Mit dem Krankenhaus, in dem ich aktuell ein Teil meines Pflichtpraktikums (Famulatur) ableiste, habe ich endlich mal eine Einrichtung erwischt, in der es kollegial und menschlich zugeht, und das
auch beim Personal. Der Umgangston ist höflich, es wird sich gegenseitig respektiert, es gibt keine blöden Kommentare und kein gegenseitiges Veralbern, kein schlechtes Reden über Dritte – ich fühle mich gerade sehr wohl. Meine viermonatige Famulatur, die ich in vier Teilen zu jeweils einem Monat ableiste, hatte mich ja in den letzten Semesterferien in eine Kinderarztpraxis geführt, nun, nach einem kleinen
Umweg, in die Gastroenterologie eines großen Krankenhauses. Mit Magen-Darm-Erkrankungen konnte ich ja bereits im letzten Halbjahr einige
gute Erfahrungen sammeln, denn der reguläre Praktikumstag, der einmal wöchentlich das theoretische Lernen begleitet und nichts mit der Famulatur zu tun hat, fand eben auch in einer gastroenterologischen Station statt.
Gestern nun bat mich der Chefarzt zum Gespräch in sein Zimmer. Er war
sehr freundlich, fragte mich aber, wo ich meine praktische Erfahrung gesammelt hätte. „Sowas war noch nie da“, meinte er. Ich runzelte die Stirn und bekam erklärt, dass Studenten üblicherweise allenfalls etwa zehn bis zwanzig Prozent, ganz engagierte vielleicht mal fünfzig Prozent
der praktischen Dinge übernehmen, die ich täglich in seiner Ambulanz erledigt hätte. „Ihnen fehlt die Erfahrung, das merkt man deutlich. Das ist aber in Ordnung, woher sollten Sie Ihre Erfahrung nehmen? Aber handwerklich sind Sie Ihrem Ausbildungsstand um Jahre voraus.“
Ich wollte diese Einschätzung nun nicht auf Anhieb teilen. Marie ist,
was „handwerkliches Geschick“ anbelangt, deutlich fitter als ich. Und wenn ich meine Kommilitonen sehe, denen man beim praktischen Tag ja durchaus mal über den Weg läuft, stelle ich mich manchmal erheblich blöder an. Finde ich zumindest. Trotzdem höre ich sowas natürlich sehr gerne. Andererseits denke ich, habe ich gerade durch die Arbeit bei Maries Mutter sehr viel Vorsprung bekommen. Und hinzu kommt, dass meine körperliche Beeinträchtigung unter Garantie meinem handwerklichen Geschick schon bald enge Grenzen setzen wird. Ich antwortete schlicht: „Vielen Dank.“
Der Chef fuhr fort: „Aus meiner Sicht wäre es falsch, ein Kapitel in der Famulatur zu sehr zu vertiefen, andere Chancen aber ungenutzt zu lassen. Sie haben im letzten halben Jahr in der Gastroenterologie offenbar sehr viele praktische Erfahrungen sammeln dürfen, die weit über
das übliche Maß hinaus gehen. Jetzt auch noch einen weiteren Monat Famulatur in dem Bereich abzuleisten, schafft Ihnen gegenüber anderen Studierenden einen Vorteil, den man sicherlich als ‚charmant‘ bezeichnen
kann, der Sie aber im Moment nicht weiter bringt. Deshalb möchte ich Ihnen vorschlagen, dass Sie auf die Kinder-Diabetesstation wechseln. Üblicherweise haben wir dort keine Famulanten, aus vielfachen Gründen, aber meine sehr nette Kollegin, die dortige Chefärztin, wäre bereit, für
Sie auf meine Bitte eine Ausnahme zu machen. Ich habe eben mit ihr telefoniert. Wenn Sie möchten, dürfen Sie sofort dorthin wechseln. Nur, damit wir uns nicht falsch verstehen, Sie dürfen auch gerne bei uns bleiben – meine Leute und ich werden Ihnen mit Sicherheit auch noch genug vermitteln können, ohne dass Ihnen langweilig wird. Aber wenn ich Ihnen einen -fast schon freundschaftlichen- Rat geben darf: Nutzen Sie diese Chance.“
Uff. Was ist das nun wieder? Wirklich freundlich und unterstützend? Wenn ja, warum tut er das für mich? Oder werde ich gerade weggelobt, habe ich schon wieder irgendwas verbockt, hat sich jemand in mich verliebt oder stand mein Rollstuhl im Weg? Nein, eigentlich vertraue ich
ihm. Ich wollte gerade Luft holen, da sagte er: „Stop! Ich mache Ihnen noch ein Angebot: Sie schnuppern da jetzt bis morgen abend rein, und wenn die da nicht nett zu Ihnen sind oder das Thema sich wider Erwarten als nur öde herausstellt, kommen Sie zu mir zurück. Einverstanden?“ – Er
streckte mir seine Hand aus. Schlagen Sie ein!
Ich zögerte eine Sekunde, dann schlug ich ein. „Und wenn Sie morgen oder übermorgen hier nicht vor meiner Tür stehen, weil Sie zurück wollen, dann melden Sie sich nächste Woche mal bei mir und sagen mir Bescheid, ob der Switch gut, gut oder gut war. Okay?“ – „Okay.“ – „Alles
Gute für Sie!“
Zack war ich draußen, die Tür hinter mir zu. Einmal Luft holen. In meinem Kopf kreisten alle möglichen Gedanken. Wieso telefoniert er mit seiner Kollegin, bevor er meine Meinung dazu kennt? Gerade, wenn ich so freiwillig und er so besorgt handelt? Ich schob diese Gedanken beiseite.
Rollte zur Diabetesstation, dort zum Vorzimmer, klopfte, hörte nichts, klopfte noch einmal, war mir nicht sicher, ob es im Flur zu laut war oder wirklich niemand geantwortet hatte. Ich drückte vorsichtig die Klinke hinunter und schaute mit dem Kopf um die Ecke. Die Sekretärin saß
hinter einem Schreibtisch, guckte mich an und winkte mich zu sich heran. Zum Zimmer der Chefin stand die Tür weit offen, dort drinnen wurde aufgeregt diskutiert. Nicht laut, aber mit deutlichen Worten.
Eine blonde Frau im weißen Kittel, Mitte 50, unauffällige Figur, wippte mit ihrem Bürostuhl im Nebenraum hin und her. Sah mich, zeigte mit dem Finger zuerst auf mich und anschließend senkrecht nach unten vor
ihren Tisch. Sollte ich jetzt dort rein rollern, während sie irgendeinem Menschen am Telefon die Meinung geigte? Ich rollte vorsichtig in ihre Richtung. Als ich drin war, machte sie eine Handbewegung als würde sie eine Tür zuschieben, eine Türklinke herunterdrücken und legte anschließend den Zeigefinger auf ihre gespitzten Lippen, während sie ihrem Gegenüber ungeduldig zuhörte. Ich verstand: Ich sollte leise die Tür schließen. Immerhin traut sie mir das
zu, sowas ist eher selten. In den meisten Fällen wird mir das Manöver ungefragt abgenommen – selbst dann, wenn man dabei noch über mich rüberklettern muss. „Ich hoffe, dass wir diese Diskussion heute ein letztes Mal geführt haben. Die Fakten ändern sich nämlich nicht. Ansonsten sind Sie der Erste, der es erfährt. Ja? Gut? Und dann sitzt mein nächster Termin vor mir. Ich muss Schluss machen. Ja, Ihnen auch.“
Sie warf den Hörer auf die Gabel und murmelte: „Der tut jedes Mal so,
als sollte er das von seinem Taschengeld bezahlen.“ – Sie gab mir die Hand. Ich stellte mich vor. „Die Musterschülerin?“, fragte sie. – „Genau
die.“ – „Sie sind sehr selbstsicher, oder?“ – Ich grinste. „Nein, das war ein Spaß. Ich schätze mich selbst etwas anders ein. Aber ich bin nicht die Fachfrau, die das beurteilen kann, sondern ich lerne.“ – „Wissenschaftliches Arbeiten?“ – „Auch das. Im Moment leiste ich meine Famulatur ab. Zweites Viertel.“ – „Worüber werden Sie promovieren?“ – „Eine Diss ist bislang nicht geplant.“ – „Das ist gut. Ich habe nämlich Ihre letzte Hausarbeit gelesen. Und ich glaube, ich hätte ein Thema für Sie.“ – „Nanu? Da bin ich jetzt mal überrascht.“
„Ja, ich gebe zu, der Weg ist nicht der allgemein übliche. Sie haben ein Manko. Querschnittlähmung?“, fragte sie und deutete auf meine Beine.
Ich nickte mal vorsichtig. „Ein ‚Doktor‘ vor dem Namen würde diejenigen, die glauben, die Querschnittlähmung drücke aufs Hirn, mit Sicherheit beeindrucken.“ – „Ich bin mir nicht sicher, ob ich für das Klientel forschen möchte.“ – „Falsche Antwort, Frau Jule. Die Patienten,
die Ihnen erst aus der Hand fressen, wenn ein akademischer Grad auf Ihrem Türschild steht, zahlen Ihnen später den Sommerurlaub in der Karibik. Und sagen Sie jetzt nicht, dann verzichten Sie lieber auf die Karibik, weil es an der Nordsee im August auch schön ist.“ – „So ähnlich, nur dass ich die Ostsee präferiere. Aber jetzt mal ohne Flachs:
In welcher konspirativen Mission bin ich denn gerade gelandet? Ein Chefarzt lobt mich bis mir schwindelig wird und schickt mich zu seiner Kollegin, …“
„Sprechen Sie gar nicht erst weiter! Ich habe etliche Themen eingereicht, in einigen Fällen sogar Gelder bewilligt bekommen, aber plötzlich keine Doktoranden mehr. Der Nachwuchs von heute passt eben in Sachen Verbindlichkeit augenscheinlich nicht mehr ganz in das Konzept der Forschungsträger. Und Kinder-Endokrinologie ist zudem wohl gerade nicht so gefragt. Nun hatte ich ein Gespräch mit dem – um Ihre Worte zu benutzen – konspirativen Kollegen beim Mittagessen, der mir von einer Famulantin erzählt hat, naja, den Rest kennen Sie ja.“ – Sie fuhr fort, dass sie ein Thema für mich hätte, das ich detailliert nicht öffentlich beschreiben kann, aus verständlichen Gründen; bei dem es aber, grob gesagt, um Regulationsstörungen, wie sie beispielsweise bei einer Querschnittlähmung vorkommen, ginge. Bei einer Querschnittlähmung kann es ja zum Beispiel zu Kreislaufproblemen kommen, weil aus dem halben Körper die Nerven kein Feedback ans Gehirn senden. Oder vielmehr es dort
nie ankommt. Nun werden die meisten Hormonspiegel ja nicht über diese Kanäle geregelt, um es mal laienhaft auszudrücken, aber die (traumatische) Unterbrechung bestimmter „Informationskanäle“ kann man sich zunutze machen, um eine bestimmte Theorie bestätigen oder zu entkräften, die im Zusammenhang mit diabetischen Spätschäden (Nervenschäden, meistens an den Zehen beginnend) im Raum steht.
Spannend fände ich eine solche Theorie auf jeden Fall. Und beweisen oder vermutlich eher entkräften würde ich sie auch gerne. Reizvoll wäre eine solche Arbeit und das spätere Ergebnis ebenfalls. Ob ich aber mir wirklich diesen zusätzlichen Stress antun möchte, darüber bin ich mir nicht wirklich sicher. Ich rolle so schon auf dem Zahnfleisch und nicht nur das zeitliche, sondern auch das organisatorische Geraffel schrecken mich eher ab. Andererseits würde ich wohl wie kaum eine andere von meiner eigenen Zugehörigkeit zum rollenden Volk und damit von einer ganz
anderen Kommunikationsebene profitieren können. Die Chefärztin ist davon überzeugt, dass es ein Klacks sei, bereits angestoßene Themen nach
Rückzug des bisherigen Bewerbers mit mir neu durchzukriegen. Zumal eben
mit den Arbeiten nicht begonnen wurde.
Ich habe ihr gesagt, dass ich es mir überlegen werde. Und begann direkt danach auf einer Station, in der Kinder und Jugendliche mit Zuckerkrankheit behandelt werden. Überwiegend geht es um die erste Einstellung der Insulinzufuhr von außen, nachdem man erkannt hat, dass der jeweilige Körper selbst nicht ausreichende Mengen dieses Hormons produziert. Bei einigen wurde es auch nicht rechtzeitig erkannt, die sind dann im schlimmsten Fall irgendwann bewusstlos geworden und, wie in
einem Fall, mitten im Wald vom Hottehüh gepurzelt. Ohne sich dabei jedoch noch ernsthaft zu verletzen. Andere sind kurzzeitig in die Klinik
gekommen, weil etwas mit ihrer Einstellung nicht stimmt, etwas verändert werden, die Schulung aufgefrischt werden soll – oder was auch immer. Ich bin gespannt, was mich hier erwartet.