterrasse. Es hat sich noch niemand in den Finger gesägt und es nimmt schon tolle Formen an. Wenn ich darüber nachdenke, dass vor drei Monaten im Bad nur ein paar Rohre aus der Wand guckten und der Fußboden aus Sand bestand, inzwischen sogar Bilder an den Wänden hängen und Blumen auf dem Tisch stehen, muss ich erkennen, dass sich viel verändert
hat. Ich kenne das größte Chaos zwar nur von Fotos – dafür sieht es inzwischen aber richtig schön aus. Die Bild-Zeitung aus 2010, die noch auf dem Küchentisch lag, hängt inzwischen eingerahmt im Gästeklo an der Wand.

Aus der Luft wurde unser buntes Treiben im Garten ebenfalls beobachtet. Vermutlich eher beiläufig während der Nahrungssuche. Wir hätten es gar nicht mitbekommen, wenn nicht plötzlich zwei Männer auf dem Fahrrad, die den Sandweg, der an dem Haus vorbeiführt, als Abkürzung
zwischen Kreisstraße und Waldweg genutzt hatten, eine Staubwolke hinter
sich herziehend auf das Grundstück preschten, in den Garten liefen und riefen: „Haben Sie ein Fernglas? Haben Sie ein Fernglas?“

„Nein, wozu brauchen Sie das?“, fragte Maries Vater. Einer der beiden, beide waren geschätzt um die 70 Jahre alt, antwortete: „Da oben,
da oben!“, und deutete in den Himmel. Maries Papa guckte nach oben und stellte nüchtern fest: „Da fliegt ein Vogel.“ – Der Mann antwortete: „Ja, aber ein ganz besonderer! Ich wüsste zu gerne, was für einer das ist, aber dafür brauche ich ein Fernglas!“ – „Wir haben hier leider keins“, sagte Maries Papa erneut.

„Ich tippe auf einen Schwarzmilan“, sagte einer der Freunde von Maries Papa. Nun kam der Brüller: Der Mann, der unbedingt ein Fernglas haben wollte, um den Vogel zu bestimmen (!), antwortete: „Ah, Sie kennen
sich aus? Ein Schwanz-Milan (!) also? Ich habe von Vögeln nicht so viel
Ahnung, wissen Sie? Aber faszinieren tun sie mich immer wieder. Ich hätte gedacht, das ist vielleicht ein Habicht. Aber ein Schwanz-Milan, das könnte auch angehen!“

Vom Vögeln hat unser Hobby-Onaniethologe also keine Ahnung und versteht nur Schwanz. Ich musste mir auf die Lippe beißen, um nicht laut
loszuprusten. Ich sah im Augenwinkel, wie Marie mich entsetzt anguckte.
Bloß jetzt nicht hingucken. „Vielleicht ist es auch ein Kuckuck“, alberte Maries Vater, ohne jedoch dabei eine Miene zu verziehen. Der Mann antwortete: „Nein, ein Kuckuck ist das nicht, die sind viel kleiner.“ – „Ich habe gehört, dass die manchmal auch die fremden Eier aus dem Nest werfen und dann die Gestalt anderer Vögel annehmen“, fuhr Maries Papa bierernst fort und starrte dabei in den Himmel. Ich bewundere ihn immer wieder dafür, dass ihm solcher Schabernack so schnell einfällt und er dabei so ernst bleiben kann. Der alte Mann guckte ihn an, starrte dann auch wieder in den Himmel und sagte: „Stimmt. Jetzt, wo Sie das sagen, erinnere ich mich. Die Schule ist bei mir schon etwas länger her, wissen Sie?“

„Macht ja nichts“, antwortete Maries Papa. Nahm seine Hände aus den Hüften und sagte: „Also, Fernglas haben wir keins, aber zwei Flaschen Bier kann ich Euch mitgeben. Eisgekühlt. Und ohne künstliches Aroma! Und
dann würde ich gerne in meiner Argrarscheibe weiterwühlen, wir haben uns nämlich einen straffen Zeitplan gesetzt. Ich hoffe, Sie verstehen das“, sagte er, holte ihnen zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank und schob die Leute zu ihren Fahrrädern zurück. Als sie weg waren, murmelte er trocken: „Wird Zeit, dass hier ein Zaun hinkommt.“ – Maries Mutter lachte und sagte: „Jede Wette, die bringen auf dem Rückweg das Leergut zurück.“

Maries Mutter sollte Recht behalten. Kurz vor Sonnenuntergang kamen sie zurück und gaben ihre Flaschen ab. Das nenne ich mal Menschenkenntnis. Immerhin haben die beiden Schwanz-Milan-Helden auf diesem Weg noch zwei Grillwürste im Brötchen auf die Hand bekommen, die sie dankbar annahmen. Und mir ist es gelungen, das Flattervieh zu fotografieren. Okay, eine Handyaufnahme aus gefühlten drei Kilometern Entfernung. Aber für professionelle Ornithologen sollte das doch ein Klacks sein! Oder?

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